12.07.2018 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Ausstellung „Demokratie wagen? Baden 1818-1919“

Es gilt das gesprochene Wort

Karl Marx war kein Badener. Daran ändern auch die Flitterwochen nichts, die er in Baden-Baden verbracht hat. Aber er teilt sein Geburtsjahr mit der Verkündung der ersten badischen Verfassung, dem Anlass für diese Ausstellung.

Das war 1818 – vor 200 Jahren. 
Drei Jahrzehnte später, als Marx mit dem Kommunistischen Manifest im Gepäck auf die große politische Bühne trat, galt diese Verfassung längst als Inbegriff einer besonderen badischen Libertät. Sie begründete den verfassungspolitischen Modernisierungsvorsprung des deutschen Südwestens, von dem Historiker heute sprechen. 
Marx‘ Mitstreiter Friedrich Engels hatte dagegen noch gespottet, das höchste badische Ideal sei immer die kleine bürgerlich-bäuerliche Republik nach Schweizer Vorbild geblieben, ein (Zitat) „Arkadien höchster Erniedrigung“. 

Das ist starker Tobak. Und diese Ausstellung belegt überzeugend das Gegenteil. 
Sie zeichnet über ein Jahrhundert den nicht immer gradlinigen Weg des badischen Konstitutionalismus nach. Und sie folgt bedeutenden Badenern, die dabei vorangingen – für ihre Heimat, für einen universellen Wert: die Freiheit. Und am Ende: Für das Wagnis Demokratie.

Die badische Verfassung war nicht das Ergebnis einer deutschen Revolution, im Gegenteil. Sie steht am Ende einer Reformzeit, eines defensiven Umgestaltungsprozesses von oben in ganz Süddeutschland. Erdacht von durchsetzungsstarken aufgeklärten Beamten – unter ihnen Sigismund von Reitzenstein, der als Wahl-Badener fränkischer Herkunft Spiritus rector und Vollstrecker der hiesigen Reformen war. Er gilt deshalb zu Recht als Begründer des modernen Badens. 
Natürlich war auch die Verfassung von 1818 immer noch eine Antwort auf die Druckwellen der Französischen Revolution – noch dazu in einem Staatsgebilde, das seine Existenz allein Napoleon verdankte, dem Zerstörer des Heiligen Römischen Reichs und Begründer zahlreicher deutscher Mittelmächte.
Insofern stimmt für Baden beides: Am Anfang war Napoleon. Und: Am Anfang war keine Revolution – diese längst sprichwörtlichen Leitsätze, mit denen sich die bedeutenden Historiker Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler einst befehdeten. 
Hier im Südwesten erkennen wir besonders gut, was für das moderne Deutschland im Ganzen stimmt: Wir verdanken es in gewisser Hinsicht unseren französischen Nachbarn. Und wir lernen, was bis heute zutrifft: Gesellschaftspolitische Fortschritte werden vor allem in und durch Krisen erreicht. Unter Druck.
1818 – das ist ein Jahr mitten in der sogenannten Sattelzeit, dem gesellschaftlichen und politischen Übergang zur Moderne. Eine Phase gewaltiger Umbrüche, die Grundlagen legte für die konstitutionell-monarchische Ordnung und für den bürgerlichen Liberalismus im 19. Jahrhundert. 
Hier setzt die Ausstellung ein – und schlägt den Bogen bis zum Ersten Weltkrieg, der diese Grundlagen so stark erschütterte, dass an seinem Ende die Throne reihenweise stürzten: in Europa, in Deutschland und auch in Baden. Damit verbanden sich große demokratische Erwartungen und – wie wir heute wissen – unerfüllte Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden. 

Beide historischen Wegscheiden eint die immense Beschleunigung der Entwicklungen. Sie war prägend für die Wahrnehmung der Menschen damals. 
Von einer „Zeit im Gebährstuhle“ sprach ein Augenzeuge zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Ereignisse eines einzigen Jahres hätten zu anderer Zeit und unter anderen Umständen gereicht, ein halbes Jahrhundert auszufüllen. Nicht anders dachten viele Menschen in den spannungsvollen Monaten nach Ende des Ersten Weltkriegs.
Das klingt vertraut. Ein Teil unserer Faszination für beide Epochen rührt womöglich genau daher: Das Erleben eines beschleunigten, tiefgreifenden Wandels ähnelt doch der heutigen Erfahrung. Unter gänzlich anderen Bedingungen natürlich. 
Aber wir begegnen den rasanten Veränderungen im Zeichen der Revolutionen unserer Zeit, von Globalisierung und Digitalisierung, ja mit der gleichen Mischung aus Ungewissheit, auch einem Gefühl des Unbehagens vor der Zukunft – und der Einsicht in die Notwendigkeit, diese offene Zukunft gestalten zu müssen. Sie gestalten zu können, wenn wir es wollen.

Wandel ist immer. Auch zwischen 1818 und 1919 erlebten die Menschen schwerwiegende politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen: Der deutsche Nationalstaat entstand; die Industrialisierung revolutionierte die Produktions- und Arbeitswelt; neben dem Bürgertum entwickelte sich mit der sozialen Frage die organisierte Arbeiterschaft als neue gesellschaftlich treibende Kraft in der Politik. 
Die Ausstellung zeichnet all das am Beispiel Badens nach. 
Der Fokus liegt auf den verfassungsrechtlichen Entwicklungen. Mit Recht. Denn die Auseinandersetzungen über die Grundlagen des Staates spiegeln immer die wichtigsten Zeittendenzen wider. 
Die Gegenüberstellung der badischen Staatsordnung von 1818 und der von 1919 verdeutlicht den historischen Entwicklungsgang vom monarchischen Prinzip zum republikanischen. Von der ‚von oben‘ oktroyierten Verfassung mit liberalem Anstrich zur demokratischen Verfassung, die sich die Badener in einer Volksabstimmung selbst gegeben haben. 
Das war übrigens das erste Referendum in Deutschland überhaupt, noch dazu ein erfolgreiches. So gesehen stehen die Bemühungen der heutigen Landesregierung um mehr partizipative Demokratie in einer langen badischen Tradition der Bürgerbeteiligung. Immerhin votierten damals 90 Prozent der abstimmenden Badener für die Verfassung – 
allerdings bei einer Wahlbeteiligung von gerade einmal 35 Prozent. 
Schon damals war also die Diskrepanz zu beobachten zwischen der lautstarken Forderung nach mehr Beteiligung und der deutlich geringer ausgeprägten Bereitschaft, solche Angebote am Ende auch wahrzunehmen. Manches ändert sich offenkundig nie.

Springen wir zurück ins Jahr 1818 – in die Phase der Neuordnung Europas nach dem Sturz Napoleons. Sie bot den alten Gewalten noch einmal die Möglichkeit zur Restauration ihrer Herrschaft. Aber das Echo der Französischen Revolution blieb unüberhörbar – besonders stark im Südwesten. Hier war der französische Einfluss früher und mit dem Code civil unmittelbarer gewesen. Und hier hatte Napoleon territoriale Fakten geschaffen. 
Südlich der Mainlinie ragen die beiden neuen Königreiche Bayern und Württemberg markant heraus – und nicht zuletzt das zum Großherzogtum aufgestiegene Baden.
Sie alle waren fortan souveräne Staaten – auch wenn sie eingebunden blieben: zunächst in Napoleons Rheinbund, später dann in den Deutschen Bund. Der Kaiser als Quelle aller Hoheitsrechte war verschwunden. An die Stelle der überkommenen Fürstensouveränität trat die moderne Form der Staatssouveränität. Sie war nicht nur nach außen zu vertreten, sondern auch nach innen zu bekräftigen. Durch eine effektive Verwaltung – und im Frontalangriff auf die feudale Gesellschaftsordnung. 
Der Historiker Paul Nolte spricht in diesem Zusammenhang von der Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Und die trug ambivalente Züge, wie auch Thomas Nipperdey betont hat: 
Grundlegung einer bürgerlichen Gesellschaft einerseits und Durchsetzung des Staates gegen das Ancien Régime andererseits, ein Stück individuelle Freiheit der Untertanen und ein Stück Gleichheit: das gehöre zusammen und bilde die Dialektik der bürokratisch-etatistischen Reformen dieser Zeit.

Auch die am 22. August 1818 von Großherzog Carl oktroyierte badische Verfassung steht für zweierlei: für den ungebrochenen Souveränitäts-anspruch des Fürsten, seinen Untertanen eine Verfassung zu geben, und für die freiwillige Beschneidung eben dieser Souveränität.
Die Macht des Monarchen war fortan eingeschränkt, die Bürger erhielten ein Mitspracherecht – das bedeutete den Bruch zum absolutistischen Zeitalter. Aber von der Volkssouveränität, die uns heute so selbstverständlich erscheint, war man auch in Baden damals noch weit entfernt. 
Die von Reitzenstein vorangetriebene und von Karl Friedrich Nebenius formulierte Verfassung ist mit 83 Paragraphen genau halb so lang wie das Grundgesetz – und nur unwesentlich kürzer als die heutige baden-württembergische Landesverfassung. Immerhin zwei Drittel der Bestimmungen waren der Ständeversammlung gewidmet. Das spiegelt die Bedeutung, die fortan dem Parlament auch in der bürgerlich-liberalen Verfassungsbewegung zukam.
In der Zweiten Kammer war als badische Besonderheit bereits jedes ständische Element verschwunden. Ein echtes parlamentarisches System wurde allerdings nicht etabliert. Der Großherzog hatte das Recht die Kammern einzuberufen, zu vertagen oder aufzulösen. 
Die Verfassung war trotzdem eine der modernsten, fortschrittlichsten und freiheitlichsten ihrer Zeit, ausgestattet mit einem eigenen Grundrechtekatalog. 
Diese badische Vorreiterrolle unterstreicht der erste eigenständige Parlamentsbau in Deutschland, das Ständehaus hier in Karlsruhe, bejubelte von Johann Peter Hebel als „Tempel des Vaterlandes“. 
Im Zweiten Weltkrieg wurde er zerstört und nicht wieder aufgebaut – im Unterschied zum Schloss. Das muss man nicht überbewerten. Aber es zeigt doch einen Mangel an Sensibilität mit unserer eigenen Demokratiegeschichte. Und es ist gut, dass wir ihn langsam überwinden.

Die eigentliche Leistung der Verfassung von 1818 liegt auf einem anderen Gebiet: Der Reichsdeputationshauptschluss hatte in Baden zu einer Vervielfachung des Territoriums geführt. Der neue Staat erstreckte sich bei einer Ost-West-Ausdehnung, die mancherorts nicht über 20 Kilometer hinausging, von Nord nach Süd über immerhin 300 Kilometer. 
Er umfasste zahlreiche ehemals selbstständige Territorien. Ein Flickenteppich – noch dazu mit konfessionellem Sprengstoff. Schließlich waren zwei Drittel der Bevölkerung Katholiken, die sich plötzlich unter einer protestantischen Krone vereint sahen. 
Die Herausforderung, auch sie zu treuen Untertanen zu machen, hat der Journalist Ralph Bollmann am Beispiel des benachbarten Württembergs überspitzt so beschrieben: Die Gründung einer Fakultät für katholische Theologie an der Universität Tübingen, also ausgerechnet an der einstigen Hochburg des Pietismus, sei ein kaum geringeres Sakrileg gewesen, als heute der Bau einer Großmoschee in einem kleinbürgerlichen Wohngebiet.
Richtig ist: Vielfalt – dieser oft strapazierte Begriff trifft auf das damalige Baden tatsächlich zu. Politisch bewertet hieß das: Es war ein Staat zunächst noch ohne Identität. 
Dass sich gleichwohl ein badisches Bewusstsein entwickelt hat, auch eine Bindung an den Staat, ist Ausdruck gelungener Integration, wie wir heute sagen würden. Durch administrative Vereinheitlichung und durch eine Verfassung – als Klammer, die die Gesellschaft zusammenhält. Sigismund von Reitzenstein hatte die Notwendigkeit für beides erkannt, seinen Großherzog davon überzeugen können und es erfolgreich umgesetzt.
Die Villa Reitzenstein in Stuttgart, heute der Amtssitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, erzählt trotzdem nur etwas über verzweigte Abstammungslinien eines deutschen Adelsgeschlechts und verweist nicht auf diesen prominenten badischen Reformer – als Würdigung seiner historischen Leistung. Oder sogar als Symbol in der schwäbischen Metropole für die Integration des altbadischen Teils in das 1952 nur mühsam geschaffene Bundesland. Der jahrelange leidenschaftliche Kampf der Altbadener für die Eigenständigkeit belegt jedenfalls, wie sehr sich über die anderthalb Jahrhunderte eine eigene badische Identität herausgebildet hat.
Bereits für den Freiburger Staatsrechtler Karl von Rotteck war die Verfassung von 1818 nichts weniger als die „Geburtsurkunde des badischen Volkes“ – ich zitiere ihn: „Wir waren Baden-Badener, Durlacher, Breisgauer, Pfälzer, Nellenburger, Fürstenberger, wir waren Freiburger, Konstanzer, Mannheimer: ein Volk von Baden waren wir nicht. Fortan aber sind wir Ein Volk, haben einen Gesamtwillen und ein anerkanntes Gesamtinteresse, d. h. ein Gesamtleben und ein Gesamtrecht. Jetzt erst treten wir in die Geschichte mit eigener Rolle ein.“
Große Worte. Zur historischen Wahrheit gehört allerdings: Gefestigt war die neue Ordnung nicht. Noch zwischen Bekanntmachung der Verfassung und der ersten Sitzung des neuen Landtages machte ein Mord in Mannheim weitreichenden liberalen Hoffnungen früh den Garaus: Das Attentat des Theologie¬studenten Karl Ludwig Sand auf August von Kotzebue, der als Generalkonsul in russischen Diensten tätig war, wuchs sich zur politischen Tragödie aus, weil er den Anlass für die Karlsbader Beschlüsse bot. Im Deutschen Bund wurden Meinungs- Presse- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Die Zeichen standen fortan wieder auf Restauration statt Reform. 

Enttäuschte Liebe löst bekanntlich die heftigsten Reaktionen aus. Nicht anders: Geweckte politische Erwartungen, die uneingelöst bleiben. Deshalb kann kaum verwundern, dass sich der Südwesten zu einem Hauptschauplatz der bürgerlichen Freiheitsbewegung im Deutschen Bund entwickelte. 
Im Vormärz. 
„Ohne Preßfreiheit giebt es gar keinen[n] Staat, sondern bloß einen großen Volkskerker, den einzelne Bevorrechtigte nach Belieben öffnen und schließen können“: Dieses Verdikt Johann Adam von Itzsteins setzte den Ton für einen jahrzehntelangen Kampf.
Itzstein ist nur eine der biografischen Wiederentdeckungen, zu der diese Ausstellung einlädt – eine Ausnahmeerscheinung im süddeutschen Liberalismus: Bereits in der Mainzer Republik 1793 politisiert, führte sein parlamentarischer Lebensweg über die Zweite badische Kammer bis in die Frankfurter Paulskirche. Dort hat er 1848 noch immer einflussreich im Hintergrund gewirkt. 
Itzstein gehört zur liberalen Ahnengalerie unserer Nation. Sie wird mit dieser Ausstellung und ihrer Begleitpublikation ins breitere öffentliche Bewusstsein zurückgeholt. Das ist ein lohnendes Unterfangen: Denn wir Deutschen können auf eine eigene Demokratie- und Freiheitstradition zurückblicken. 
Voran wir Badener.

Ein zentrales Ereignis auf dem Weg zur Revolution darf hier nicht unerwähnt bleiben – erst recht nicht von mir: Die Offenburger Versammlung 1847. Eines der wichtigsten Treffen des Vormärz. 
Die Stadt wurde zu ihrem Schauplatz übrigens nicht allein deshalb, weil es mit der Gaststätte Salmen dort eine so wunderbare Lokalität gab – und als Veranstaltungsort noch immer gibt. Vielmehr lag sie verkehrsgünstig und war mit der Eisenbahn gut zu erreichen. Die war erst wenige Jahre zuvor eingeweiht worden. Mobilität und ihr Einfluss auf die Politik – auch das hat Geschichte!
In Offenburg kamen Angehörige einer radikaleren Strömung des süddeutschen Liberalismus zusammen. Auf Initiative Friedrich Heckers und Gustav Struves. Aber sie nannten sich „entschiedene Freunde der Verfassung“ – und standen mit ihren Forderungen nach Meinungsfreiheit und dem Ende der Pressezensur tatsächlich auf dem Boden der verfassungsrechtlichen Zugeständnisse von 1818.
Trotzdem meldete ein Spion seinem badischen Großherzog, die ganze Versammlung habe vom „Revolutionsfieber ergriffen vibriert“. Und ein elsässischer Zeitgenosse verstieg sich zur Bezeichnung Offenburgs als „badisches Bethlehem“ – weil hier die Heilsbringer der Revolution geboren würden. 
Zur irdischen Wahrheit gehört: All zu viele Jünger fanden sie im Volk dann doch nicht. Der große Aufstand in der bäuerlichen Bevölkerung blieb aus, als es nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirche 1849 darum ging, die revolutionären Errungenschaften mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
Vergeblich, wie wir wissen.
Trotzdem hat Klaus Harpprecht das badische Selbstverständnis schon recht gut getroffen, als er – ausgerechnet als Schwabe! – feststellte, die Badener verstünden eben einfach mehr als andere von einer kämpferisch erworbenen und zu verteidigenden Demokratie. Ich zitiere ihn: 
„Der Mut nicht nur zur geistigen, sondern zur handfest politischen Revolution..., diese Bereitschaft zum Opfer unterschied sich scharf von den Rückzügen in die hehren Abstraktionen der Philosophen und Theologen in Tübingen – oder der Konversion zur kleinkapitalistischen Tüchtigkeit, die im schwäbischen Herzland ein Fabrikle um das andere aus dem Acker wachsen ließ.“ 
Nochmal: Das sagt ein Schwabe!

Wichtiger war womöglich noch dies: Baden blieb immer ein Verfassungsstaat, über alle politischen Winkelzüge des 19. Jahrhunderts hinweg. Und es blieb ein Hort des Liberalismus. 
Hier blühte eine breite Presselandschaft, hier wurden weite Kreise der Bevölkerung politisiert. Die Öffentlichkeit des Großherzogtums war im Kaiserreich zudem erfahrener mit dem parlamentarischen System als andere – und hatte ihnen auch voraus, dass die Sozialdemokratie politisch stärker eingebunden wurde.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass mit Prinz Max von Baden an der Epochenscheide zwischen Monarchie und Republik ausgerechnet der badische Thronfolger als Hoffnungsträger für die Parlamentarisierung des Reichs erschien. Das war zwar ein Missverständnis, wie eine frühere Ausstellung des Generallandesarchivs eindrucksvoll gezeigt hat – und wie ich bei ihrer Präsentation in Berlin bereits betont habe. 
Wiederholen möchte ich allerdings noch einmal den Hinweis, dass der Südwesten eben schon damals ein Musterländle war. Und dass Musterland vom badischen Teil des Landes kommt: Das sollte nach dieser Ausstellung auch dem Letzten klar geworden sein.

1918 brach die „wunderlichste aller Revolutionen“ aus, so jedenfalls sah es ihr Augenzeuge Arthur Rosenberg – nicht deshalb, weil sie ihren Anfang einmal nicht im Südwesten nahm, sondern von der See zu Land kam. „Wikingerstrategie“ nannte das in Berlin Harry Graf Kessler mit dem sicheren Instinkt für die Pointe.
Der notierte damals in sein Tagebuch: „Mir griff es doch an die Gurgel, dieses Ende des Hohenzollernhauses; so kläglich, so nebensächlich, nicht einmal Mittelpunkt der Ereignisse.“ Kaum anders ging es in Karlsruhe zu. Wenige Jahre zuvor hatte der Tod des langjährigen Großherzogs Friedrich I. in der Bevölkerung noch eine kollektive Trauer ausgelöst. 
Nun brauchte es gerade noch die sogenannte Karlsruher „Köpenickiade“, einen stümperhaften Sturm auf das Schloss, um die großherzogliche Familie in die Flucht zu schlagen. 

Eine andere bemerkenswerte Kuriosität im Revolutionsgeschehen ist der „Wohlfahrtsausschuss“, der sich im November 1918 in Karlsruhe bildete. Er weckt zwangsläufig Assoziationen zum Terreur der Französische Revolution unter Robespierres. Doch im Gegensatz zu seinem historischen Vorläufer sorgte der Karlsruher Wohlfahrtsausschuss gerade nicht für eine Radikalisierung der Revolution. Im Gegenteil: 
Das aus Sozialdemokraten und linksliberalen Kräften gebildete Komitee wollte die von den Arbeiter- und Soldatenräten ausgelöste Revolution bändigen. 
In Baden überwog eben wie im Rest des Reichs die alte deutsche Revolutionsskepsis. Der Heidelberger Friedrich Ebert soll sie gegenüber Max von Baden besonders deutlich zum Ausdruck gebracht haben, als er 1918 über die drohende Revolution sagte: „Ich will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Pest.“

In der begrifflichen Nähe des Wohlfahrtsausschusses zur Französischen Revolution schließt sich der Kreis zum Beginn des badischen Konstitutionalismus, der vom Nachbarland nicht zu trennen ist. 
Die Verfassung von 1919 machte Baden zur Republik – langlebig war sie nicht. So wie die neue demokratische Ordnung in ganz Deutschland. Die fatalen Folgen, die das hatte, kennen wir. 

Meine Damen und Herren,
Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es – und wenn doch, spottete Marx, dann allenfalls als Farce. Aber die Zukunft kann nicht wirklich gestalten, wer die Vergangenheit nicht kennt. Man gewinnt aus ihr natürlich keine konkrete Handlungsanleitung. Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt, der übrigens auch vor 200 Jahren geboren wurde, hat es so ausgedrückt: Man werde durch historische Erfahrung nicht sowohl klug für ein andermal als weise für immer – wobei es mir schon reichen würde, dieselben Fehler nicht zwei Mal zu begehen.

Die Mütter und Väter der Landesverfassungen und des Grundgesetzes haben in diesem Sinne die Lehren aus der verhängnisvollen Geschichte gezogen, die auf das Scheitern der Weimarer Republik folgte. Sie suchten den demokratischen Neubeginn – und standen doch in der Tradition des deutschen Konstitutionalismus. Damit schufen sie die Grundlage für eine historisch einzigartige Phase von Frieden, Freiheit und politischer Stabilität.
Sie ist uns, als Badenern und als Bürgern dieses Staates, Verpflichtung.

Der freiheitlich verfasste Staat ist ein Staat mit begrenzter Machtfülle. Das ist Voraussetzung für ein Leben in Freiheit. Staatliche Allzuständigkeit würde zu einer Überforderung des Staates und einer Unterforderung der Gesellschaft und ihrer Bürger führen. 
Die badischen Reformer mögen das noch anders gesehen haben. 
Aber unsere freiheitliche Ordnung lebt davon, dass die Bürger eigenverantwortlich mit Blick auf das allgemeine Wohl handeln. Freiheit und Verantwortung müssen Hand in Hand gehen. 
Verfassungsrecht ist das eine, Verfassungswirklichkeit das andere. Die Ordnung müssen wir mit Leben füllen. Wir alle, Wähler und Gewählte. Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann: So hat es der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde gesagt – von 1977 an bis zu seiner Emeritierung 1995 auf einem Freiburger Lehrstuhl tätig und damit längst auch ein Wahl-Badener, der heute in Au bei Freiburg lebt. 
Die Menschen müssen also eine gemeinsame Vorstellung vom Leben und vom Zusammenleben entwickeln, wenn sie freiwillig in einem freiheitlich organisierten Staat vereint sein wollen. Diese Grundlagen müssen wir uns bewahren. Es braucht Orientierung an Maß und Mitte, die Vermeidung von Übertreibungen und die Besinnung auf das bonum commune unserer Republik, den Einklang von Freiheit und Verantwortung.
Wachsende Vielfalt, Flexibilisierung, Digitalisierung und Mobilität dürfen nicht dazu führen, dass wir das Bewusstsein für das Ganze aufgeben. Wir müssen uns einen Vorrat an Gemeinsamkeit bewahren, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen und neue Herausforderungen nicht bewältigen kann. Wer sich nirgendwo zugehörig und aufgehoben fühlt – sei es in der Familie, in seiner Stadt, seiner Region, seinem Land –, der wird sich schwer tun, Verantwortung zu übernehmen und sich für ein Anliegen zu engagieren. Für sich und für die Gemeinschaft. Deswegen ist jede freiheitliche Gesellschaft auch auf Identifikation angewiesen, auf Vorbilder, Empathie, gemeinsame Werte – und auf gemeinsame Erinnerungen.

Meine Damen und Herren,
das 19. Jahrhundert ist uns vor allem unter der Überschrift des Scheiterns und der verhängnisvollen Entwicklungen präsent: gescheiterte Revolution, gescheiterte Parlamentarisierung, gescheiterter Liberalismus, gescheitertes politisches Bürgertum, gescheiterte „Verwestlichung“. 
Dafür gibt es gute und überzeugende Gründe.
Wer diese Ausstellung besucht und am Beispiel Badens einen genaueren Blick auf die Entwicklungen in den einzelnen deutschen Staaten wirft, wird ein differenzierteres Bild von der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte gewinnen: 
Mit geglückten Reformen und fortschrittlicher Staatsmodernisierung. Und er wird große Persönlichkeiten wiederentdecken, die in Baden wirkten und mutig voranschritten: Staatsrechtler vom Schlage Rottecks und Welckers, Revolutionsführer wie Friedrich Hecker und Gustav Struve, liberale Parlamentarier wie Johann Adam von Itzstein oder die Abgeordneten der Familie Bassermann.
Sie stehen noch immer zu sehr im Schatten. Und wenn diese Ausstellung dazu beiträgt, das zu ändern, hätte sie ihren Zweck erfüllt. 
In diesem Sinne wünsche ich ihr hier in Karlsruhe und bei allen weiteren Stationen noch viele Besucher und danke allen, die zu dieser wichtigen Schau beigetragen haben.
Ihnen allen wünsche ich noch einen interessanten Abend.

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