29.05.2018 | Parlament

„Starke Kommunen – Starke Demokratie“
Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble bei der Kommunalkonferenz im Rahmen des Hessentages 2018

Es gilt das gesprochene Wort

Es ist auch in Zeiten des rasanten Wandels nicht alles neu: Wir reden derzeit verstärkt über Heimat. Wieder einmal.
Als der legendäre Georg August Zinn 1961 den „Hessentag“ begründete, wollte er das als „Demonstration für den Heimatgedanken“ verstanden wissen – in einer Zeit, wie er betonte, „in der Raumschiffe um unsere Erde kreisen“ und „in der die Technik die Entfernungen zwischen den Welten schrumpfen lässt“. 
Technikbegeisterung und Fortschrittsoptimismus, aber auch ein Gespür dafür, was diese Veränderungen für den Menschen und seine Bedürfnisse nach Vertrautem und Gewohntem bedeuten: Beides klingt hier an. Und beides treibt uns auch heute um.
Anfang der sechziger Jahre begann man gerade erst, vom globalen Dorf zu sprechen – in der Wissenschaft. Und nicht einmal dort hat man sich damals die ungeheure Dynamik der Entwicklung vorstellen können, mit der wir alle heute konfrontiert sind, in unserem alltäglichen Leben. 
Das Tempo der Veränderung hat noch einmal angezogen. Wir erleben seit der politischen Epochenwende 1989/90 eine fast maßlose Beschleunigung des Wandels, angetrieben und verstärkt durch den technologischen Fortschritt. Globalisierung und Digitalisierung sind längst für jedermann spürbar – im Positiven wie im Negativen. Mit den schier unbegrenzten neuen Möglichkeiten gehen vielfach Ungewissheiten einher. 
Die Welt rückt immer näher an uns heran. Und sie ist für den Einzelnen doch immer weniger überschaubar – in ihrer Komplexität für die Politik auch immer schwieriger steuerbar. Diese Erfahrung löst bei den Menschen Verunsicherungen aus, sogar Ängste. Bei manchen bestärkt es die Sehnsucht nach einfachen Lösungen – von denen wir doch eigentlich wissen, dass es sie auf komplizierte Sachverhalte nicht gibt. Nicht geben kann. 

Unsere Gesellschaft wird vielfältiger und sie ist konfliktreicher. Mit der Globalisierung und durch die neuen digitalen Kommunikationsmittel lösen sich alte Bindungen auf. Viele Menschen teilen das Empfinden, dass der soziale Zusammenhalt schwindet. Auch das Unbehagen über den Mangel an wechselseitiger Toleranz unter den Gesellschaftsgruppen. 
Wissenschaftler sprechen inzwischen von unterschiedlichen, maßgeblich kulturell bestimmten Lebensstilen; von kaum mehr kompatiblen Lebenswelten, deren entscheidende Bruchstelle das Verhältnis zur globalen Welt ist: Ob man ihr mit Offenheit begegnet oder mit Furcht und Ablehnung. 
Zurecht wird nach den Folgen gefragt, wenn es immer weniger Zeit, Orte und Gelegenheiten gibt, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und kultureller Herkunft begegnen und mischen können. Wo sie miteinander kooperieren müssen.
Der Bundesinnen- und nun auch Heimatminister hat kürzlich gefordert, die Globalisierung zwinge uns zur Ortsbestimmung. Eine Konferenz von Kommunalpolitikern bietet Gelegenheit, das wörtlich zu nehmen. Um nach der Rolle der Städte und Gemeinden in diesem Prozess zu fragen. Als Orte, wo die Gesellschaft auf Sichtweite und in Zusammenhängen lebt, wie es Gustav Seibt formuliert hat. Wo die Menschen sich kennen können.

Auch wenn die örtliche Gemeinschaft Konkurrenz bekommen hat durch Online-Marktplätze und soziale Netzwerke: Der Wunsch nach Nähe und Vertrautheit besteht. Gerade in einer grenzenlosen Welt wächst das Bedürfnis der Menschen, irgendwo verankert zu sein. Zu Hause zu sein. Heimat zu haben. 
Heimat nicht nur als Rückzugsraum, als nostalgisches Idyll – den es in Zeiten der Digitalisierung sowieso nicht mehr gibt –, sondern als ein Gestaltungsraum, in dem sich die Demokratie beweisen muss: Das fordert auch die Bürger.
Die meisten von ihnen identifizieren sich nach wie vor zuallererst mit ihrer Kommune. Hier wohnen, arbeiten, leben sie. Städte und Gemeinden stärken das Gefühl von Zugehörigkeit. Und immer wieder begreifen sich Bürger als Gestalter ihrer Umgebung: Studenten, die in Berlin auf vernachlässigten Grünflächen vor ihren Mietshäusern Blumen pflanzen und Gemüse anbauen. Künstler, die in kleineren Städten mit viel Engagement private Theaterprojekte aus dem Boden stampfen. Menschen, die sich zusammenschließen und eine Regionalwährung auflegen, um damit Dienstleistung, Gewerbe und Handel vor Ort zu unterstützen: Das alles hat viel mit Enthusiasmus zu tun – und damit, dass Menschen sich mit ihrem Ort identifizieren. Ihn als Heimat begreifen – Heimat, die auch nur temporär oder auf ein Stadtviertel beschränkt sein kann. 
Dabei unterliegen auch die Städte einem Phänomen, das der Soziologe Andreas Reckwitz in der Gesellschaft beobachtet, bei der tonangebenden oberen Mittelklasse: Die Suche nach dem Außergewöhnlichen, dem Einzigartigen, der individuellen Befriedigung im Besonderen. Ähnliches erkennt Reckwitz im Bemühen von Städten und Metropolen: Im Kontrast zur Standardisierung des Urbanen zu Zeiten der industriellen Moderne gehe es ihnen heute um Sichtbarkeit und Unterscheidbarkeit. Um eine lokale Eigenlogik, die Lebensqualität und Alleinstellungsmerkmale verspricht. Die Folge sei: Sogenannte „Schwarmstädte“ ziehen die neue Mittelklasse an, unattraktive Regionen laufen Gefahr zu veröden.
Diese Entwicklung ist nicht ganz neu – die gesellschaftlichen Folgen sind aber nicht ohne Risiko. Wir können es uns gesamtgesellschaftlich nicht leisten, dass strukturschwache Städte und Gemeinden abgehängt werden. Wir müssen die Potenziale aller Regionen in Deutschland ausschöpfen – in der Stadt und auf dem Land.
Ohne lokale Verwurzelung, ohne inneren Zusammenhalt kann auch eine moderne Gesellschaft nicht dauerhaft bestehen – gerade in Zeiten eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Deshalb müssen wir den Blick für das Verbindende schärfen. Für das, was in unserer Gesellschaft Gemeinsinn stiftet. 
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, der gesellschaftliche Wandel gehört zum Leben. Aber wir können ihn gestalten. Und hier kommt den Kommunen besondere Bedeutung zu. 

Wir alle spüren es: Mit den Veränderungen gerät die repräsentative Demokratie unter Druck. Die Öffentlichkeit als Ort der gesellschaftlichen und politischen Debatte zerfällt unter dem Einfluss sozialer Medien in immer mehr Teilöffentlichkeiten – die immer weniger miteinander in Kontakt treten. 
Viele Bürger begegnen der Politik mit Misstrauen. Manche haben sich den Institutionen unserer Demokratie entfremdet. Es fehlt am Verständnis für die Notwendigkeit, Interessenkonflikten auszutragen. Für die Suche nach Kompromissen in der plural verfassten Gesellschaft. An der Bereitschaft, Komplexität zu akzeptieren, und darüber ein Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen von Politik zu entwickeln. Die Erwartungen übersteigen regelmäßig die Möglichkeiten. Klimawandel, Terrorismus, globalisierte Finanzmärkte oder weltweite Migrationsströme: Sie lassen sich nur sehr eingeschränkt im nationalen Rahmen steuern. 

Die Folgen sind zuallererst in den Kommunen spürbar. Bei Ihnen, in den Städten und Gemeinden, wird das Abstrakte konkret. Mit all seinen Problemen und Konflikten: Überalterte Regionen, soziale Spaltung, steigende Mieten, verödete Innenstädte, verschmutzte Luft in den Großstädten; der weltweite Wettbewerb um Arbeitsplätze, Konflikte im Zusammenleben mit Flüchtlingen und Zugewanderten aus anderen Kulturen. 
Lokal und global lässt sich kaum mehr trennen. Das hat in den vergangenen Jahren jeder, der in diesem Land kommunalpolitische Verantwortung trägt, handfest erfahren. Millionen Menschen fliehen vor Kriegen, Gewalt und sozialer Not im Nahen Osten, in Afrika und anderen Teilen der Welt. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Kommunen, bis in die kleinen Städte und Dörfer hinein. 
Wer bleiben kann und wer gehen muss, entscheiden die Kommunen nicht. Aber dass Flüchtlinge versorgt und untergebracht werden, dass die Kinder zur Schule gehen, dass Sprachkurse belegt, Behördengänge erledigt, dass Lehrstellen und Jobs vermittelt werden können, dass bei Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung Dialog und Ausgleich gesucht wird – all das wäre ohne die Kommunen nicht möglich. Was hier von Ihnen, von der lokalen Politik und von der Verwaltung, geleistet wird – teils bis über die Belastungsgrenze hinaus – verdient höchste Anerkennung! 
Probleme, die es fraglos gibt, auch schockierende Einzelfälle verstellen uns leider allzu häufig den Blick auf die Städte und Gemeinden, die die Herausforderung als Chance begriffen haben, die sie angepackt haben – zusammen mit einer engagierten Bürgerschaft. Wer in der breiten Öffentlichkeit weiß schon, dass es Kommunen gibt, die mehr Flüchtlinge aufgenommen haben, als sie gemusst hätten?
Ob Integration gelingt oder nicht, entscheidet sich zu einem großen Teil an den konkreten Erfahrungen, Begegnungen und Möglichkeiten vor Ort – und das gilt beiderseits: für Neuankömmlinge wie für Alteingesessene.

Kommunen sind weder Ausgangspunkt der Herausforderungen, noch kann kommunale Politik die Probleme an der Wurzel packen – und sie werden dennoch für manch vermutete oder tatsächliche Unzulänglichkeit des Gesamtstaates in Mithaftung genommen. Das ist nicht fair. Aber es zeigt Ihre Verantwortung. Als Gestalter sind Sie, die Kommunalpolitiker, unverzichtbar. Nicht im Berliner Regierungsviertel, nicht am Kochbrunnenplatz in Wiesbaden, sondern vor Ort, in den Städten und Gemeinden, zeigt sich dem Einzelnen, was der Staat zu leisten imstande ist. 
Es sind die Kommunen, in denen die Bürger zuerst Politik erleben, in denen sich entscheidet, ob Politik als der Versuch erfahren wird, Problem zu lösen. Oder eben nicht – mit der Folge, dass Verdrossenheit wächst. Deshalb kommt der Gestaltungs- und Leistungsfähigkeit der Kommunen eine entscheidende Rolle zu. Die Zufriedenheit mit der Demokratie fängt mit der Zufriedenheit der Bürger mit dem öffentlichen Leben vor Ort an. Wenn die Bürger das Gefühl haben, dass es in ihrer Kommune vernünftig, ehrlich, gemeinwohlorientiert zugeht, ist schon sehr viel gewonnen.

Zwischen örtlicher Bürgerschaft und lokaler Politik besteht eine besondere Beziehung. Sie ist unmittelbarer; ihren Bürgermeistern und Gemeindevertretern vertrauen die Menschen stärker als anderen Politikern. Ihre Arbeit wird wohlwollender beurteilt als die der Gremien auf Landes- und Bundesebene. 
Ich bin deshalb überzeugt: Wenn die Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten überwunden werden kann, dann am ehesten auf der lokalen Ebene. Hier entsteht das notwendige Vertrauen, hier kann Demokratie wieder belebt werden.

Die kommunale Selbstverwaltung ist der Kern unserer föderalen, unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Ohne selbstbestimmte Gemeinden könne es immer nur Verwaltete, nie aber Bürger geben, wusste schon Tocqueville. Bürger, die sich in eigener Regie um die Angelegenheiten ihrer Stadt, ihres Dorfes, ihrer Region kümmern. Die den Geist der Freiheit besitzen. 
Mit anderen Worten: Starke Kommunen – starke Demokratie. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Eine vitale Demokratie vor Ort ist die Grundlage starker Kommunen. 
Hier zeigt sich ein widersprüchliches Bild.
Drei Viertel der Deutschen meinen, dass die Entscheidungen ihrer Kommunen für sie persönlich wichtig oder sogar sehr wichtig sind. Und fast die Hälfte ist überzeugt, dass sie auf örtliche Belange Einfluss nehmen kann. Und doch gehört zur kommunalpolitischen Wirklichkeit, was ein Bekannter in meiner Heimat berichtete. Jemand, der sich lange im Gemeinderat seines Dorfes engagiert hat. Als er nach über zwei Jahrzehnten aufhörte, sagte er im Interview, er bereue seine Zeit im Gemeinderat nicht; er habe es gern gemacht. Aber er müsse feststellen, die Bürger würden sich mittlerweile für Kommunalpolitik nur noch interessieren, wenn sie selbst unmittelbar davon betroffen sind. Das scheint selbst in einer sehr kleinen Gemeinde so zu sein, nicht nur in Großstädten. 
Vor Ort haben Bürgerinnen und Bürger zwar einen starken Anreiz, sich mit ihren Interessen einzubringen. Sie können die Geschicke ihrer Kommune aktiv mitgestalten. Aber viele Menschen interessieren sich offenbar nur noch situativ und nur partiell politisch. 
Dieter Salomon, der langjährige Oberbürgermeister meiner Geburtsstadt Freiburg, hat kürzlich über diese paradoxe Entwicklung geklagt: Die Menschen verfügen heute über einen so hohen formalen Bildungsstand wie nie zuvor. Aber auf das kommunalpolitische Geschehen könnten sich immer weniger einen Reim machen. Weil sie zu wenig davon mitbekommen. 
Sie alle kennen genügend Beispiele: Was lange ausführlich von den Gemeindevertretern beraten und entschieden wurde – öffentlich, wohlgemerkt! –, löst Protest aus, wenn es konkret wird. Weil es erst in dem Moment den Wahrnehmungsradius der Betroffenen erreicht. Die Vorwürfe lauten dann gerne mangelnde Transparenz, Klüngel und Politik über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Der Widerstand gegen mehrheitlich beschlossene Vorhaben, die den eigenen Interessen zuwiderlaufen, wird als selbstverständlich und legitim empfunden. Ebenso wie bei anderen Gelegenheiten die landläufige Kritik an der Schwerfälligkeit von Politik und Verwaltung.

Kommunalpolitik ist in den vergangen Jahren und Jahrzehnten nicht einfacher geworden. In Städten und Gemeinden spiegeln sich die Entwicklungen unserer Gesellschaft wieder: 
Partikularinteressen, die wegen der Aufhebung der Sperrklauseln die Fragmentierung der Vertreterversammlungen erhöhen – und so die Mehrheits- und Entscheidungsfindung erschweren. 
Steigende Ansprüche und Erwartungen vieler Bürger, mit denen der Rechtfertigungsdruck der gewählten Vertreter größer wird. 
Sinkende Bereitschaft, Zeit und Energie in Kommunalpolitik zu investieren, womöglich noch stetig. Im benachbarten Thüringen fanden im April Kommunalwahlen statt. In vier Gemeinden fand sich niemanden, der für das Bürgermeisteramt antreten wollte. Auch wenn dahinter im Einzelnen unterschiedliche Gründe stehen: Dass es insgesamt schwieriger geworden ist, Kandidaten für kommunale Haupt- und Ehrenämter zu finden, ist ein Fakt. Und der muss uns beunruhigen.
Auch deshalb nutze ich die Gelegenheit gern, um zu betonen: Jeder, der in unserem Land ein kommunales Mandat übernimmt, hat Anerkennung und Respekt verdient – ob Bürgermeister, Landrat oder Mitglied der Kreis- oder Gemeindevertretung. Unabhängig von politischen und sachlichen Differenzen. 
Dass es daran nicht nur mangelt, sondern vielfach Beleidigungen, Beschimpfungen und Einschüchterungsversuche zur Normalität werden, ist unerträglich. Erst Recht, dass mancherorts Bürgermeister, Gemeindevertreter oder Mitarbeiter tätlich angegriffen werden. Dass sie Angst um ihre Unversehrtheit und die ihrer Familie haben müssen. 
Wir können und wir dürfen das nicht hinnehmen! 
Es untergräbt unsere Demokratie an der Basis. Hass und Gewalt sind kein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Wir müssen dem entschieden entgegentreten. Und mit „Wir“ meine ich uns alle: Politik, Gesellschaft, Justiz, Medien; jeden einzelnen Bürger, dem etwas an unserem freiheitlichen, vielfältigen, demokratischen Gemeinwesen liegt.

In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die parlamentarischen Entscheidungsprozesse nicht immer ausreichen, um hinreichend Vertrauen zu stiften. Aber es zeichnet die offene Gesellschaft aus, dass sie aus Fehlentwicklungen lernt und sich selbst korrigiert. 
Eine Antwort auf die Krise der repräsentativen Demokratie lautet regelmäßig: Mehr Beteiligung, früher, umfassender und offener. Vielerorts konnten damit auf kommunaler Ebene Konflikte im Vorfeld umgangen werden – oder im Verlauf geschlichtet. 
Längst ist in den Städten und Gemeinden nicht mehr die Frage, ob Bürger über Vorhaben informiert, an Planungen beteiligt oder zur Entscheidung herangezogen werden. Es geht um das Wie?, das Wobei? und das Wie oft? Zukunftswerkstätten, Bürgerpanels, Runde Tische, Stadteilforen, Nachbarschaftsgespräche, Bürgerhaushalte: Mit solchen dialogorientierten, konsultativen Verfahren wirken Kommunen als Innovationstreiber. 
Dazu braucht es interessierte Verwaltungen und aufgeschlossene Mandatsträger – und es braucht engagierte Bürgerinnen und Bürger. Aber es gibt Grenzen. Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, Kumulieren und Panaschieren bei den Wahlen zu den kommunalen Vertretungen: den dramatischen Rückgang der Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene konnte all das nicht aufhalten. Und an Bürgerentscheiden beteiligen sich in der Regel noch weniger.
Engagement und Distanz: Diese Mischung entspreche der demokratischen Wirklichkeit, sagt der Politikwissenschaftler Oscar Gabriel. Deshalb sollten wir uns trauen, auch einmal zu fragen, ob sich denn überhaupt alle immer und überall beteiligen müssen? Verbessert die Dauerpolitisierung der gesamten Bürgerschaft tatsächlich die Qualität unserer Demokratie? Reicht nicht auch, wenn diejenigen, die sich beteiligen wollen, über effektive Möglichkeiten dazu verfügen? 

Bürgerentscheide und Bürgerbeteiligung sind jedenfalls kein „Allheilmittel“ für vermeintliche oder tatsächliche Funktionsdefizite der repräsentativen Demokratie. Und sie sind auch kein Mittel der Konsensbeschaffung – selbst wenn wir das gerne so sähen, geprägt von einer politischen Kultur, die dem Streit eher abgeneigt ist. 
Vor allem kann Bürgerbeteiligung kein Ersatz für das Prinzip der Repräsentation in unserer Demokratie sein. Entscheiden müssen am Ende auch weiterhin die gewählten Vertreter. Sie sind durch Wahlen legitimiert, und sie tragen Verantwortung über den Tag hinaus. Deswegen sollten wir dafür sorgen, dass unsere repräsentative Demokratie wieder für mehr Bürger interessant wird und sie sich auch wirklich vertreten fühlen. 

Für Kommunen heißt das: Die Handlungsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung sichern. Ohne rechtliche und finanzielle Gestaltungsspielräume droht sie, ausgehöhlt zu werden. Die Realität ist doch: Zu viele Vorgaben, zu wenig Spielräume für eigene Ideen. Und erst die Finanzen! 
„Die kommunale Selbstverwaltung ist eine Farce und besteht nur noch auf dem Papier“: So drastisch fasste es kürzlich der langjährige frühere Kämmerer der Stadt Leverkusen Rainer Häusler zusammen. Man muss es nicht so schwarzsehen – und hoffentlich sehen das auch die meisten von Ihnen nicht so. Aber ernst nehmen sollten wir die Warnung! 
Eine leistungsfähige kommunale Selbstverwaltung braucht hinreichende Finanzkraft, sonst bleibt sie graue Theorie ohne eine Grundlage in der Realität. Dazu ist sie aber für die Nachhaltigkeit und Stabilität unserer demokratischen Grundordnung von zu großer Bedeutung.

Bundestag und Bundesrat werden sich demnächst mit einem Gesetzentwurf der Bundesregierung beschäftigen, der an die Reform der Bund-Länder-Finanzen in der vergangenen Legislatur anknüpft. Er ist Ausdruck einer Misere – jedenfalls für einen überzeugten Föderalisten wie mich: Damit das Geld dort ankommt, wo es für Investitionen dringend gebraucht wird – bei der Sanierung und Digitalisierung von Schulen, im sozialen Wohnungsbau und in der Verkehrsinfrastruktur – soll die Beschränkung der Finanzhilfekompetenz des Bundes zur Mitfinanzierung von Investitionen aufgehoben werden. Der Bund soll künftig nicht nur den finanzschwachen, sondern allen Kommunen und Ländern unmittelbar unter die Arme greifen können. Das ist einerseits richtig. Weil damit das ordnungspolitische Prinzip umgesetzt wird: Wer das Geld zur Verfügung stellt, soll auch über seine Verwendung entscheiden. Andererseits geht das auf Kosten einer klaren föderalen Kompetenzabgrenzung und der Eigenverantwortlichkeit der politischen Ebenen. 
Die Verflechtung von Entscheidungsebenen führt schließlich nicht selten zu einer Verwischung von Verantwortlichkeiten – und das regelmäßig zu Lasten der Übernahme von Verantwortung. Und in der Folge: Zu Lasten der Gemeinschaft. Deshalb kommt eine Kommunalrede des Bundestagspräsidenten – so wie die eines Bundesfinanzministers – nicht ohne die freundliche Erinnerung aus: Staatsorganisatorisch sind Kommunen Teil der Länder. Sie tragen die Verantwortung für eine angemessene Finanzausstattung!

Über Vor- und Nachteile des kooperativen Föderalismus und des Wettbewerbsföderalismus lässt sich endlos diskutieren. Unbestritten ist, dass wir eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Kommunen brauchen. Und dazu würde eine ausgewogene, anreizgerechtere Kombination aus kooperativen und gestalterischen Elementen am besten beitragen. Ein echter Gestaltungsföderalismus.

Die Revitalisierung unseres föderalen Prinzips der Aufteilung staatlicher Gewalt zwischen verschiedenen Ebenen unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips darf kein Lippenbekenntnis sein. Und es geht ja nicht nur ums Geld, um eine formal ausreichende Finanzausstattung. Sie, die Bürgermeister und Landräte, wissen es am besten: Wenn von Verwalten und Gestalten nur noch das Verwalten übrig bleibt und dann vielerorts als „Verwaltung des Mangels“: Woher sollen dann das Interesse und die Bereitschaft kommen, sich kommunalpolitisch zu engagieren? Wenn allein der europäischen Rechtsetzung inzwischen geschätzte zwei Drittel der für Kommunen relevanten Vorschriften entstammen: Wo bleiben dann in der Kommunalpolitik die gestalterischen Spielräume? 
Kommunen brauchen mehr eigene Gestaltungsmöglichkeiten für Ausgaben und Einnahmen vor Ort. Kommunale Selbstverwaltung kann sich nicht darin erfüllen, Aufgaben im Auftrag von Land oder Bund ohne eigene Spielräume zu erledigen – und dafür angemessen mit Mitteln ausgestattet zu werden. Um tatsächlich gestalten zu können, braucht es tatsächliche Entscheidungsverantwortung auf der kommunalen Ebene für diejenigen Fragen, die sich nicht besser auf Landes-, Bundes- oder sogar europäischer Ebene regeln lassen. Ich finde: Sie sollten über die Wahrnehmung Ihrer kommunalen Aufgaben möglichst weitgehend selbst entscheiden können, ohne dass von oben alles vorgegeben und geregelt wird. Für die finanziellen Auswirkungen Ihrer Entscheidungen müssen Sie dann aber auch Verantwortung übernehmen. Nur so lassen sich Fehlanreize vermeiden.

Wir leben in einer Welt, in der es immer mehr Entscheidungen gibt, die sich aus der nationalstaatlichen Entscheidungskompetenz heraus auf die europäische und internationale Ebene verlagern. Deshalb wird es noch wichtiger, dass wir immer wieder neu darüber nachdenken, welche Entscheidungen wir tatsächlich auf zentraler Ebene treffen müssen – und was wir stärker vor Ort entscheiden können. Das ist die entscheidende Frage in einer föderalen Ordnung.
Subsidiarität ist nicht nur ein Prinzip, das wir zurecht immer wieder in der Europäischen Union geltend machen müssen. Sie fängt bei uns an, in den Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Leider ist auch unter überzeugtesten Föderalisten noch immer die paradoxe Neigung verbreitet, sobald ein Problem groß genug geworden ist, auf zentrale, bundeseinheitliche Regelungen zu setzen – bei Bürgern und Politikern gleichermaßen. 
Dieser Tendenz in der öffentlichen Meinung müssen wir entgegenwirken! 
Kommunale Selbstverwaltung schützt vor zentralistischen Tendenzen. Sie schützt vor Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Entscheidungsträgern. Und sie schützt vor Fremdbestimmung. So stärkt sie Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie.


Meine Damen und Herren,
vor dreißig Jahren trat die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung in Kraft. Alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarats haben sie inzwischen ratifiziert. Ihr Vorläufer, die Europäische Charta der Gemeindefreiheit, hat 1953 nicht nur sehr viel kürzer, sondern auch prägnanter formuliert, worauf es letztlich ankommt: „Echte Gemeindefreiheit kann nur in einem Volke bestehen, das vom zähen Willen zur Selbstverwaltung beseelt ist.“ Das mag für unsere Ohren pathetisch klingen. Es bleibt dennoch richtig. 
Den zähen Willen zur Selbstverwaltung vor Ort immer wieder neu zu beleben und zu behaupten, auch und gerade unter den Bedingungen einer immer komplexeren Welt: Das bleibt eine beständige Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Je besser uns das gelingt, desto besser die Voraussetzungen für unser freiheitliches, demokratisches, vielfältiges Gemeinwesen. 
Anders gesagt: Starke Kommunen, starke Demokratie!

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