Einen Tag nach dem „Flüchtlingsgipfel“ der Ministerpräsidenten bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist es am Donnerstag, 11. Mai 2023, im Bundestag zu einer erneuten Kontroverse über die Asylpolitik der Bundesregierung gekommen. Gegen das Votum von Union und AfD lehnte das Parlament einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion (20/6731) ab, die an der deutsch-österreichischen Grenze stattfindenden Kontrollen vorübergehend auf die Binnengrenzen zu Polen, Tschechien und zur Schweiz auszuweiten. Auch forderte die Union in dem Antrag die Bundesregierung unter anderem auf, gemeinsam mit den Staaten und Institutionen der Europäischen Union „kurzfristig konkrete Maßnahmen für einen deutlich effektiveren EU-Außengrenzschutz und für eine spürbare Reduzierung der irregulären Migration in die EU zu ergreifen“
In namentlicher Abstimmung wies das Parlament zugleich einen weiteren Antrag der CDU/CSU-Fraktion (20/6173) zur Durchsetzung von Ausreisepflichten und Beseitigung von Abschiebehürden mit 416 Nein-Stimmen bei 259 Ja-Stimmen zurück. Darin forderte die Unionsfraktion die Bundesregierung auf, die „im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition angekündigte Rückführungsoffensive umgehend auf den Weg zu bringen“. Zugleich sollte die Bundesregierung nach dem Willen der Fraktion unter anderem bei der Aushandlung bilateraler Rücknahmeabkommen und sonstiger Vereinbarungen mit Herkunfts- und Transitstaaten „alle Kooperationsfelder einschließlich der Visavergabe, Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftsbeziehung“ einbeziehen. Der Ausschuss für Inneres und Heimat hatte zur Abstimmung über den Antrag eine Beschlussvorlage eingebracht (20/6574).
Abgelehnte Anträge der AfD
Auch zwei Anträge der AfD-Fraktion für eine „nationale Kraftanstrengung zur Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern“ (20/1508) und für eine „Rückführungsoffensive 2023“ (20/6184) fanden keine Mehrheit im Parlament. Darin forderte die AfD-Fraktion die Bundesregierung auf, die Ausreise abgelehnter Asylbewerbern „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu forcieren und über geeignete Anreizsysteme verstärkt zu fördern“ sowie durch wirksamere Grenzkontrollen an europäischen und deutschen Außengrenzen die Wiedereinreise solcher Asylbewerbern zu unterbinden.
Auch sollte die Bundesregierung nach dem Willen der AfD gegenüber Herkunftsstaaten ausreisepflichtiger Ausländer, die bei der Rücknahme ihrer Staatsbürger nicht oder nur unzureichend kooperieren, Maßnahmen im Bereich der Visavergabe, der Handelspolitik, des Technologietransfers und der Entwicklungszusammenarbeit „konzertiert“ einsetzen. Der Bundestag wies die beiden Vorlage auf Grundlage von Beschlussempfehlungen des Innenausschusses (20/6260, 20/64829) mit den Stimmen der übrigen Fraktionen zurück.
SPD: Rechtsstaat gilt auch an den Außengrenzen
In der Debatte betonte Helge Lindh (SPD), dass der Rechtsstaat auch für Flüchtlinge an den Außengrenzen gelten müsse. Es gehe dabei um Menschen, und dies komme in den CDU/CSU-Anträgen zu kurz.
Dabei hätten sich auf dem Flüchtlingsgipfel auch die Ministerpräsidenten der Union zu dem Kurs der Koalition bekannt, der sich in dem Beschlusspapier finde. Dazu gehöre das Thema der Reduktion irregulärer Migration, doch mache die Ampel auch deutlich, dass etwa Grenzkontrollen nicht bedeuteten, dass es keine Asylanträge mehr gebe. Auch könnten Abschiebungen ein Baustein sein, „aber mit Fokussierung insbesondere auf Gefährder und Straftäter“ und „nicht mit der Suggestion, wir könnten jetzt Hunderttausende abschieben“.
Union spricht von „Gipfel der verpassten Chancen“
Andrea Lindholz (CDU/CSU) sprach mit Blick auf das Treffen des Kanzlers mit den Länderchefs von einem „Gipfel der verpassten Chancen“. Zwar gebe es „für dieses Jahr eine Milliarde mehr“, doch sei die Forderung der Kommunen nach finanzieller Planungssicherheit nicht erfüllt worden. Auch habe die Bundesregierung es verpasst, „ein klares Signal des Umsteuerns und der Begrenzung der irregulären Migration“ zu geben.
Lindholz verteidigte zugleich die Forderung ihrer Fraktion nach lageangepassten Kontrollen an der Grenze zu Tschechien, Polen und der Schweiz. Auch Frankreich, das ebenfalls den Schengen-Raum erhalten wolle, habe „zum 1. Mai notifizierte Grenzkontrollmöglichkeiten an allen französischen EU-Binnengrenzen“.
Grüne werben für „mehr Ordnung und Humanität“
Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) warb für „mehr Ordnung und mehr Humanität“ in der Flüchtlingspolitik. Dabei wolle sie, dass „registriert wird an den europäischen Außengrenzen“, dass Asylverfahren schnell durchgeführt werden, dass „zurückkehrt, wer zurückkehren muss“, und dass „verbindlich verteilt wird in Europa“.
In die europäische Flüchtlingspolitik müsse mehr Solidarität einziehen. Ordnung und Sicherheit bedeute, dass jeder, der in die EU kommt, registriert und jedes einzelne Asylgesuch rechtsstaatlich geprüft wird. Dabei könne „dieser neue Start“ nur mit einem verpflichtenden Verteilmechanismus gelingen, weil die Außengrenzenländer sonst keinen Grund hätten, dieser Reform zuzustimmen.
AfD: Eigene Werte und Kultur bewahren
Dr. Bernd Baumann (AfD) warf der CDU/CSU vor, ihrer Forderung nach Rückführungen zu ihrer Regierungszeit selbst nicht nachgekommen zu sein. Die Union wolle ebenso wie die heutige Regierungskoalition nicht abschieben, während die Zahl der illegalen Einwanderer und der nicht Abgeschobenen „geradezu explodiert“. Die Mehrheit der Deutschen wolle indes „die eigenen Werte, die eigene Kultur“ bewahren, die „das ethnisch-kulturelle deutsche Volk“ ausmache.
In der Regierung säßen jedoch Politiker, „die mit diesem Volk nichts anfangen können“. Selbstverständlich gebe es ein „Staatsvolk“, zu dem alle Bürger mit deutschem Pass sowie gleichen Rechten und Pflichten gehörten. Ebenso gebe es aber auch „ethnisch-kulturell ein deutsches Volk“, das schützenswert sei.
FDP: Paradigmenwechsel bei der Migrationspolitik
Stephan Thomae (FDP) konstatierte, die Ministerpräsidentenkonferenz im Kanzleramt habe zum Teil neue Ziele vereinbart, aber auch deutlich gemacht, dass sich die Bundesregierung mitten in einem „Paradigmenwechsel“ bei der Migrationspolitik befinde.
Die Koalition wolle mehr gesteuerte, reguläre Einwanderung in den Arbeitsmarkt, ferner mehr Kontrolle und Begrenzung irregulärer Migration in das Asyl- und Sozialsystem sowie einen gerechteren Verteilmechanismus innerhalb Europas und natürlich an den humanitären, völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen festhalten. Dies sei indes „keine Aufgabe von Wochen oder Monaten“ oder mit ein bis zwei Gesetzesänderungen zu erreichen.
Linke kritisiert „mangelnde Infrastruktur“
Clara Bünger (Die Linke) beklagte, dass es keine legalen Fluchtwege gebe, weshalb alle Schutzsuchenden zunächst irregulär einreisen müssten. Dabei erhielten mehr als 70 Prozent der Ankommenden einen Schutzanspruch. Deshalb sei der Ruf nach mehr Abschiebungen fehl am Platz. Notwendig sei eine finanzielle Unterstützung der Kommunen, damit sie Geflüchtete unterbringen, versorgen und integrieren können. Dazu seien Investitionen in Wohnungen, Kitas und Schulen erforderlich, von denen alle in Deutschland profitieren würden.
Nicht Geflüchtete seien das Problem, sondern die mangelnde Infrastruktur. Zwar bekämen die Kommunen nun eine dringend benötigte Finanzspritze, doch habe der Flüchtlingsgipfel keine langfristige Lösung gefunden, sondern „hauptsächlich Maßnahmen zur Abschottung beschlossen“. (sto/11.05.2023)