18.03.2018 | Parlament

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: Träumer und Realisten

Der 18. März steht für die deutsche Revolution 1848/49 - und er erinnert an einen europaweiten Aufbruch zur Freiheit. Damals träumten Victor Hugo und andere bereits von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Daraus wurde nichts.

Im Gegenteil: Europäische Solidarität ging im nationalen Überschwang unter - mit nachhaltigen Folgen. Als vor 100 Jahren der Weltkrieg endete, in den ein übersteigerter Nationalismus den Kontinent manövriert -hatte, formierten sich jene Kräfte, die in der Einigung Europas die notwendige Abkehr vom nationalstaatlichen Ordnungsprinzip erkannten. „Träumer“ hat sie Adolf Muschg genannt. Der Schweizer Schriftsteller meinte das keinesfalls geringschätzig. Der bekennende Pro-Europäer Muschg ist vielmehr überzeugt: „Das Projekt Europa ist nur als Gemeinschaftswerk von Realisten und Träumern lebensfähig.“ Europa bedarf des Pragmatischen ebenso wie der visionären Kraft. Ohne die Träumer hätten die Realisten wohl niemals mit dem vereinten Europa angefangen. Aber ohne die Realisten wäre ein vereintes Europa ein Traum geblieben.

Bei aller Begeisterung für die europäische Idee: Die EU - das Wirklichkeit gewordene vereinte Europa verführt nicht zum Träumen, sie stellt heute kaum jemanden zufrieden. Europa ist in den vergangenen Jahren fast schon ein anderes Wort für „Krise“ geworden. Tatsächlich gehört auch der Krisenmodus zu Europa. Die fortschreitende Integration ist immer eine Reaktion auf vorangegangene Nöte und Bedrängnisse gewesen. Diese sind auch Chancen, denn die Erfahrung lehrt, dass Reformen in Krisenzeiten eher gelingen als unter normalen Umständen. Und Reformen braucht es.

Unübersehbar ist, dass die vielfach als dramatisch empfundene Zuspitzung auch etwas Gutes hat, indem sie viele nachdenklich macht. Mehr Menschen glauben wieder daran, dass es gut ist, wenn die Europäer Zusammenarbeiten, bei allen Unzulänglichkeiten der EU. Sie sehen die Vorteile eher als die Nachteile. Man kann sogar Wahlen damit gewinnen. Bürgerinnen und Bürger gehen in zahlreichen Städten auf die Straße, um sich sichtbar und vernehmbar zur europäischen Idee zu bekennen - zu Europa nicht bloß als Elitenprojekt, sondern als Bürgerprojekt.

Während für die einen Brüssel zum bürokratischen Albtraum geworden ist, sehen andere in der Krise Europas die Chance, einen großen Schritt nach vorne zu tun. Von den „Vereinigten Staaten von Europa“ war zuletzt wieder die Rede. Intellektuelle wie Navid Kermani sprechen sich mit Leidenschaft für eine „Neugründung“ samt Verfassungsgebung und anschließender Volksabstimmung aus.

Auch ich bin davon überzeugt, dass unsere Zukunft Europa heißt. Wir brauchen angesichts der Herausforderungen der Globalisierung ein starkes, handlungsfähiges Europa. Das ist die Realität. Für eine Änderung der institutioneilen Grundlagen, für einen neuen großen Wurf, ist die aktuelle Krise aber vermutlich nicht katastrophal genug - Gott sei Dank. Es ist paradox: Die Erwartungen an die EU sind mindestens so hoch wie die Enttäuschung. Während die meisten Bürger Umfragen zufolge unzufrieden sind mit dem Istzustand der Europäischen Union, spricht sich die große Mehrheit gleichzeitig für mehr europäische Zusammenarbeit aus: in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, im Kampf gegen den Terrorismus, in der Einwanderungspolitik. Geht es dann konkret darum, Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern, findet das sehr viel weniger Zustimmung.

Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass die Nationalstaaten keinesfalls ausgedient haben, wie frühe europäische Föderalisten annahmen und sich manche heute erträumen. Wer versucht, die europäische Einigung gegen das Bedürfnis der Menschen nach nationaler Identität auszuspielen, der wird Europa im Ergebnis nicht stärken, sondern schwächen. Deshalb muss, wer Europa will, entweder die Verschiedenheit akzeptieren, nationale Eigenarten ertragen und Besonderheiten wenn schon nicht schätzen so wenigstens respektieren. Oder aber beim Wunsch nach weiter fortschreitender europäischer Vereinheitlichung dazu bereit sein, Kompromisse zu machen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären. Nur so werden wir ein Mehr an Gemeinsamkeit schaffen, das die Handlungsfähigkeit der EU gerade in den Problemfeldern verbessert, in denen auch in den Augen von Europaskeptikern keine allein nationalstaatlichen Lösungen mehr möglich sind.

In Zeiten beschleunigten Wandels wollen viele Menschen festhalten am Vertrauten, Gewohnten. Globalisierung und Digitalisierung führen zu Verunsicherung und zu Ängsten. Dagegen hilft - bei aller Sympathie keine Neubegründung. Wenn wir wieder mehr Menschen von Europa überzeugen wollen, muss die EU vor allem leistungsfähiger werden. Sie muss beweisen, dass sie ihre Bürger schützen, dass sie ihnen Freiheit und Wohlstand in der globalisierten Welt sichern kann. Dass sie sich an die eigenen Regeln hält und ihre Werte zu wahren und zu verteidigen weiß, nach innen und nach außen.

Die EU, das sind nicht die europäischen Institutionen, sondern das meint die Mitgliedstaaten, also deren Regierungen und Parlamente, zusammen mit Europäischer Kommission, Europäischem Parlament und Europäischem Rat. Auf kurze Sicht heißt das pragmatisch und flexibel sein bei der Suche nach Lösungen für konkrete Probleme. Die vorhandenen Instrumente, die die Verträge bereithalten, nutzen. Und wenn nicht alle mitmachen wollen oder können, dann erst mal nur die, die bereit dazu sind. Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Aber auf mittlere und längere Sicht müssen wir uns selbstverständlich auch um die Taube kümmern - Träumer und Realisten.

Von all den Krisen, die wir zuletzt mit der EU verbunden haben, dauert eine länger als andere: die „Beziehungskrise“ zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern - trotz zuletzt gestiegener Zustimmungswerte. Der dringendste Wunsch, den die Deutschen für die zukünftige Gestaltung Europas haben, ist „eine transparentere und bürgernähere EU“, hat eine Studie der Körber-Stiftung gezeigt. Angesichts der Komplexität des europäischen „Staatenverbundes“, die im Zuge wachsender internationaler Verflechtung noch zunehmen wird, ist das ein fast aussichtsloses Unterfangen und dennoch eine zentrale Aufgabe für die Politik und für die Medien. Die Krisen der vergangenen Jahre bewirken auch hier beiläufig etwas Gutes: Denn Streit über den Euro, die Flüchtlingspolitik, den Brexit, über die EU als solche - all diese Themen politisieren, sie sind relevant. Ein „Auflagenkiller“, wie es noch vor zehn Jahren hieß, ist Europa längst nicht mehr. Und selbst wenn eine echte europäische Öffentlichkeit allenfalls in den Kinderschuhen steckt, wird wenigstens in der Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten wieder über Europa diskutiert, heftiger als früher - wenn auch leider nicht immer unter Auslassung nationaler Stereotype und Klischees. Auch damit müssen wir umgehen.

Wenn vom Verhältnis zwischen der EU und den Bürgerinnen und Bürgern die Rede ist, kommt reflexartig die Forderung, die Brüsseler Institutionen und Verfahren müssten sich ändern. Die EU müsse sich öffnen und auf die Bürger zugehen. Wie viele EU-Informationskampagnen und Kommunikationsoffensiven sind damit schon begründet worden. Dabei wäre schon einiges gewonnen, wenn wir die EU näher zu uns holen würden. Sie noch viel stärker als bisher Teil unserer öffentlichen Debatten werden lassen, innerhalb aber auch außerhalb des Parlaments. Und das nicht nur, wenn milliardenschwere Entscheidungen anstehen. Das heißt für die Politik auch, mehr Verantwortung zu übernehmen. Öfter als bisher europäische Gesetzesvorlagen zum Thema im Bundestag zu machen - oder europäische Initiativen selbst mitanzustoßen.

Es ist nicht so einfach mit der Bürgerbeteiligung. Die Erfahrung zeigt, dass das Bedürfnis, beteiligt zu werden, stärker ausgeprägt ist als die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Mehr als die Hälfte der deutschen Wahlberechtigten fand es bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament entbehrlich, ihre Stimme abzugeben. Wer mehr Beteiligung wünscht, muss sich deshalb entscheidenden Fragen stellen: Wie sollen sich die Ergebnisse solcher Beteiligungsverfahren im politischen Prozess wiederfinden? Wie lässt sich verhindern, dass die Beteiligung in den Verdacht einer „Alibi-Veranstaltung“ gerät, die bei denen, die sich eingebracht haben, noch mehr Enttäuschung produziert? Und wie steht es um Repräsentativität und Legitimität, die am Ende nur durch die Entscheidung gewählter Vertreter sichergestellt werden können?

Bürgermut wie vor 170 Jahren braucht es heute zum Glück nicht mehr. Aber ohne das Engagement der Bürgerinnen und Bürger geht es auch jetzt nicht. Wir sind auf Europäerinnen und Europäer angewiesen, die sich für das Projekt begeistern. Ob Träumer oder Realisten. Am besten beide. Und wenn aus der Begeisterung in dem einen oder anderen Fall auch mehr politische Beteiligung wird, wäre es noch besser. Denn auf Dauer können auch noch so engagierte Bürgerinnen und Bürger den politischen Willen nicht ersetzen. Etwas bewegen bedeutet, sich auf den politischen Prozess einzulassen - in all seiner Komplexität, seiner Langwierigkeit, seiner zähen Überzeugungsarbeit und Kompromissfindung. Das ist mühsam und in Europa noch mühsamer als in der überschaubareren bundesdeutschen Demokratie. Es setzt eine gewisse organisatorische Stetigkeit voraus, die Frustrationen überdauert. Deshalb sind Institutionen erforderlich. Parteien, Regierungen und Parlamente. Und deshalb ist es gut, wenn unser Land endlich wieder eine voll handlungsfähige Regierung hat, die Gestaltungswillen zeigt und Führungsverantwortung in Europa übernimmt. Und es wird auf ein Parlament ankommen, das in den bevorstehenden Reformbemühungen seine gewachsenen Mitwirkungsrechte in europäischen Angelegenheiten selbstbewusst wahrnimmt.

(erschienen in „Welt am Sonntag, 18. März 2018)

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