Der Bundestag hat am Donnerstag, 10. Juni 2021, nach halbstündiger Aussprache den Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts“ (19/24785, 19/24900) in der vom Innenausschuss geänderten Fassung (19/30477) angenommen. In namentlicher Abstimmung votierten 355 Abgeordnete für den Gesetzentwurf, 280 lehnten ihn ab, es gab vier Enthaltungen. In zweiter Beratung hatten die Oppositionsfraktionen gegen den Regierungsentwurf gestimmt.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit der Annahme des Gesetzentwurfs der Bundesregierung reagiert der Bundestag insbesondere auf die aktuellen Ereignisse im Bereich des Rechtsterrorismus und -extremismus. Diese Ereignisse machten es erforderlich, auch Einzelpersonen gezielt in den Blick zu nehmen sowie die Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund mit dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) gerade bei der Aufklärung des Rechtsextremismus zu verbessern, schreibt die Bundesregierung in der Begründung.
Angesichts gewandelter Kommunikationsgewohnheiten erhalten die Nachrichtendienste „ergänzende Aufklärungsbefugnisse durch die Regelung zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung auch von Messenger-Diensten“. Laut Bundesinnenministerium ist die „Quellen-TKÜ“ insbesondere für die Überwachung digitaler und verschlüsselter Kommunikation wichtig, die oft über Messenger-Dienste erfolgt.
Die Quellen-TKÜ setzt danach im Endgerät an, bevor die Nachrichten technisch verschlüsselt werden beziehungsweise wenn sie wieder entschlüsselt sind. Die Regelung zur Quellen-TKÜ erweitere die rechtlichen Möglichkeiten der Telekommunikationsüberwachung nicht, sondern sorge dafür, „dass die Täter sich der Aufklärung technisch nicht mehr durch Wahl des Kommunikationsmittels entziehen können“. Flankierend werden den Angaben zufolge die Voraussetzungen für eine verbesserte und erweiterte Kontrolle von TKÜ durch die sogenannte G10-Kommission geschaffen.
Erweiterte Beobachtung von Einzelpersonen
Zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus ist in dem Gesetzentwurf eine erweiterte Beobachtung von Einzelpersonen vorgesehen.
Die Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes erfordere gerade nach den Anschlägen in Halle am 9. Oktober 2019 und Hanau am 19. Februar 2020 „angesichts eruptiver Radikalisierungsverläufe von Einzelpersonen, Extremisten bereits im Vorfeld militanter Handlungen besser in den Blick nehmen zu können“, heißt es in der Vorlage.
Gesetzentwürfe der AfD
Erstmals befassten sich die Abgeordneten mit zwei Gesetzentwürfen der AfD zur Stärkung der Verfassungsmäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit im Bundesverfassungsschutzgesetz (19/30406) sowie zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz, 19/30412).
Beide Initiativen wurden zur weiteren Beratung an den federführenden Innenausschuss überwiesen.
Oppositionsinitiativen abgelehnt
Abgelehnt wurden auch Anträge der FDP-Fraktion mit den Titel „Freiheit und Sicherheit schützen – Für eine Überwachungsgesamtrechnung statt weiterer Einschränkungen der Bürgerrechte“ (19/23695) und „Bürgerrechte und Sicherheit schützen – Für einen wirksamen Verfassungsschutz“ (19/16875). Den ersten Antrag lehnten die Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der AfD und der Linken bei Zustimmung von FDP und Grünen ab. Den zweiten Antrag lehnten die Koalition und die Linksfraktion bei Enthaltung von AfD und Grünen ab.
Mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt wurde ein Antrag der Fraktion Die Linke „Zivilgesellschaft stärken, Verfassung wirksam schützen“ (19/8960). Für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Neustart des Verfassungsschutzes des Bundes“ (19/8700) stimmten nur die Antragsteller, die Linksfraktion enthielt sich, die übrigen Fraktionen lehnten ihn ab. Zu den beiden FDP-Anträgen hatte der Innenausschuss ebenso Beschlussempfehlungen (19/29350, 19/30477) vorgelegt wie zu den Anträgen der Linken und Grünen (19/30477).
Erster Antrag der FDP
Die FDP drang in ihrem ersten abgelehnten Antrag (19/23695) auf eine „Überwachungsgesamtrechnung statt weiterer Einschränkungen der Bürgerrechte“. Die Fraktion forderte die Bundesregierung auf, „beim Vorschlag neuer Überwachungsbefugnisse Zurückhaltung walten zu lassen“. Ziel müsse es sein, das „Gesamtmaß staatlicher Überwachung, dem die Bürgerinnen und Bürger durch Eingriffsbefugnisse und Zugriffspraxis der Sicherheitsbehörden täglich ausgesetzt sind“, so gering wie möglich zu halten. Das bislang nur abstrakt in der Wissenschaft entwickelte Modell einer „Überwachungsgesamtrechnung“ sollte zu diesem Zweck für die Anwendung innerhalb von Gesetzgebungsverfahren und für eine gesamtgesellschaftliche Debatte „praktisch handhabbar gemacht werden“.
Dazu sollte die Bundesregierung nach dem Willen der Fraktion „eine Methodik für eine Überwachungsgesamtrechnung“ entwickeln, mit der alle bestehenden Datenspeicherungen und Überwachungsbefugnisse zusammengestellt und in ihrer Gesamtheit evaluiert werden. Bis dahin sollte die Bundesregierung laut Vorlage keine neuen Sicherheitsgesetze vorschlagen, „die Überwachungsbefugnisse beinhalten“.
Evaluierungsklauseln für Überwachungsbefugnisse
Ferner plädierte die Fraktion in dem Antrag dafür, in Entwürfe neuer Sicherheitsgesetze Mechanismen wie etwa „Evaluierungsklauseln für Überwachungsbefugnisse“ einzuführen, „die zur Schaffung einer besseren Datengrundlage für eine Überwachungsgesamtrechnung beitragen“. Zudem forderte sie, dass für alle Gesetzgebungsverfahren im Sicherheitsbereich eine Gesetzesfolgenabschätzung vorgenommen wird, „die von den Regelungen zur Datenerhebung und -verarbeitung ausgehende Risiken für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen darlegt und bewertet“.
Darüber hinaus wurde in dem Antrag die Einsetzung einer „Freiheitskommission“ als unabhängiges Gremium nach dem Vorbild der „Wirtschaftsweisen“ oder des Deutschen Ethikrats mit Experten aus Justiz, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gefordert zur „kontinuierlichen Bewertung von freiheitseinschränkenden und Überwachungsmaßnahmen“. Des Weiteren sollte die Bundesregierung laut Vorlage unter anderem Forschungsvorhaben fördern, die „Auswirkungen von Überwachungsmaßnahmen und dem staatlichen Zugriff auf private und staatliche Datenbestände auf Freiheit und Demokratie untersuchen“.
Zweiter Antrag der FDP
Die Bundesregierung sollte nach dem Willen der FDP-Fraktion „im Rahmen ihrer Vorschläge zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts auf eine Ausweitung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der Online-Durchsuchung beim Bundesamt für Verfassungsschutz“ (BfV) ebenso verzichten wie auf eine „Streichung der strengeren Voraussetzungen“ für die Speicherung der Daten von Minderjährigen unter 14 Jahren. In ihrem zweiten abgelehnten Antrag (19/16875) forderte die Fraktion die Bundesregierung zudem auf, auf die Einführung eines Betretungsrechts von Privaträumen zur Anbringung von Überwachungseinrichtungen für das BfV zu verzichten.
Bevor neue Überwachungsmaßnahmen eingeführt werden, müssten die bestehenden Maßnahmen in einer „Überwachungsgesamtschau“ bewertet werden, hieß es in der Vorlage. Eine solche Gesamtschau zeige Lücken bei den Befugnissen der Sicherheitsbehörden auf, stelle aber auch sicher, „dass die Überwachung der Bürgerinnen und Bürger das erträgliche Maß nicht übersteigt“. Ferner schrieben die Abgeordneten, dass es „angesichts der im Rahmen der Mordserie des so genannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) aufgedeckten strukturellen Mängel bei der Arbeit des Verfassungsschutzverbundes sowie der Fehler im Zusammenhang mit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016“ einer Reform des Föderalismus im Bereich der Inneren Sicherheit bedürfe. Zu diesem Zweck müssten Bundestag und Bundesrat eine gemeinsame Kommission zur Reform der föderalen Sicherheitsarchitektur einsetzen.
Antrag der Linken
Die Linke forderte die Bundesregierung in ihrem abgelehnten Antrag (19/8960) auf, eine Koordinierungsstelle einzurichten, die für Zwecke des Verfassungsschutzes lediglich über umstürzlerische Tätigkeiten Unterlagen sammelt, ohne eigene Befugnisse zur Informationsbeschaffung zu besitzen. Sie sollte Erkenntnisse von Behörden des Bundes und der Länder sowie aus dem Ausland entgegennehmen und den Austausch dieser Erkenntnisse zwischen den Ländern koordinieren. Als Stelle unter der Rechtsaufsicht eines Bundesministeriums sollte sie das bisherige Bundesamt für Verfassungsschutz ablösen.
Darüber hinaus wurde die Errichtung einer „Bundesstiftung zur Beobachtung, Erforschung und Aufklärung aller Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Demokratiefeindschaft“ als bundesunmittelbare, rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts verlangt. Ihr Zweck sollte der Schutz der Menschenwürde sowie der Grundrechte und des demokratischen Gemeinwesens durch wissenschaftliche Untersuchung, Information, Dokumentation und Aufklärung über Ursachen und Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Demokratiefeindschaft sein.
Antrag der Grünen
Nach dem Willen der Grünen (19/8700) sollte der Schutz der Verfassung im Bund strukturell wie inhaltlich neu organisiert werden. Dazu sollten im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern ein unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung (ISV) sowie ein entsprechend verkleinertes Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr (BfGS) eingerichtet werden. Die Grünen stellten fest, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), seine Befugnisse, aber auch seine Struktur zu Recht regelmäßig in der Kritik stünden. Die seit Jahren erkennbaren Missstände bezüglich Strukturen, Arbeitsweisen, Personal und Kontrollierbarkeit des BfV erforderten eine umfassende Antwort.
Um die Sicherheit im Einklang mit individuellen Freiheitsrechten rechtsstaatlich zu gewährleisten, reichten kleine Reformen nicht aus. Es brauche eine Zäsur und eine strukturelle Neuorganisation des Verfassungsschutzes in Deutschland. Dabei müsse Leitbild sein, dass in einem Rechtsstaat das Handeln der Nachrichtendienste sowohl kontrollierbar als auch nachvollziehbar sein muss. Neben den organisatorischen Änderungen sollte die Bundesregierung zudem die Effektivität der Strukturen der Sicherheitsbehörden im föderalen Staat überprüfen und den Informationsaustausch verbessern. Um Datenschutz und Verteidigungsrechte zu wahren, müsse der Kreis der im Einzelfall beteiligten Behörden und die Menge und Art der auszutauschenden Daten möglichst eng gefasst sein. Das Gesetz sollte die Verantwortung von Behörden im Einzelfall regeln. Die politische Aufsicht und Kontrolle sollte beim Innenministerium liegen.
Erster Gesetzentwurf der AfD
In ihrem ersten neuen Gesetzentwurf (19/30406) stellt die AfD fest, dass es dem Bundesamt für Verfassungsschutz nach der geltenden Rechtslage zumindest teilweise unmöglich sei, nach rechtsstaatlichen Prinzipien im Sinne des Artikels 20 Absatz 3 des Grundgesetzes zu arbeiten. Verantwortlich hierfür sei die „in Teilen verfassungswidrige Ausgestaltung“ des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Die fehlende Verwirklichung der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Rechtsstaatlichkeit durch die einfache Gesetzgebung zeige sich an vielen Teilen des Gesetzes.
Der Entwurf der Fraktion zielt darauf ab, die von ihr diagnostizierten Mängel zu beheben.
Zweiter Gesetzentwurf der AfD
Die AfD-Fraktion will in ihrem zweiten neuen Gesetzentwurf (19/30412), dass durch eine Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes die Möglichkeit eingeführt wird, radikalisierte Kinder ohne Altersbegrenzung zu beobachten. Nach dem Willen der Fraktion soll die Mindestaltersgrenze von 14 Jahren für die Speicherung, Verarbeitung und Nutzung von Daten über Minderjährige wegfallen. Wie die Fraktion schreibt, geht nach Auffassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz von dschihadistischen Familien in Deutschland ein „nicht unerhebliches Gefährdungspotenzial“ aus. Dies gelte auch für Familien, die nicht in Kampfgebiete in Syrien und Irak gereist seien. Dabei würden sich auch Minderjährige unter 14 Jahren radikalisieren, begründet die Fraktion ihre Forderung.
Der Gesetzentwurf sieht vor, „die Möglichkeit der Bundesregierung zur Einflussnahme auf den Verfassungsschutzbericht aufzuheben“. Da für den Erlass und die Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichts nicht das Bundesamt für Verfassungsschutz, sondern das Bundesministerium des Innern zuständig sei, sei es geboten, das Bundesverfassungsschutzgesetz an entsprechender Stelle zu ändern. (irs/sto/hau/10.06.2021)