Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble auf der Vertriebenenwallfahrt 2018 in Ellwangen
Es gilt das gesprochene Wort
Europa – das ist heute eine Geschichte von Frieden und Versöhnung. Nach Jahrhunderten verheerender Kriege.
Wir hören das häufig: Europa als Friedensprojekt. Aber ist uns eigentlich noch wirklich bewusst, was für ein Glück das ist? Frieden in Europa. Unsere Heimat, unser Zuhause ist nicht bedroht. Wir müssen nicht fliehen.
Sie und Ihre Familien wissen am besten, wie wertvoll das ist. Selbstverständlich ist es nicht. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen, Ihre Geschichte!, erinnert uns daran. Deshalb – und angesichts von weltweit 65 Millionen Menschen, die derzeit auf der Flucht sind - bleibt es wichtig, das Bewusstsein dafür wach zu halten. Auch in der Zukunft!
Die Ellwanger Vertriebenenwallfahrt trägt seit langem dazu bei.
Mich beeindruckt, für wie viele katholische Laien diese Wallfahrt noch immer Anziehungspunkt ist. Es verdeutlicht das Bedürfnis, nicht zu vergessen. Sich seiner eigenen Geschichte und der seiner Familie und Vorfahren vergewissern zu wollen. Aber auch über die Gemeinschaft der unmittelbar Betroffenen hinaus Anteil zu nehmen am Schicksal von Flucht und Vertreibung. Mitzufühlen.
Dieser Ort ist ein europäischer und ein geschichtsträchtiger: Die Wallfahrtskirche erzählt von Gewalt und Leid und von der Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung – kein Zufall also, dass Sie hier zusammenkommen. Und das bereits zum 70. Mal.
Im Dreißigjährigen Krieg errichteten zwei Jesuitenpater auf dem Berg ein Holzkreuz und luden zum Gebet. Sie sehnten sich nach einem Leben in Frieden. Einer sicheren Heimat. Damals tobte dieser verheerende Krieg schon zwei Jahrzehnte, und die Menschen mussten noch zehn Jahre auf den Frieden warten. Erst 1648 fanden die Kämpfe, Brandschatzungen und Vertreibungen im Westfälischen Frieden ein Ende.
In diesem Jahr blicken wir Europäer auf einen anderen Friedenschluss zurück, der unseren Kontinent bis heute mitprägt: Vor einhundert Jahren endete der Erste Weltkrieg. Aber es war ein trügerischer Friede. Er erwies sich als nicht stabil genug. Die jungen Demokratien, die damals entstanden, hatten es schwer – auch in Deutschland. Es gab zu wenige mutige Menschen, die für die neue Ordnung eintraten, zu viele Deutsche misstrauten ihr. Katholiken blieben noch am stärksten immun gegen die Verführungen der Demokratieverächter.
Wir wissen, wohin das führte: Deutschland stürzte den Kontinent in einen Krieg, der verbrecherischer kaum vorstellbar ist. Gegen andere Staaten und gegen andere Völker – gegen Minderheiten im eigenen Land. Gegen Menschen, denen das Lebensrecht und ihre Würde abgesprochen wurde.
Die entsetzliche Gewalt, die von Deutschland ausgegangen war, schlug mit Kriegsende auf die Deutschen zurück. Schonungslos – vor allem im Osten, wo die Neuordnung unter Stalins Herrschaft auch für Millionen Menschen anderer Nationalität Flucht, Vertreibung oder Umsiedlung bedeutete. Nichts ist voraussetzungslos. Die deutsche Schuld vergeht nicht – und sie vergessen wir nicht. Sie rechtfertigt aber nicht das neue schwere Unrecht – begangen an Millionen Deutschen, die persönlich unschuldig Flucht und Vertreibung erlitten.
Das Leid, das Ihren Familien damals zugefügt wurde, ist nicht vergessen. Und wir dürfen es auch nicht verschweigen. Zum ehrlichen Umgang mit unserer Geschichte gehört, den Erlebnissen der Betroffenen und ihrer Trauer um die Opfer, die verlorene Heimat einen angemessenen Raum zu geben. Auch das gehört zu unserer Verantwortung.
Die deutschen Familien, Ihre Vorfahren, waren meist schon seit Jahrhunderten in den Gegenden ansässig, aus denen sie nach 1945 vertrieben wurden. Sie hatten Grund und Boden, hatten sich eine Existenz aufgebaut; Rituale und Traditionen entwickelt und weitergetragen. Sie lebten mit – oder neben – Angehörigen anderer Volksgruppen und Konfessionen. Aus diesen Begegnungen hatte sich ein besonderer kultureller Reichtum entwickelt – über Jahrhunderte. Mit dem Zweiten Weltkrieg endete er abrupt in Zerstörung, Hass und Gewalt.
In der alten Heimat wurden vielerorts die Spuren dieser gewachsenen, von Deutschen geprägten Kultur getilgt. Das Wissen über ein jahrhundertealtes Brauchtum drohte verloren zu gehen. Es ist deshalb ein segensreiches Verdienst der Vertriebenen, diesen glanzvollen Teil deutscher Kultur erhalten zu haben –fern der Heimat und beharrlich bis heute. Für sich, für ihre Kinder – und für uns alle. Dafür gebührt Ihnen großer Dank!
Der Verlust der Heimat ist eine schreckliche Erfahrung. Er hinterlässt Verletzungen. Sie schmerzen noch Generationen später. Denn die Erinnerung an Erlebtes und Verlorenes lebt fort: Wer und was wir sind, speist sich doch bei allen von uns ganz wesentlich aus den Erfahrungen und Erzählungen in den Familien. Das erfahrene Leid der Vertriebenen prägen deshalb auch ihre Kinder und Kindes¬kinder, die längst in Frieden leben. Ob man will oder nicht, ob man diese Prägung annimmt oder ablehnt.
Diese Gefühle dürfen und sie sollen ihren Platz in unserer Gesellschaft haben. Dass sich heute, siebzig Jahre nach dem Krieg, die Kinder von Kriegskindern verstärkt zusammenfinden und sich über ihre Prägungen austauschen, über unsichtbare Wunden, die vielfach mit dem Trauma der Vertreibung zu tun haben, beweist es: Vergangenheit vergeht nicht. Geschichte wirkt fort.
Zur beschämenden Wahrheit gehört: Die Erinnerung an die alte Heimat und die Schrecken der Flucht teilten viele Vertriebene lange nur mit ihren Schicksalsgenossen. Ihre Erzählungen vom Verlust der Häuser, Höfe und Herrensitze, von Demütigungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, der Flucht im Pferdewagen, Güterwaggon oder quälend lang zu Fuß: sie wurden lange nicht gehört, sie waren aus der breiten Öffentlichkeit in der Bundesrepublik verbannt – in der DDR ohnehin. Die Landsmannschaften und Vertriebenengemeinden blieben unter sich – vielfach unverstanden und nicht selten missverstanden. Nach Flucht und Vertreibung drohte auch noch die alte Heimat aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt zu werden – eine für viele von Ihnen doppelt schmerzhafte Erfahrung.
Abfinden dürfen wir uns damit nicht. Man muss das Schicksal der Anderen kennen, um sie zu verstehen. Und obwohl Fernsehdokumentationen, Spielfilme und Lebenserinnerungen die Geschichte der Flüchtlinge inzwischen aufgegriffen haben: Es fehlt vielen doch noch immer an Wissen. Deshalb braucht es das Dokumentationszentrum in Berlin, in unserer Hauptstadt. Um die Geschichte dieser Tragödie als Teil unserer gesamtdeutschen Geschichte zu begreifen. Vor zehn Jahren haben wir es im Bundestag beschlossen. In zwei Jahren soll die Ausstellung eröffnet werden. Endlich!
Dann wird auch der große Anteil gewürdigt werden, den die 15 Millionen Heimatvertriebenen an der Erfolgsgeschichte unseres Landes haben. Es waren ja nicht allein alteingesessene Badener, Württemberger, Hessen, Bayern, Franken oder Westfalen, die mit aller Kraft am Aufbau der Bundesrepublik mitarbeiteten. Sondern auch Millionen Sudetendeutsche, Schlesier, Karpatendeutsche, Donauschwaben, Ostpreußen. Sie sind nicht freiwillig gekommen, aber sie haben angepackt – und sich um unser Land verdient gemacht. Darauf können Sie stolz sein.
Leicht hatten sie es wahrlich nicht. Die Anfänge waren unendlich mühsam. Ihre neue Heimat lag in Trümmern. Nahrung und Wohnraum waren knapp, bezahlte Arbeit gab es zunächst keine. 1950 waren ein Drittel aller Arbeitslosen Vertriebene. Mit offenen Armen wurden die wenigsten empfangen. Die Einheimischen waren damit beschäftigt, selbst über die Runden zu kommen. Neue Nachbarn hieß für sie, noch enger zusammenrücken zu müssen. Mitgefühl gab es da wenig.
Ich weiß aus Erzählungen, wie nach dem Krieg bei uns im Schwarzwald die Vertriebenen auftauchten, die Älteren zum Teil noch in ihren traditionellen Trachten. Sie hielten fest an dem wenigen, was sie hatten retten können. Es wird sie gestärkt und getröstet haben. Aber es schuf auch Abstand zu den Alteingesessenen. Die trugen andere Gewänder und tanzten zu anderen Melodien. Als „Rucksack-Deutsche“ seien sie noch lange nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat ausgegrenzt worden, erinnert sich mein Kollege Volker Kauder. Seine Eltern waren als Donauschwaben aus Jugoslawien geflohen.
Die Vertriebenen waren in der frühen Bundesrepublik zwar vielerorts nicht willkommen, aber sie hatten politisches Gewicht. Weil sie sich engagierten. Weil sie teilhaben wollten. Weil sie sich als Teil des neuen Gemeinwesens sahen.
Die Zugezogenen nahmen Grundgesetz und Demokratie an. Sie brachten sich in den Kommunen ein – und in Bonn. Viele nahmen politisch Einfluss – über den mächtigen Bund der Heimatvertriebenen und die großen Volksparteien. Sie bewiesen ihren Willen zur Integration. Vorbildlich.
Schon damals galt: Flüchtlinge und Vertriebene mussten sich anpassen. Sie veränderten sich und die eingesessene Gesellschaft. Auch in den Kirchengemeinden zeigte sich das: Mit den Vertriebenen kam eine neue Frömmigkeit. Zuge¬wanderte Katholiken in evangelischen Gegenden – oder umgekehrt: Das ging nicht ohne Fremdeln. Aber auch das wurde überwunden. Aus Fremden sind Beheimatete geworden. Das ist ein Teil Ihrer besonderen Geschichte. Und nur so kann es funktionieren, nur so kann eine Balance zwischen alt und neu gefunden werden.
Die Kirchen waren und sie sind Hüterinnen des kulturellen Erbes – die Vertriebenen¬wallfahrten zeigen das.
Vertreter beider Konfessionen setzten sich in den Nachkriegsjahren für die Vertriebenen ein. Sie halfen, die Not zu lindern. Dank gebührt vor allem den Heimatpfarrern, die selbst vertrieben waren, und die deshalb ihre Schützlinge oft besser verstanden. Die Kirchen boten Flüchtlingen Heimat. Ihre Hilfswerke wie die Caritas und die Diakonie halfen, dass Millionen Vertriebene in der Bundesrepublik Fuß fassen konnten. Aller Widrigkeiten zum Trotz.
Christliche Barmherzigkeit überwand Gräben – und Grenzen. Das zeigt die Geschichte eines echten europäischen Brückenbauers: Pater Werenfried van Straaten. Der eine oder andere von Ihnen wird den Namen noch kennen. Oder ihn sogar persönlich erlebt haben. Pater Werenfried war Niederländer. Ihn rührte das Schicksal der einstigen Kriegsgegner – obwohl sein Land unter deutscher Besatzung furchtbar gelitten hatte. Nächstenliebe und Feindesliebe bedeuteten ihm mehr als Predigtthemen – er nahm Jesus wörtlich. An die holländischen und belgischen Bauern appellierte er unmittelbar nach Kriegsende: „Ich brauche kein Geld von euch, denn mit Geld kann man sich in Deutschland nichts kaufen. Ich verlange Speck!“ – „Speckpater“ wurde er daraufhin genannt. Unvergessen ist er bis heute vielen.
Der Glaube macht an Grenzen nicht halt – Kirchen wirken verbindend. Die europäische Nachkriegsgeschichte ist voller Beispiele für ihre Versöhnungsleistung. „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“: das schrieben 1965 die polnischen Bischöfe ihren deutschen Amtsbrüdern. Große Worte der Versöhnung.
Der Versöhnungsgedanke ist ein christlicher. Und auch der Gedanke an die Einheit Europas hat christliche Wurzeln. Der Kulturraum Europa steht auf einem christlichen Fundament. Die Kirchen hatten deshalb erheblichen Anteil an den zwischenstaatlichen Versöhnungsbemühungen. Daran, dass wir Deutschen und unsere östlichen Nachbarn zueinanderfanden.
Verzichtserklärungen von Menschen, die selbst Opfer von Flucht und Vertreibung waren, trugen mit dazu bei. Persönlichkeiten, die sich ihrer Geschichte bewusst waren und in die Zukunft blickten. Zu Ihnen zählt der frühere Präsident des Goethe-Instituts, Klaus von Bismarck. Der einstige Pommersche Gutsbesitzer wusste um die Kraft seiner Worte, als er 1954 auf dem Evangelischen Kirchentag erklärte: „Ich will nicht zurück.“
Nötig waren auch Verzichtserklärungen der Politik. Sie fielen nicht leicht. Und sie verletzten manche Heimatvertriebenen erneut, rissen alte Wunden auf. Das stimmt. Aber sie waren notwendig – unumgänglich. Erst die Versicherung, keine finanziellen oder territorialen Ansprüche zu erheben, ermöglichte die Einheit unseres Landes. Ebnete den Weg zur Aussöhnung, zu einem neuen Miteinander in Europa.
Aussöhnung und europäische Einigung: Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Und die Heimatvertriebenen haben dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Unvergessen bleibt die Charta, die ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik in Stuttgart verabschiedet wurde. Sie ist so etwas wie ein zweites Grundgesetz, das einer politischen Kultur der Versöhnung.
Sie baute eine Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft. Benannte das erlittene Unrecht, das Recht auf Heimat. Aber sie schwor zugleich jeder Rache und Vergeltung ab. Nicht Revanchismus trägt diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft – und christliche Humanität.
Die Charta war ein herausragendes Zeichen der Versöhnung. Nach innen und nach außen. Und sie war mit dem Aufruf zur „Schaffung eines geeinten Europas“ ihrer Zeit weit voraus.
Lieber Bischof Nemet, ein anderer europäischer Brückenbauer hat einmal gesagt: „Wer die Geschichte kennt und in die Zukunft schaut, der kann nicht anders als ein überzeugter Europäer zu sein“. Es war Erzbischof Robert Zollitsch. Er ist – Sie wissen das – im Königreich Jugoslawien geboren. Seine Botschaft lautet im Umkehrschluss: Wenn wir uns unserer Herkunft nicht mehr erinnern, haben wir Deutschen, haben wir Europäer keine Zukunft.
Europa hat aber eine Zukunft. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen die Europäische Union kämpft – und bei genauer Betrachtung schon immer gekämpft hat. Wir kennen unsere Geschichte und wie erkennen die Herausforderungen der Zukunft: In der veränderten Welt von heute geht es für uns Europäer nur gemeinsam – über alles Trennende in der Vergangenheit und auch gegenwärtig hinweg.
Gerade in Krisen hat sich dieses Europa immer wieder gefestigt. Je ungeordneter die Zustände außerhalb der Europäischen Union – in der auch nicht alles rund läuft –, umso wichtiger wird es, sich zu verständigen. Es war immer so: Frankreich und Deutschland werden vorangehen. Und sie werden die Staaten in Mittel- und Osteuropa mitnehmen. Ohne sie geht es nicht. Trotz Unterschieden und mancher Enttäuschung – es leiten uns prägende gemeinsame christliche und demokratische Werte.
Wir spüren doch, dass wir ein geeintes, rechtsstaatliches, freiheitliches Europa brauchen. Ein starkes Europa. Eine Europäische Union, die handlungsfähig ist. Die mehr ist als ein Wirtschaftsraum oder eine Währungsunion.
Wir Deutschen wollen eine bessere europäische Zusammenarbeit. Ein zeitgemäßes Europa. Eines, das sich seiner demokratischen Werte bewusst ist. Und seiner christlichen Wurzeln. Das für Menschenrechte, Solidarität, Toleranz und Nachhaltigkeit steht. Eines, in dem Minderheiten geschützt sind. In dem sich die Bürger nicht verloren fühlen, sondern in dem sie sich wiederfinden.
Wir wollen die gewachsene Vielfalt auch in Zukunft schützen, die vielen Heimatorte, die Europa liebenswert machen – heimatlich im besten Sinn.
Europa bietet Heimat – nicht eine Heimat, dafür ist der Kontinent zu groß und zu vielfältig. Aber jedem seine Heimat: Europa steckt von jeher voller einzelner Heimatorte, das wissen Sie selbst am allerbesten.
Heimatgefühl können weit entfernte Orte wecken, in denen Grabsteine den Namen der eigenen Familie tragen. Orte, um die Erinnerungen und Familiengeschichten kreisen. Freiwillig oder unfreiwillig verlassene Orte. Diese Orte können genauso wichtig sein, wie der Wohnort.
Sie und Ihre Familien können heute die Orte besuchen, aus denen Sie oder Ihre Vorfahren vertrieben wurden. Auch das ist europäischer Alltag. Aber es ist eben keine Selbst¬verständ¬lichkeit. 1990 öffneten sich die Grenzen zwischen Ost und West. Die Grenzen haben nach dem Ende des Kalten Krieges nicht ihren Verlauf, sondern ihren Charakter verändert. Die allermeisten europäischen Grenzen sind durchlässig – manche meinen inzwischen wieder zu durchlässig. Dass sie offen sind, hat die Verbundenheit, die es über Grenzen und ideologische Mauern hinweg in die „alte Heimat“ gegeben hatte, gestärkt. Möglich wurde ein Brückenbau, an dem viele einstige Flüchtlinge mitgewirkt haben. Dafür gebührt ihnen Respekt und Anerkennung.
Europa ist ein großes Versöhnungsprojekt. Die Geschichte der Vertriebenen steht dafür. Das macht Mut und schafft Zuversicht. Denn sie zeigt in vielfacher Hinsicht, dass es gelingen kann, sich zu verständigen, aufeinander zuzugehen. Die eigenen und die Interessen der anderen zu erkennen und eine Balance, einen Ausgleich zu finden.
Sie haben die Verbindung in ihre alte Heimat wieder aufgenommen, auch wenn es Ihnen längst nicht mehr um Rückkehr ging. Sie haben erlebt, wieviel Empathie, wieviel Zeit es braucht, um Brücken zu bauen zwischen einstigen Kriegsgegnern.
Heute gibt es sogar gemeinsame Wallfahrten. An Orte, die symbolisch für erlittenes Unrecht stehen. Im Jahr 2015 erinnerten mehr als 300 Tschechen und Deutsche an die gewaltsame Vertreibung von mehr als 20.000 einstigen Bürgern der Stadt Brünn. Die Sudetendeutschen waren 1945 ohne Wasser und Verpflegung auf einen langen Fußmarsch in Richtung Österreich getrieben worden. Tausende starben bei diesem Todesmarsch. 70 Jahre danach war ein gemeinsames Gedenken möglich. Eine Wallfahrt vom Ort eines Massengrabes in die einstige Heimatstadt dieser Menschen – ein beispielhafter Brückenbau.
Brücken tragen, wenn sie in zwei Richtungen zu begehen sind. Das zeigt der Weg, den die Vertriebenen und ihre Familien in unserer Gesellschaft und in Europa zurückgelegt haben. Sie mussten sich den Weg in die Gemeinschaft bahnen. Brücken bauen. Und jetzt stehen nicht wenige von Ihnen anderen zur Seite, die in unserem Land eine Heimat suchen. In der Öffentlichkeit ist dieser Beitrag des Bundes der Vertriebenen und von Menschen mit einem Vertriebenenschicksal wenig bekannt: In der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe sind viele von ihnen engagiert, deren Mitgefühl sich aus dem eigenen Erleben und der eigenen Familiengeschichte speist. Sie helfen, weil ihnen selbst geholfen wurde.
Ihre Geschichte lehrt uns, offen zu sein, Brücken zu bauen. Andere zu akzeptieren und zu respektieren. Ihnen zuzuhören und ihnen unsere Werte zu vermitteln und vorzuleben. Die Vielfalt der Gesellschaft.
Brückenbauen können wir nur gemeinsam. In diesem Europa, das uns so selbstverständlich scheint. Und so viel aushalten muss. Ich bin überzeugt: Wir bringen die Kraft auf, das Miteinander in Frieden zu schützen. Und die politische Einigung voranzubringen. Wenn Europa seinen Werten treu bleibt, wenn es sich seiner Geschichte stellt und wenn es auch weiterhin Brücken baut, die nicht nur in eine Richtung führen.
Dann gelingt Europa.