Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Jubiläumsveranstaltung 10 Jahre Deutscher Ethikrat
Des Menschen Würde in unserer Hand – Herausforderungen durch neue Technologien
Vielen Dank, Herr Professor Dabrock. Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Ethikrates, meine Damen und Herren,
heute ist Siebenschläfertag. Das ist kein naturwissenschaftlich begründetes Datum. Nachzuweisen sind bestenfalls statistische Unwahrscheinlichkeiten. Aber der Siebenschläfer hat im Volksglauben dennoch Jahrhunderte überlebt. Eine gefühlte Wettervorhersage aus Tradition. Unsere Existenz hängt nicht mehr an den Wetterausschlägen im Frühsommer. Anders als Landwirte vergangener Jahrhunderte und Kleinbauern in anderen Erdteilen sind wir Sturm, Regen und Hagel nicht ausgeliefert. Aber die Siebenschläferregel kennen wir doch.
Regeln geben eben Halt, Orientierung, vielleicht auch Beruhigung. Und der Siebenschläfer zeigt: Sie entspringen nicht allein der Logik, der Vernunft oder Berechnung, sondern sie enthalten einen menschlichen Faktor, und der verweist auf Erfahrung, Emotion, auch unsere Begrenztheit. Diesen menschlichen Faktor brauchen wir in einer komplexer werdenden Welt, in der Digitalisierung und Globalisierung scheinbar grenzenlose Fortschritte möglich machen.
In Ihrer Verantwortung, also der des Deutschen Ethikrates, liegt es, den Fortschritt in Wissenschaft, Medizin und Technik in den Blick zu nehmen, um uns in Gesellschaft und Politik auf Veränderungen hinzuweisen, auf Entwicklungen, die neues Nachdenken erfordern, die unser Wer-teverständnis bedrohen, die ethische Normen verletzen oder Veränderungen in der Rechtsetzung nötig machen.
Diese Aufgabe hat der Ethikrat in den vergangenen zehn Jahren erfüllt. Sie haben beachtliche Stellungnahmen zu aktuellen Fragen vorgelegt, die nicht immer mit Ja oder Nein zu beantworten sind. Das ist nicht trivial angesichts einer komplexer werdenden Welt, angesichts von Veränderungen, die längst auch globale Ausmaße erreicht haben.
Wir leben in einer Zeit, in der Vertrauen verloren gegangen ist und Autorität schwindet. Ich rede keineswegs nur von der Politik. In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht das Gefühl, der Digitalisierung, dem medizinisch Machbaren ausgeliefert zu sein. Die allermeisten Menschen können die sich selbst beschleunigenden Entwicklungen nicht nachvollziehen. Das macht vielen Angst.
Tatsächlich kann einem beim Begriff Künstliche Intelligenz bange werden. Können Algorithmen, also menschengemachte Apparate, so perfekt sie auch sein mögen, uns Menschen am Ende überflüssig machen? Was hat es für Folgen, dass heute Rechner denken lernen, wenn sie besser und schneller entscheiden, als wir Menschen es könnten? Wenn das menschliche Hirn zum Gegenstand digitaler Vernetzung wird? Was bedeutet es, wenn Maschinen wie der ins All gestartete Roboter Cimon, ein Reisebegleiter unseres deutschen Raumfahrers Alexander Gerst, künftig auch mit künstlicher emotionaler Intelligenz ausgestattet sind?
Beim Autofahren mag es die Sicherheit erhöhen, wenn austarierte Systeme mit anderen Systemen interagieren. Vor die Frage gestellt, ob der Arzt mit der Hand operieren sollte, wenn sein rechnergesteuerter Laser um ein Zigfaches schneller und präziser reagieren kann, wird dem Patienten die Antwort leichtfallen. Aber bei Wahlen ist mein Vertrauen in den Souverän immer noch größer als in programmierte Anlagen, trotz oder besser gerade wegen mancher Unberechenbarkeit.
Manipulierbar sind beide, Menschen wie Maschinen. Doch Manipulation kann in die Katastrophe führen, wie gerade wir Deutschen wissen. Es gibt genügend warnende Beispiele. Ich glaube trotzdem an Vernunft und an die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bei Menschen. Und vielleicht unterscheidet mich gerade dieser Optimismus von einem Algorithmus.
Der menschliche Faktor sollte jedenfalls, darf nicht neutralisiert werden. Wahrnehmen, lernen, entscheiden, hoffen, empfinden – das zu können macht den Menschen aus. Lassen sich diese individuellen, kulturell geprägten Fähigkeiten und Wesensmerkmale von Werten trennen? Sind Verantwortungsbewusstsein, Gewissen, Kreativität oder soziales Denken programmierbar? Dem Menschen bedeutet Freiheit viel, und für uns steht die Menschenwürde über allem. Den Wert der Freiheit oder die Würde kann man sich nicht losgelöst vom Menschen auf einer Platine, einem Datenträger, einem Rechenzentrum vorstellen. Dazu reicht meine Sachkunde, aber auch meine Fantasie nicht aus.
Das ist doch eine weitere, dem Menschen vorbehaltene Eigenart: das Bekenntnis zur Unvollkommenheit. Und das nicht zu akzeptieren birgt Gefahren, in der Wissenschaft, aber auch in der Politik. Ich zitiere oft den Dresdner Bischof Reinelt, der zum 50. Jahrestag der Dresdner Bombennacht gesagt hat: „Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist bald der Teufel los.“
Vollkommenheit ist jedenfalls das Versprechen der Tyrannen und führt in Totalitarismus. Wir dürfen unsere Freiheitsräume nicht aufgeben. Der Mensch ist zur Freiheit begabt, aber er ist auch fehlbar. Wahrscheinlich gehört beides untrennbar zusammen.
Die Freiheit ist in unserem Menschenbild keine rücksichtslose, sondern eine, die in Verantwortung für den Einzelnen die Verantwortung für den Mitmenschen mit einschließt. Der Mensch ist nur in Bindungen, in gesellschaftlichen Beziehungen denkbar. Er lebt nicht in abstrakter Einsamkeit, er kann es auch nicht. Die Frage sollte angesichts der Komplexität der Entwicklungen immer sein: Wie kann sich der Mensch behaupten in seinem Anspruch auf Freiheit genauso wie auf haltgebende Bindungen? Wie kann der Einzelne ein gelingendes Leben führen in seiner Verantwortung gegenüber den vorangegangenen wie den kommenden Generationen und in seiner persönlichen Erwartung an die Zukunft?
Lassen sich diese Kernfragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens rechnerisch lösen? Wir brauchen ethische Maßstäbe, wir brauchen sie dringend. Wir müssen uns über unser Menschenbild verständigen. Herr Harari unterscheidet Intelligenz und Bewusstsein. Die Philosophie Kants nennt Verstand und Vernunft. Die jüdisch-christliche Tradition spricht von Leib und Seele. Beide gehören zusammen, das eine geht nicht ohne das andere. Ob wir die Unterscheidungen religiös unterfüttern oder nicht – wenn die Künstliche Intelligenz diesen zutiefst menschlichen Zusammenhang zu imitieren versucht, scheint mir darin eine Grenzüberschreitung zu liegen. Herr Dabrock, Sie sehen: Eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Künstlichen Intelligenz wird in mir einen neugierigen Leser finden.
Die vergangenen zehn Jahre haben bewiesen, dass der Ethikrat aufzeigt, wo Grenzlinien überschritten oder ethische Normen angetastet werden. Er stellt und diskutiert ethische, gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und rechtliche Fragen. Sie, die Mitglieder des Ethikrates, legen den Finger in die Wunde. Sie geben uns, der Politik, wie der Gesellschaft Bewertungen und Argumente aus den unterschiedlichen Blickwinkeln an die Hand, fachkundig und natürlich kontrovers. Und diese Kontroversen braucht es.
Der Fortschritt ist eine Konstante in der menschlichen Entwicklung. Er ist keine Naturgewalt. Wir können ihn gestalten, verweigern können wir uns in der globalisierten Welt nicht. Ohne die Bereitschaft, die Komplexität der Welt des 21. Jahrhunderts anzuerkennen, kommen wir nicht weit. Der Gang der Geschichte ist ebenso wenig aufzuhalten wie der Fortschritt in Wissenschaft, Technik oder Medizin. Erst recht nicht, wenn sich dieser Fortschritt mit massiven wirtschaftlichen Interessen paart.
Wir liegen falsch, wenn wir Veränderungen nicht akzeptieren, weil wir uns fürchten. Unsere Gesellschaft sollte Innovationen offen gegenüberstehen, Risiken abwägen, Chancen nutzen. Wir brauchen neugierige Forscher und mutige Vordenker. Aber wir brauchen auch Vernunft und Verantwortungsgefühl. Und um die Zukunft menschlich und damit intelligent zu gestalten, brauchen wir Ihr Urteil zu ethischen Fragen genauso wie den Erkenntnisgewinn aus der Grundlagenforschung.
Deutschland hat eine bedeutende Wissenschaftstradition. Wir leben auch vom Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, nicht gegen die Wissenschaft, sondern mit ihr. Und wir wollen nicht stehen bleiben. Schon jetzt vollziehen sich bestimmte Entwicklungen in anderen Teilen der Welt schneller, bisweilen rücksichtsloser. Es braucht offene Diskussionen und am Ende in der Biotechnologie oder der Genforschung vielleicht auch mal ein klares „Nein, mit uns nicht“, um unsere Werte zu erhalten. Die Politik hinkt in der Rahmensetzung oft hinterher. Ich glaube übrigens, dass es gut ist, wenn die Politik in der Rahmensetzung immer ein Stück hinterherkommt und nicht vorauseilt; das kann nur schiefgehen.
Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft und wird unser Zusammenleben weiter verändern. Also sind wir jetzt in der Politik dabei, zu versuchen, den Rahmen nacheilend zu setzen. Am Beispiel der unbeschränkten digitalen Kommunikation zeigt sich übrigens, wie schwierig das ist, zumal bei fortlaufenden Neuerungen, wo wir im Tempo oft gar nicht mitkommen.
Mit der breitgefächerten Fachkompetenz seiner Mitglieder aus Theorie und Praxis ist der Ethikrat ein wichtiges Scharnier zwischen Politik und Fachwelt und ein Katalysator für gesellschaftlich relevante Debatten über Werte und Normen.
Normierungen durch den Gesetzgeber stehen immer am Ende von Debatten, nicht nur im Parlament oder am Kabinettstisch. Sie berühren im Übrigen Grundlagen der Demokratie.
Wie führen wir künftig diese Debatten? Wer ist an Diskussionen beteiligt, wenn es um ethische Fragen geht? Auch das scheint mir eine eigene ethische Frage zu sein. Wo die Expertise liegt (besonders bei Ihnen) und wo politische Entscheidungen getroffen werden (bei uns im Bundestag), das lässt sich leicht beantworten.
Schwieriger ist es, nach Betroffenen und nach dem Gemeinwohl zu fragen. Wie werden wir dem Verlangen der Öffentlichkeit nach mehr Beteiligung gerecht? Wie findet wir in einer pluralen, individualisierten Gesellschaft Autorität, Vertrauen oder bessere Verfahren, akzeptierte Diskussionsforen zum Beispiel über grundlegende Veränderungen, wie sie die Künstliche Intelligenz bewirken wird?
Obwohl wir Deutschen auf die Demokratie, den Parlamentarismus stolz sein können, auch darauf, dass unabhängige Ratgeber wie der Ethikrat Gehör finden, herrscht doch vielfach Unbehagen. Es ist auch hier ein Gefühl des Ausgeliefertseins zu bemerken, Vertrauensverlust, Misstrauen und Zweifel. Zweifel ist menschlich. In der Politik ist er manchmal weniger beliebt, aber in der Wissenschaft ist er entscheidend für das Vorwärtskommen.
Deutschland ist im besonderen Maße an ethischen Leitlinien in der Forschung interessiert, und das aus gutem Grund. Wir wissen, wohin Gewissenlosigkeit und ideologischer Fortschrittsglaube führen können. Die ethischen Grundsätze, die wir über Jahrhunderte entwickelt haben, behalten ihre Gültigkeit. Wir schützen die Forschungsfreiheit, aber wir schützen vor allem die Würde des Menschen. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Deutsche Ethikrat den komplexen Fragen von Künstlicher Intelligenz, Bioethik oder Hirnforschung zuwendet, um technische Revolutionen entlang verbindlicher Maßstäbe gestalten zu können.
Noch einmal: Erreichen werden uns die Entwicklungen, ob wir wollen oder nicht. Deswegen sollten wir das Wie und nicht das Ob neuer Entwicklungen diskutieren.
Der Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung hat jüngst gesagt: Einen Ethik-TÜV kann es nicht geben. Damit hat Armin Grunwald Recht. Er hat auch recht mit seiner Feststellung: Ethik kann nur Hilfe zum Selbstdenken sein. Denken erfordert Übung und Anstrengung. Und dabei wird nie eine Ziellinie erreicht. Es gibt in ethischen Debatten keinen Endpunkt, es kann ihn nicht geben. Aber wir haben unverrückbare Grundsätze, und aus ihnen erwächst Verpflichtung, sich immer wieder mit neuen Entwicklungen und neuen ethischen Fragen auseinanderzusetzen.
Deswegen bin ich Ihnen, dem deutschen Ethikrat, dankbar für die vielen Denkanstöße. Ich sehe weiteren entspannt-gespannt entgegen und wünsche Ihnen für Ihre Arbeit viel Freude und uns allen den sich daraus ergebenden Erfolg für die Würde des Menschen in diesen aufregenden Zeiten.