Nach einer scharfen Kontroverse im Bundestag hat die Ampelkoalition am Freitag, 17. März 2023, ihre umstrittenen Pläne für eine Wahlrechtsreform zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl mit 399 Ja- bei 261 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen durch das Parlament gebracht. Für den Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (20/5370) in der vom Innenausschuss geänderten Fassung (20/6015) votierten in namentlicher Abstimmung 395 Parlamentarier von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie drei AfD-Abgeordnete und ein fraktionsloses Mitglied des Bundestages. Dagegen stimmten neben 184 Unions- und 31 Linken-Abgeordneten auch 41 AfD-Parlamentarier sowie zwei Sozialdemokraten und drei fraktionslose Abgeordnete.
Neuregelung begrenzt Zahl der Bundestagsmandate
Mit der Neuregelung wollen die Koalitionsfraktionen die Zahl der Bundestagsmandate künftig verlässlich auf 630 begrenzen. Dazu sehen sie einen Verzicht auf die bisherige Zuteilung sogenannter Überhang- und Ausgleichsmandate vor. Dies könnte dazu führen, dass künftig nicht alle Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten, in das Parlament einziehen. Überhangmandate sind bisher angefallen, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate in den Wahlkreisen gewonnen hat, als ihrem Listenergebnis entsprach. Um das mit der Zweitstimme bestimmte Kräfteverhältnis der Parteien im Parlament wiederherzustellen, wurden diese Überhänge mit zusätzlichen Ausgleichsmandaten kompensiert. In der Folge stieg die Zahl der Abgeordneten über die bisherige gesetzliche Sollgröße von 598 hinaus auf derzeit 736 an.
Dem Gesetzesbeschluss zufolge soll es wie bisher 299 Wahlkreise und zwei Stimmen geben. Dabei wird mit der Zweitstimme, mit der die Wähler für eine Parteiliste votieren können, über die proportionale Verteilung der Mandate an die Parteien entschieden. Mit der Erststimme können wie bisher in den Wahlkreisen Direktkandidaten gewählt werden. Ihnen wird ein Mandat jedoch nur zugeteilt, wenn dies durch das Zweitstimmenergebnis gedeckt ist. Stellt eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreissieger als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht, sollen – in der Reihenfolge ihrer Ergebnisse bei den Wahlkreisstimmen – entsprechend weniger von ihnen bei der Mandatszuteilung berücksichtigt werden. Ursprünglich hatte der Koalitionsentwurf noch eine Begrenzung der Abgeordnetenzahl auf 598 vorgesehen, doch erhöhte die Ampel diese Sollgröße während der parlamentarischen Beratungen auf 630, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, „dass Wahlkreisbewerber, auf die die meisten Erststimmen entfallen, einen Sitz erhalten“.
Wegfall der Grundmandatsklausel
Eine weitere Änderung der im Januar eingebrachten Vorlage enthält den Wegfall der sogenannten Grundmandatsklausel. Sie sieht vor, dass eine Partei auch dann entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis im Bundestag vertreten ist, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen errungen hat, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen konnte.
Zuletzt profitierte davon Die Linke, die bei der Bundestagswahl 2021 auf einen Zweitstimmenanteil von 4,9 Prozent kam, aber mit drei Direktmandaten in Fraktionsstärke in das Parlament einziehen konnte.
Vorlagen der Opposition
Ein Gesetzentwurf der AfD-Fraktion (20/5360), der die Zahl der Bundestagsmitglieder auf 598 begrenzen wollte und dazu ebenfalls einen Wegfall der Grundmandatsklausel sowie der Überhang- und Ausgleichsmandate vorsah, fand keine Mehrheit. Danach sollte zudem mit einer „offenen Listenwahl“ die Möglichkeit geschaffen werden, die Zweitstimme künftig in bis zu drei „Bewerberstimmen“ aufzuteilen und dadurch die von den Parteien vorgegebene Reihenfolge der Landeslisten zu verändern.
Ebenfalls abgelehnt wurde ein CDU/CSU-Antrag (20/5353). Die Union schlug darin vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu reduzieren und die Regelgröße für Listenmandate auf 320 anzuheben, um die Zahl der Bundestagsmitglieder „in Richtung einer Regelgröße von 590 Abgeordneten“ zu reduzieren. Dazu plädierte sie für eine Erhöhung der Zahl unausgeglichener Überhangmandate von derzeit drei „auf die vom Bundesverfassungsgericht zugelassene Anzahl“ von 15 und sprach sich für eine „Anhebung der Grundmandatsklausel“ aus. Danach sollen bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens fünf statt bisher drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Von der Tagesordnung wieder abgesetzt wurden drei Anträge der Fraktion Die Linke (20/5356, 20/5357, 20/5358).
SPD: Grundlegende und überfällige Reform
In der Debatte sprach Sebastian Hartmann (SPD) von „einer der grundlegendsten, aber sehr überfälligen Reform des deutschen Wahlrechts“. Die entscheidenden Punkte seien dabei eine „feste Größe“ des Bundestages von 630 Abgeordneten, ein einfaches und nachvollziehbares Wahlrecht mit zwei Stimmen und der Erhalt von 299 Wahlkreisen.
Zugleich werde eine Verzerrung des Zweitstimmenergebnisses zugunsten einzelner Gruppen werde damit ausgeschlossen. Die „klare Systementscheidung“ liege darin, dass Parteien, die mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen errungen haben, an der Sitzverteilung teilnehmen.
CSU: Versuch einer Wahlrechtsmanipulation
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kritisierte, dass eine Partei künftig in einem Land alle Wahlkreise gewinnen könne, ohne dass ein Kandidat in das Parlament einzieht. Wenn direkt gewählte Abgeordnete nicht mehr in das Parlament einziehen, fördere dies die Politikverdrossenheit. Die Koalition sage, sie wolle den Bundestag verkleinern, verkleinere aber die Opposition.
Durch die Abschaffung der Grundmandatsklausel als „Ausdruck der regionalen Besonderheiten unseres Landes“ wolle die Koalition die Linksfraktion aus dem Parlament drängen und das Existenzrecht der CSU infrage stellen. Dies sei der Versuch einer Wahlrechtsmanipulation mit dem Ziel, „den Machtanspruch der Ampel zu zementieren“. Die Koalitionsvorlage sei falsch, fehlerhaft, verfassungswidrig und ein „großes Schurkenstück“.
Grüne: Regionalpartei kann Wahlrecht nicht diktieren
Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) entgegnete, sie respektiere die regionale Sonderstellung der CSU, doch könne es nicht sein, dass diese als Regionalpartei das Wahlrecht diktiere. Es gehe nicht um Wahlmanipulation oder Betrug am Wähler, sondern dass der Bundestag nach zehnjährigem Streit das Versprechen einlöse, sich zu verkleinern.
Dies geschehe auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts. Dabei bleibe es bei 299 Wahlkreisen, deren Ergebnis aber auch über die erzielten Zweitstimmen durch das Verhältniswahlrecht abgesichert sein müsse. Damit gelte der Grundsatz, dass die Mehrheit im Parlament von denen dargestellt werden könne, die bei der Wahl auch die Mehrheit der Stimmen erhalten haben. Die Reform sei fair und verfassungsgemäß.
AfD fordert Möglichkeit „offener Listenwahl“
Albrecht Glaser (AfD) betonte, dass die Koalition ein Reformkonzept vorgelegt habe, das nahezu identisch sei mit einem bereits vorher eingebrachten Vorschlag seiner Fraktion. Nicht übernommen worden sei das AfD-Anliegen einer „offenen Listenwahl“, die einen direkten Einfluss auf die Reihenfolge der Bewerber auf den Landeslisten gewährleisten solle. Diesen demokratischen Fortschritt wolle die Ampel nicht.
Mit Blick auf den Wegfall der Grundmandatsklausel sagte Glaser hinzu, dass Dobrindts „Vermutung“ hinsichtlich der „Wirkung dieser Klausel auf Ihr politisches Schicksal in Bayern“ falsch sei. „Die Anwendung ist nicht so, wie Sie glauben, dass sie sei“, fügte er hinzu.
FDP: Grundentscheidung für kleineren Bundestag
Konstantin Kuhle (FDP) sagte, der Verzicht auf eine Grundmandatsklausel sei mit weniger verfassungsrechtlichen Risiken behaftet als die Einführung einer neuen Grundmandatsklausel gewesen wäre. Aus diesem Grund erfolge diese Änderung. Um die CSU gehe es dabei nicht. „Lassen Sie uns heute gemeinsam die Grundentscheidung für eine Verkleinerung des Bundestages treffen“ und auf dieser Grundlage „weiter miteinander sprechen“, fügte Kuhle hinzu.
Stephan Thomae (FDP) unterstrich, wenn sich die CSU Sorgen um die Fünf-Prozent-Hürde in Bayern mache, könne er sagen, dass man „total offen“ sei, nach der heutigen Grundentscheidung „nochmal über Spezifika regionaler Besonderheiten zu sprechen“ und darüber zu diskutieren, „ob für die CSU hier eine Regelung getroffen werden muss“.
Linke: Grundmandatsklausel im Osten wichtig
Jan Korte (Die Linke) wertete die Ampel-Vorlage als „größten Anschlag“ seit Jahrzehnten auf das Wahlrecht als entscheidenden Grundpfeiler der parlamentarischen Demokratie. Profitieren würden davon SPD, Grüne und FDP. Zugleich wolle die Koalition „zwei Oppositionsparteien aus dem Bundestag politisch eliminieren“, fügte er hinzu. Dabei sei die CSU „in Bayern eine tief verwurzelte Partei“.
Auch sei die Grundmandatsklausel gerade für Ostdeutschland wichtig gewesen, weil die damalige PDS einem relevanten Teil der dortigen Bevölkerung eine Stimme gegeben habe und Die Linke dies heute ebenso mache. Mit der Streichung der Klausel überlasse die Koalition „der AfD den Osten“, beklagte Korte und betonte, dass man sich vor dem Bundesverfassungsgericht wiedersehen werde.
CDU kündigt Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an
Auch der CDU-Abgeordnete Ansgar Heveling, Obmann der Unionsfraktion in der Wahlrechtskommission, kündigte eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neue Wahlrecht an. Unionsfraktionschef Friedrich Merz sagte, die Union werde „jederzeit jede Gelegenheit nutzen“, wieder zu ändern, was die Koalition hier beschließen wolle. Zugleich regte er zum Ende der Debatte ein „Innehalten“ und Verschieben der Abstimmung an, um darüber nachdenken zu können, wie man dem Ziel einer gemeinsamen Änderung des Wahlgesetzes näherkommen könne.
SPD-Fraktionschef Dr. Rolf Mützenich wandte sich unter Verweis auf Gespräche der vergangenen Wochen gegen eine Vertagung: „Drei Wochen intensives Ringen wird nicht besser, wenn wir nochmal 14 Tage warten.“
Mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP hatte zuvor der Innenausschuss am 15. März einen Änderungsantrag der Koalition gebilligt, der neben der Erhöhung der Sollgröße des Bundestages von derzeit 598 auf 630 Mandate auch einen Wegfall der Grundmandatsklausel vorsah.
Abgesetzte Anträge der Linken
Die Fraktion Die Linke drang in ihren drei von der Tagesordnung abgesetzten Anträgen darauf, das Mindestalter für das aktive Wahlrecht bei Bundestagswahlen von 18 auf 16 Jahren abzusenken (20/5358), ein Ausländerwahlrecht auf Bundesebene ab einem fünfjährigen legalen Aufenthalt in der Bundesrepublik einzuführen (20/5356) und zur Stärkung des Frauenanteils im Bundestag im Parteiengesetz festzuschreiben, dass Frauen und Männer bei der Aufstellung der Landeslisten gleichermaßen berücksichtigt werden (20/5357). (sto/17.03.2023)