24.09.2018 | Parlament

Festrede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: „Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie“
beim 13. Tag der Talente

Es gilt das gesprochene Wort

„Man muss jung sein, um große Dinge zu tun.“ Das hat jedenfalls Goethe gemeint. Ganz recht hatte er damit wohl nicht: Er selbst hat bis ins hohe Alter große Dinge getan und gilt uns als einer der bedeutendsten deutschen Dichter. Aber auch Goethe ist nicht als literarisches Genie auf die Welt gekommen.

Talent haben – ist das eine. Aber Talent zu nutzen, an ihm zu arbeiten und mit ihm zu wachsen – das ist etwas anderes. Sie sind heute hier, weil Sie genau dies getan haben. Sie gehören zu den Besten!

Nicht immer fallen Talent und Neigung zusammen. Als ich jung war, ein bisschen jünger als die meisten von Ihnen, wollte ich Fußballer werden. Ich habe gar nicht mal so schlecht gespielt in meinem Heimatverein, dem VfR Hornberg. Aber ein überragender Spieler wäre aus mir beim besten Training wohl nicht geworden. Zum Glück hatte ich noch andere Interessen und Begabungen. Trotzdem: Dass die Politik einmal mein Beruf und meine Berufung werden würde, habe ich damals nicht geahnt. Und wohin mich die Politik eines Tages führen würde, welche spannenden, verantwortungsvollen Aufgaben auf mich als Abgeordneter, Minister und heute als Präsident des Deutschen Bundestages warten, auch nicht.

Zwischen Ihnen und mir liegen Generationen – man könnte fast sagen: Welten. Und doch teilen wir eine wichtige Erfahrung: das Glück, in Frieden und Freiheit in einem der reichsten und sichersten Länder der Welt zu leben. Die meisten von uns haben nie etwas anderes kennengelernt. Das ist gut so. Und vielleicht doch ein Problem: Wir haben verlernt, uns darüber zu freuen, es zu schätzen. Das Wertvolle ist uns selbstverständlich geworden: das Recht so zu leben, wie es uns gefällt, unsere Meinung frei zu sagen, wählen zu gehen; die Garantie der Menschenrechte; der Schutz vor staatlicher Willkür; die Segnungen des Sozialstaates. Nicht zuletzt: die offenen Grenzen in Europa und all die unendlichen Möglichkeiten, die Ihnen die Welt heute bietet.

Aber nichts davon ist selbstverständlich, nichts auf ewig festgelegt. Um das zu begreifen, reicht ein kurzer Blick in die deutsche Geschichte, in der es die Demokratie nicht immer leicht hatte. Sie wissen das, zumal nach Ihrem Besuch in der parlamentshistorischen Ausstellung im Deutschen Dom.

1918, vor genau einhundert Jahren, war mit dem Ende des verheerendes Ersten Weltkrieges auch das deutsche Kaiserreich zugrunde gegangen. Deutschland erlebte eine Revolution und wurde zur parlamentarischen Demokratie. Doch die Weimarer Republik, die demokratischen Hoffnungen fanden mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ein jähes Ende.

Für das Scheitern der Weimarer Republik gibt es viele Gründe. Der wichtigste: Es gab nicht genug überzeugte Demokraten. Zu wenige erhoben ihre Stimme, um die parlamentarische Demokratie gegen ihre Feinde von rechts und links zu verteidigen.

Heute sind die allermeisten von den Vorzügen der Demokratie zumindest in der Theorie überzeugt und wollen sie durch kein anderes System ersetzen. Unzufrieden sind dennoch viele. Vertrauen in politische Institutionen geht verloren. Parteien, die an demokratischer Politik wenig Interesse haben, haben an Zustimmung gewonnen. Und manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass nicht allen ausreichend klar ist, was Demokratie eigentlich bedeutet.

Herrschaft des Volkes – das Schlagwort fällt oft. Dabei beginnt Demokratie mit der Einsicht, dass das Volk aus Menschen mit verschiedenen, wechselnden, oft widerstreitenden Interessen, Überzeugungen, Zielen besteht. Der Manager eines weltweit agierenden Konzerns will sehr wahrscheinlich etwas anderes als ein Arbeitsloser. Der Inhaber eines landwirtschaftlichen Großbetriebes hat andere Interessen als ein engagierter Umweltschützer. Für einen jungen Angestellten ist etwas anderes wichtig als für einen Rentner. Für ein kinderloses Paar etwas anderes als für eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. Für einen christlichen Konservativen wie mich etwas anderes als für einen Linken. – Alle diese verschiedenen Ansichten und Interessen haben ihre Berechtigung. Sie machen die freie, vielfältige Gesellschaft aus.

Demokratie beruht auf der Bereitschaft zu akzeptieren, dass andere Meinungen ihren Platz haben, auch wenn sie der eigenen widersprechen. Und anzuerkennen, dass am Ende nicht entscheidend ist, was ich denke, sondern was die Mehrheit entscheidet. Deshalb ist Demokratie ein anspruchsvolles Modell des Zusammenlebens. Wahrscheinlich das anspruchsvollste, das wir kennen. Sie fordert den Menschen viel ab. Wer beugt sich schon gerne einer Meinung, die er persönlich für falsch hält?

Das funktioniert nur, weil zur Demokratie nicht nur das Prinzip der Mehrheitsentscheidung gehört, sondern auch die Rechte der Minderheit. Die Mehrheit kann nicht uneingeschränkt über die Minderheit bestimmen. Sonst besteht die Gefahr, dass Demokratie zur Tyrannei der Mehrheit wird. Keine noch so große Mehrheit kann die Verpflichtung unserer Verfassung auf die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten Grundrechte abschaffen. Sie sind politisch nicht verhandelbar.

Demokratie ist ein offener Prozess – weil sich die Einstellungen in der Gesellschaft und die politischen Mehrheiten ändern. Eine einmal getroffene Entscheidung muss nicht für alle Ewigkeit gelten. Die Minderheit von gestern kann morgen die Mehrheit sein. Das bedeutet auch: Niemand ist im Besitz einer absoluten Wahrheit in politischen Angelegenheiten. Deswegen ist Politik ein ständiges Ringen. Viele Fragen bleiben strittig und werden immer wieder neu verhandelt. Denken Sie nur an die Bildungspolitik, an die Energie- und Klimaschutzfragen oder an die Diskussion über die Wehrpflicht.

Demokratische Mehrheitsfindung ist ein komplizierter Prozess. Aus der unendlichen Vielfalt von Meinungen, Anschauungen und Interessen müssen wir am Ende zu Entscheidungen kommen – das ist das Ziel alles Politischen. Dazu brauchen wir stabile Institutionen und von allen akzeptierte Verfahren. Das geht nur mit Parlamenten. Und mit Parteien.

Die politischen Parteien sind für die parlamentarische Demokratie unerlässlich: Sie bündeln, gewichten und artikulieren die verschiedenen Interessen und Meinungen, die es in der Gesellschaft gibt. Sie stellen sich mit ihren unterschiedlichen Zielen und Konzepten zur Wahl und sichern damit den politischen Wettbewerb.

Leider haben die Parteien einen besonders schlechten Ruf. Nur eine Minderheit der deutschen Bevölkerung vertraut ihnen. Viele, gerade auch die jüngeren, halten sie für „von Finanzwelt und Industrie durchdrungene Institutionen der Mächtigen“. Das ist – bei aller Kritik, die sich auch Parteien zu Recht gefallen lassen müssen, und bei allem Fehlverhalten, das es immer mal wieder gibt – Quatsch.

Das Misstrauen der Deutschen gegenüber den Parteien hat eine lange Tradition, die bis ins Kaiserreich zurückreicht. Die Sehnsucht nach Überparteilichkeit und Harmonie ist bei uns vielleicht besonders groß, das Verständnis für die Notwendigkeit von politischem Streit – von „Parteiengezänk“ ist dann die Rede – ist eher gering ausgeprägt. Aber genau das ist – Demokratie! Sie ist doch überhaupt nur möglich und nötig, weil es unterschiedliche politische Ansichten gibt. Und wenn es zwischen den unterschiedlichen Überzeugungen zu einem Ausgleich und zu einer von einer Mehrheit getragenen Entscheidungen kommen soll, dann braucht es die politische Auseinandersetzung. Den demokratischen Streit. Im Parlament und auch in der Öffentlichkeit. Das nervt viele, aber das müssen wir aushalten. Ohne Streit geht es nicht.

Aber es muss ein Streit nach Regeln sein. Verbunden mit der Bereitschaft, das Gegenüber zu achten und die im demokratischen Verfahren zustande gekommenen Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren.

Und noch etwas braucht es: die Bereitschaft zum Kompromiss. Denn ohne Kompromiss keine Mehrheit! Das gilt umso mehr, je vielfältiger unsere Gesellschaft wird und je mehr Parteien es gibt. Mit einer Alles-oder-Nichts-Haltung kommt man in der parlamentarischen Demokratie nicht weit. Die Bereitschaft zum Kompromiss ist keine Schwäche. Sie ist im Gegenteil eine Kardinaltugend der parlamentarischen Demokratie! Wer Kompromisse schließt, nimmt seine politische Verantwortung wahr.

Der politische Gegner, mit dem man sich streitet und mitunter zu Kompromissen findet, ist kein Feind. Bei aller Vielfalt der Interessen und Meinungen: Wir leben alle in einem Land und für das tragen wir gemeinsame Verantwortung.

Wir stehen vor großen Herausforderungen. Noch haben wir keine überzeugende Antwort auf die Frage, wie wir den Zusammenhalt in unserer bunter, vielfältiger werdenden Gesellschaft sichern. Die Auseinandersetzungen sind in den letzten Jahren schärfer geworden, im Netz und auch auf der Straße. Aber Shit-Storm ist nicht Demokratie. Und gewalttätige Übergriffe erst recht nicht – von welcher Seite, aus welchen Beweggründen auch immer !

Für Sie sind Internet, Google, Facebook, Instagram, Whatsapp Alltag, schlicht normal. Und es stimmt, die soziale Netzwerke haben viele gute Seiten. Aber auch problematische: Zu oft dienen sie nicht dem Austausch von Meinungen, sondern befördern Misstrauen, Verschwörungstheorien und Meinungsblasen, abgeschottete Welten, in denen nur die zusammenfinden, die ohnehin die gleichen Ansichten haben.

Für die Demokratie ist das deshalb ein Problem, weil sie die öffentliche Debatte voraussetzt. Im Aufeinandertreffen von oft gegensätzlichen Haltungen, in der freien Diskussion verständigt sich die Gesellschaft über wichtige Fragen. Dafür braucht es – im übertragenen Sinne – einen gemeinsamen Raum, in dem wir uns begegnen, einander zuhören und miteinander reden und streiten können.

Längst ist die freiheitlichen Demokratie nicht mehr unbestrittenes Vorbild. Es gibt andere Modelle, die Wohlstand und Stabilität ohne persönliche und politische Freiheiten versprechen. In China hat die Regierung damit begonnen, Informationen über jeden Bürger zu sammeln und Wohlverhalten mit Bonuspunkten, Fehlverhalten mit Punkteabzug zu bewerten. Eine neue Form des Überwachungsstaates. Silicon-Valley-Investoren träumten schon mal von „libertären Inseln“ – Orte ohne jegliche staatliche Regelungen.

Beides widerspricht der Beschaffenheit des Menschen und seinen Bedürfnissen. Menschen brauchen Freiheit ebenso wie sie Regeln brauchen. Aber beides ohne Übertreibung. Sondern mit Maß und Mitte.

Der Mensch ist nicht fehlerlos. Und alle Versuche, Menschen von Staatswegen zu perfektionieren, sind im Totalitären geendet. Die Demokratie beruht dagegen auf der Akzeptanz der Unvollkommenheit des Menschen. Sie nimmt den Menschen, wie er ist. Das macht den Unterschied einer menschlichen Gesellschaft!

Deshalb kann Demokratie auch nicht den Anspruch erfüllen, Fehler von vornherein zu vermeiden. Vielmehr schafft sie Möglichkeiten wechselseitiger Kontrolle: das Parlament kontrolliert die Regierung, die Opposition kontrolliert die Mehrheit, Bundespräsident und Verfassungsgericht kontrollieren das Recht und die Einhaltung des Grundgesetzes, freie Medien und Öffentlichkeit sind kritischer Begleiter aller politischen Institutionen und Prozesse.

Demokratische Politik ist nicht perfekt. Sie kann keine Heilsversprechen geben und keine Erlösung bieten. Sie kann es nicht sein, weil der Mensch nicht vollkommen ist – und weil niemand weiß, was kommt.

Für Probleme Lösungen zu finden, Dinge zu perfektionieren, etwas Neues zu erfinden, zum Fortschritt beizutragen – das spornt viele junge Talente wie Sie an. Und natürlich auch ältere. Da liegt die Frage nahe: Lassen sich nicht auch Demokratie und Politik mittels neuer Technologien verbessern? Können uns wissenschaftlicher Fortschritt und Künstliche Intelligenz vor den Unzulänglichkeiten der demokratischen Wirklichkeit schützen?

Ein neuseeländischer Unternehmer hat einen selbstlernenden Roboter entwickelt, der sich als „virtueller Politiker der Zukunft“ präsentiert.  Er hat den erklärten Anspruch, die Lücke zu schließen zwischen dem, was die Wähler wollen, und dem was Politiker tatsächlich umsetzen. Er will – Zitat – „jeden Neuseeländer repräsentieren“ und dadurch „eine bessere Politik für alle“ erreichen.

In einer japanischen Stadt trat im Frühjahr ein Kandidat bei Bürgermeisterwahlen an, der die Politik einer Künstlichen Intelligenz überlassen wollte. Weil diese schnellere und effizientere Entscheidungen treffe, unparteiisch sei und nicht anfällig für Korruption. Immerhin 4.000 von 120.000 Wahlberechtigten sollen für ihn gestimmt haben.

Und klingt es nicht toll? Keine Korruption? Bessere Politik für alle statt parteiischer Entscheidung? Strittige Fragen, die objektiv auf der Basis von Fakten und Berechnungen gelöst werden? In Wahrheit steckt dahinter eine bedrohliche Vorstellung: die Idee, ohne den menschlichen Faktor ließe sich Politik vervollkommnen.

Aber Politik ist keine Maschine und keine Naturwissenschaft. Politische Entscheidungen lassen sich nicht durch technologische Effizienz ersetzen. Sterbehilfe erlauben oder nicht? Griechenland unterstützen oder nicht? Selbst die Entscheidung, einen Parkplatz bauen oder lieber einen Spielplatz, kann Technologie nicht treffen. Weil es letztlich um Interessen, um Prioritäten, um Werte geht. Zumal politische Entscheidungen nicht selten ein Dilemma betreffen: Wie können wir den notleidenden Menschen helfen, die zu uns kommen, ohne unsere innere Stabilität zu gefährden? Wie schaffen wir eine friedliche Lösung im syrischen Bürgerkrieg, wenn eine militärische Interventionen die Lage verschärfen und weitere Opfer fordern würde? 

Die Antworten darauf bleiben notgedrungen unbefriedigend. Die Demokratie – selbst eine stabile und gut funktionierende parlamentarische Demokratie – ist nicht perfekt und nicht allmächtig. Der große englische Politiker Winston Churchill hat es einst so formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.“ Aber die Demokratie hat einen entscheidenden Vorzug: Sie lernt aus Fehlern und kann so immer wieder auf neue Gegebenheiten reagieren. Ihre Offenheit, die Fähigkeit zur Selbstkorrektur – das ist es, was sie auszeichnet und so erfolgreich macht.

Die Demokratie ist zugleich besonders voraussetzungsvoll: Sie ist auf die Zustimmung der Menschen angewiesen. Sie lässt sich nicht dauerhaft auf Zwang, Unterdrückung und Gewalt bauen. Sie braucht ein Mindestmaß an Vertrauen in ihre Institutionen. Deswegen ist es wichtig, dass sich möglichst viele an der Demokratie beteiligen: durch Interesse, durch Diskussionen, durch die Teilnahme an Wahlen, durch eigenes Engagement – in Vereinen, Initiativen, in Organisationen und nicht zuletzt in Parteien.  

Die öffentlichen Angelegenheiten sind letztlich die eigenen Angelegenheiten. Ob im Kleineren oder im ganz Großen: Wann wird unsere Schule saniert? Brauchen wir eine Umgehungsstraße durch unseren Ort? Wie schaffen wir genug Kitaplätze? Wie sorgen wir für ausreichend Pflegekräfte? Was muss geschehen, damit wir in unseren Städten saubere Luft atmen können? Wie können wir verhindern, dass Millionen von Menschen weltweit vor Not, Gewalt, Verfolgung und Krieg fliehen?

Immer wieder beklagen sich junge Menschen bei mir und meinen Kollegen aus dem Parlament: Den Politikern ist doch eh egal, was wir denken. Es bringt doch nichts, wenn ich mich einmische oder wählen gehe. Auch an der letzten Bundestagswahl haben sich die 18- bis 24-Jährigen unterdurchschnittlich beteiligt. Niemand ist verpflichtet mitzumachen. Aber wer nicht mitmacht, sollte wissen, dass er anderen die Entscheidung überlässt. Politische Entscheidungen, die Weichen für die Zukunft stellen und Folgen für das eigene Leben haben.

Das Referendum über den Brexit wäre womöglich anders ausgegangen, wenn sich nicht zwei Drittel der jungen Briten entschieden hätten, zu Hause zu bleiben. Die, die hingegangen sind, haben nämlich mehrheitlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Dabei sind es die jungen Briten, die am längsten von den Folgen des Brexit betroffen sein werden.

Es kommt also sehr wohl auf das eigene Engagement an. Und es stimmt auch nicht, dass man nichts ändern könne. Wer etwas erreichen will,  muss sich allerdings ins Zeug legen. Auf dem Sofa sitzen, ein paar Like-Buttons anklicken oder die eigene Meinung in Foren absetzen, reicht da nicht. Wer sich politisch einmischen und mitgestalten will, muss andere überzeugen, bereit sein, Diskussionen zu führen, auch zurückzustecken, Kompromisse zu machen und nicht aufgeben. Das erfordert ein gewisse Zähigkeit, weil in der Politik meist vieles länger dauert, als man sich das wünscht. Und auch das gehört dazu: Man gewinnt nicht immer. Die Demokratie ist so gut, wie wir, die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sie machen.

Natürlich muss nicht jeder in eine Partei eintreten oder Politiker werden. Es gibt viele Wege und Möglichkeiten, unsere Gesellschaft mitzugestalten. Aber sich für das zu interessieren, was um einen herum geschieht, bei uns, in Europa und in der Welt, dass sollte sich jeder zumuten. Ebenso wie ein Verständnis für die Komplexität von Politik in der parlamentarischen Demokratie. Damit wir bei allen Talenten und Spezialisierungen das große Ganze nicht aus den Augen verlieren.

Sie, die Jungen, werden gebraucht. Gerade in einer Gesellschaft, die immer älter wird, und in einer Zeit, die sich immer schneller verändert. Vielen, vor allem älteren, macht das Tempo des Wandels Angst. Meist sind es die Jungen, die frische Sichtweisen, die Begeisterung, Kraft und auch den nötigen Überschuss an Selbstgewissheit und Angstlosigkeit mitbringen, um große Dinge anzupacken – ganz wie Goethe gesagt hat: „Man muss jung sein, um große Dinge zu tun“. Dinge, die Älteren häufig unabänderbar erscheinen. Die aus ihrer Erfahrung zig Gründe – allesamt vernünftige Gründe – aufzählen können, warum etwas nicht geht. Die sich eingerichtet haben und denen es vielleicht sogar am liebsten wäre, es würde sich möglichst wenig ändern, weil ja eh früher alles besser war – oder in Zukunft alles nur noch schlimmer werden kann. Obwohl vieles sehr viel besser geworden ist, seit meine und Ihre Eltern und Großeltern jung waren. Und obwohl es so vieles gibt, was anders, was besser sein könnte, bei uns und in der Welt.

Nutzen Sie die Chancen, die sich Ihnen bieten, und Ihre großartigen, herausragenden Talente. Die Welt steckt für Sie voller Möglichkeiten. Haben Sie den Mut, notfalls auch gegen den Strom zu schwimmen. Die Zukunft ist offen. Und wenn Sie sich aufmachen, Dinge zu verändern, ob im Großen oder im Kleinen, erinnern Sie sich vielleicht an die weise Beobachtung Max Webers, eines großen deutschen Soziologen: dass man das Mögliche nicht erreicht hätte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.

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