25.09.2018 | Parlament

Festrede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung des 52. Historikertages in Münster

Es gilt das gesprochene Wort

Im September 1918, vor 100 Jahren, erschien der erste Band von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“. 
Mit großer Geste verwarf Spengler darin unser lineares Verständnis von der Geschichte. Stattdessen beschrieb er einen Zyklus gesetzmäßigen Werdens und Vergehens der Kulturen – und leitete daraus den Anspruch ab, Geschichte vorausbestimmen zu können. 
Zukunft als Kulturverfall: Darin konnte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine vom Fortschrittsglauben desillusionierte Gesellschaft wiederfinden. Auch weil Spenglers These Entlastung verhieß: Denn sie negierte jenseits der Natur Kausalitäten. Wo aber der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung aufgekündigt ist, kann es auch keine Verantwortung geben. Von Schuld gar nicht zu reden.

Alles also nur ein unentrinnbares Schicksal? Determiniert – wie die moderne Hirnforschung vielleicht sagen würde. Ohne menschliche Willensfreiheit?
Der Historiker Friedrich Schiller hat es in seiner „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ so gesehen:
„Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen, ihm gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall.“
Dem Partnerland des diesjährigen Historikertages, der Freiheitsgeschichte Ihres Landes, verehrte Kollegin, hat sich Schiller gleich zweimal angenommen: Als Geschichtsschreiber und – im „Don Carlos“ – als Dichter. 
Sein historisches Werk verstand er als Denkmal für die menschliche Freiheit, für bürgerliche Stärke. Und er wollte zeigen, so wörtlich, „was Menschen ... ausrichten mögen durch – Vereinigung.“
Verbundenheit untereinander, ein Miteinander in den Zielen: Das setzt immense Kräfte frei – zu allen Zeiten und in allen Ländern. Wir haben es 1989 auch in Deutschland erlebt, mit der Friedlichen Revolution in der DDR, als Bürgermut ein eingemauertes System von Unfreiheit, Willkür und Bevormundung zum Einsturz brachte. 

Wir erleben es im Privaten wie in allen öffentlichen Bereichen: Zusammenhalt macht stark. 
Und das Gegenteil? 
Diese Frage führt zum Leitthema Ihres Historikertages.
Gespaltene Gesellschaften: Das ist ein Thema mit Geschichte – wie die vielen Sektionen der kommenden Tage eindrucksvoll belegen. Und es unterstreicht die Gegenwartsrelevanz Ihres Fachs. Denn es ist ein Thema auch von hoher aktueller Brisanz – und damit politisch von Bedeutung.

Wir spüren, dass unsere Gesellschaften unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher werden. 
Soziale Kohärenz gerät vielerorts zunehmend in Gefahr.
Ausgerechnet im Jahr des 200. Geburtstages von Karl Marx sprechen Soziologen von einer neuen Klassengesellschaft. Sie haben dabei nicht mehr vorrangig ökonomische und soziale Ungleichheiten im Blick, zwischen denen am oberen und denen am unteren Rand. 
Sie analysieren vielmehr eine Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Lebenswelten – in vorwiegend kulturell bestimmte Lebensstile, die kaum noch kompatibel sind. 
Ihre Bruchstelle verläuft demnach im Verhältnis zur global vernetzten Welt: ob man ihr zukunftsoffen begegnet oder rückwärtsgewandt. 
Selbstbewusst oder ängstlich. 

Globalisierung und Digitalisierung sorgen für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Mit faszinierenden Möglichkeiten. 
Die immense Beschleunigung schafft aber auch Unbehagen, überfordert viele – und sie droht Gesellschaften tatsächlich dann zu spalten, wenn es uns nicht gelingt, den unausweichlichen Wandel für alle erträglich zu gestalten. Die Balance zu halten zwischen Bewahren und Verändern. Die Sorgen ernst zu nehmen und Zutrauen in die Zukunft zu vermitteln.
Für jede Demokratie wird die Zersplitterung ihrer Öffentlichkeit zu einer Herausforderung. Angesichts der Fülle an Informationen, mit denen wir uns permanent konfrontiert sehen, braucht es mehr denn je einen Blick für das uns gemeinsam Wesentliche. Doch das Internet befeuert eine Entwicklung, in der nur noch in abgeschotteten Gruppen Gleichgesinnter fokussiert wird – und allenfalls noch übereinander, aber nicht mehr miteinander kommuniziert wird. Dabei geht die Fähigkeit verloren, gemeinsam Prioritäten zu setzen.
Manche Auseinandersetzung der letzten Monate erweckte den Eindruck, als wären wir uns vor allem noch darin einig, wie uneins wir uns sind. Die politischen Debatten werden rigider geführt, als wir es lange gewohnt waren und sie werden zunehmend unversöhnlich -  bis hin zur Gewalt auf der Straße. Da gilt es den Anfängen zu wehren.

In derart aufgewühlten Zeiten kann der Blick in die Geschichte helfen. 
Nicht um einen nostalgischen Rückzugsraum vor den Widrigkeiten unserer Zeit zu begründen. Sondern um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in größere historische Linien einzuordnen und sie dadurch besser zu verstehen. Um in den gegenwärtigen Konflikten das Ineinander- und Gegeneinanderwirken verschiedener „Zeitenschichten“ aufzuspüren, wie Dan Diner das nennt: Das krisenhafte Aufeinandertreffen von Strukturen, Vorstellungen, Werten und Erinnerungen, die in ganz verschiedene Epochen datieren.
Um Parallelen zwischen damals und heute zu entdecken – und damit mögliche Folgen unseres Handelns abzuschätzen. Oder im Gegenteil: Um gerade die Kontraste, die Brüche und Veränderungen zu erkennen – und unnötigen Dramatisierungen entgegenzuwirken. 
Und ganz grundsätzlich: Um unser Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Alles Ursachen und Wirkungen hat. Dass wir Verantwortung dafür tragen, wie wir unsere Handlungsspielräume nutzen. Mit unseren Entscheidungen in die eine oder in die andere Richtung. 
Auch Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Gespaltene Gesellschaften: Das weckt vielfältige Assoziationen. 
Neben politischen auch ökonomische, soziale, ethnische und natürlich religiös-konfessionelle – zumal an diesem Ort.
Schließlich gelang es hier in Münster, einen dreißigjährigen Krieg zu beenden. Einen Krieg, der vor 400 Jahren als ein Verfassungskonflikt mit dem Aufstand böhmischer Stände begann. Der in der Folge als Konfessionskrieg das Reich spaltete und der am Ende als Hegemonialkrieg europäischer Staaten weite Teile des Kontinents verwüstete. 

Ein ungemein komplexer Krieg, der mit den zeitgenössischen Schilderungen Grimmelhausens und als nationales Trauma, zu dem ihn das 19. Jahrhundert machte, bis heute eine düstere Faszination auf uns ausübt. 
Ein Krieg, der wissenschaftliche Aufarbeitung fordert und nach literarischer Verarbeitung schreit. „Die Welt war so anders, aber all das ist uns zeitlich näher, als man denkt“, sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann. Mit seinem fulminanten Roman „Tyll“ ist es ihm gelungen, den Schrecken dieses Krieges plastisch zu machen. „Das Leben der Vergessenen, die für Historiker nicht mehr greifbar sind“, wie er sagt.
Schiller, der sich auch diesem Krieg als Historiker und als Dichter annahm, urteilte, der europäische Kontinent habe sich damals erstmals als „eine zusammenhängende Staatengesellschaft“ begriffen. Vor allem zeigt dieser Krieg aber doch die mannigfaltigen Spaltungen der europäischen Gesellschaften in der Frühen Neuzeit – mit erstaunlichen Parallelen zu den komplexen Konflikten im Nahen Osten heute, wie Herfried Münkler herausgearbeitet hat. 

Reformation und die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges haben Europa gelehrt, mit religiöser Pluralität umzugehen. Das war ein langwieriger, blutiger Prozess. 
Über die Jahrhunderte setzte sich aber die Erkenntnis durch, dass sich Politik und Religion in ihrer Unterschiedlichkeit verstehen und in ihrem Eigenrecht akzeptieren müssen, 
gewann die Einsicht, dass die Politik mit einer Mehrzahl von Religionen oder Konfessionen leben muss – und das Verständnis, dass sie auf die religiösen Überzeugungen ihrer Bürger keinen Einfluss nehmen kann und darf,
wuchs schließlich das Bewusstsein dafür, dass erst auf der Grundlage der Akzeptanz von Unterschieden die Suche nach Einigendem und Verbindendem beginnen kann. 
Das ist keine einfache Aufgabe, und sie ist auch niemals abgeschlossen. Aber verzichten können wir nicht darauf. Erst recht nicht in modernen Gesellschaften, die wieder stärker von religiöser Pluralität geprägt sind.

Gespaltene Gesellschaft: Was verhieße eigentlich die Umkehrung? 
Eine homogene Gesellschaft? 
Sie gibt es nicht. Sie kann es nicht geben. Sie wäre wider die menschliche Natur. Ideologen der Gleichheit suchten deshalb, einen ‚neuen‘ Menschen zu formen. Eine Hybris. Mit fatalen Folgen.
Mensch-Sein gibt es Hannah Arendt zufolge nur im Plural. Diversität ist deshalb mehr als ein Schlagwort unserer Zeit. Es ist die gesellschaftliche Realität, von der wir auch politisch immer auszugehen haben. 
Zugleich ist der Mensch nur in Bindungen denkbar, in Beziehungen – nicht in abstrakter Einsamkeit. Die Freiheit, zu der der Mensch begabt ist, ist deshalb keine rücksichtslose, sondern eine, die immer auch Verantwortung für sich selbst und für die Mitmenschen meint.
Vor diesem Hintergrund spiegelt unsere Geschichte die stete Suche nach der richtigen Balance zwischen Einheit und Vielheit, der Freiheit des Einzelnen und ihrer notwendigen Begrenzung durch die Freiheit des anderen. Das fortwährende Austarieren gegensätzlicher Interessen in der Gesellschaft, zwischen Mehrheit und Minderheit. 
Das ist ein historisches Kontinuum – und die Herausforderung für jedes Gemeinwesen, für jeden Staat. Im Übrigen auch für das zusammenwachsende Europa.

Im System absoluter Herrschaft personifizierte sich die staatliche Einheit im Monarchen und im Gottesgnadentum. 
Der demokratische Anspruch auf Mitsprache aller, die Volksherrschaft, macht die Sache komplizierter: Der Souverän erscheint hier als Vielheit. Einigkeit ist nur durch Streit herzustellen, im Wettbewerb, im Ausgleich, am Ende im Kompromiss. 
Wir erleben gerade, wie schwierig es sein kann, diesen Streit zu führen. Weil Tabus aufgebaut werden, Meinungen zu schnell als unsagbar abqualifiziert, Erfahrungen und Empfindungen anderer nicht ernst genommen werden. Wer sich gegen Migration ausspricht, weil er sich vor ihren Folgen fürchtet, gilt schnell als hartherzig, als ausländerfeindlich, als rassistisch. Wer Migration begrüßt, weil er Menschen in schwieriger Lage helfen will, wird umgekehrt bestenfalls als „Gutmensch“ belächelt, häufig aber auch als Volksverräter beschimpft. Dies aber macht einen konstruktiven Diskurs und die Suche nach einem befriedenden Kompromiss von vornherein unmöglich. Darum, dass er möglich wird, müssen wir kämpfen. Und dabei können die Lehren aus der Geschichte ein mächtiger Verbündeter sein – wenn es Historikern gelingt, sie zu vermitteln.
Im modernen Verfassungsstaat ist es vor allem das Recht, dem wir uns gemeinsam unterwerfen, das alle gesellschaftlichen Spaltungen überwölbt. 
Vor dem Recht sind wir alle gleich. 
Eine demokratische Verfassung setzt die politische Einheit des Volkes voraus, das als Souverän die Verfassung legitimiert. Und sie trägt ihrerseits zur politischen Einheit bei. Sie formt den Staat, hat integrierende Funktion, formuliert den Grundkonsens in der Gesellschaft.
Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt allerdings – nach der bekannten Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes – von Voraussetzungen, die er selbst nicht zu schaffen vermag. Es braucht deshalb Werte und Wertebindungen, die historisch gewachsen, kulturell geprägt sind. Und die sich wandeln können.
Wie die Werteordnung des Grundgesetzes mit Leben gefüllt wird: Darüber muss sich jede Generation immer wieder neu verständigen. Gerade in kulturell und religiös bunteren Gesellschaften kommt es darauf an, Werte wie Toleranz und Pluralismus neu zu erörtern. 
Größere Vielfalt macht politisch die Suche nach dem Verbindenden nur umso drängender. Denn ohne inneren Zusammenhalt kann auch eine moderne Gesellschaft nicht dauerhaft bestehen. 
Jede Gesellschaft braucht ein Fundament verbindender Werte!

Als vor 70 Jahren die Mütter und Väter des Grundgesetzes in Bonn zusammenkamen, um die Grundlagen für eine neue staatliche Ordnung zu formulieren, taten sie das in einem zerstörten, in einem gespaltenen Land. 
Es war nicht nur staatlich geteilt in vier Besatzungszonen, sondern auch mental zerrissen: durch ganz unterschiedliche Erfahrungen in den Jahren von Diktatur und Krieg, von Flucht und Vertreibung. Die Gräben zwischen einstigen Partei-Mitgliedern und jenen, die sich unter Gefahr für Leib und Leben gegen den Nationalsozialismus aufgelehnt hatten, zwischen Überlebenden, heimgekehrten Emigranten und Mitläufern oder Tätern waren tief. 
Geprägt von den Abgründen deutscher Schuld bestimmten die Vertreter der unterschiedlichen Parteien und Denkschulen im Parlamentarischen Rat die unverletzliche Würde des Menschen zur Grundlage der neuen Rechts-ordnung – zum entscheidenden Maßstab aller Politik. 
Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Antwort auf die Diktatur-Erfahrung, als die Würde des Menschen millionenfach verletzt wurde. Als die propagierte ethnische Homogenität Menschen ausgrenzte – und in letzter Konsequenz in den industrialisierten Völkermord führte. 
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“: Auf diesem Postulat gründet unser Staat, es ist der Geist, der uns in diesem Land verbindet. Wer daran rüttelt, der spaltet – und stellt sich außerhalb unserer Ordnung.

Diese staatliche Ordnung gewährt allen die gleiche politische und soziale Teilhabe. Aber das Grundgesetz verspricht keinen einheitlichen Lebensstandard. 
Was sollte das auch sein?
Artikel 72 verpflichtet uns politisch zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ – keine gleichen. Das ist ein entscheidender Unterschied, der der Vielfalt unseres Landes Rechnung trägt.
Ungleichheiten bestanden und bestehen – erst recht im föderalen Staat. Es muss einen Ausgleich geben, aber Unterschiede dürfen erhalten bleiben. 
Das Grundgesetz spricht seit 1994 auch nicht mehr von der „Wahrung“, sondern der „Herstellung“ gleichwertiger Lebensverhältnisse. Es verweist also auf einen in die Zukunft gerichteten dynamischen Prozess. Schließlich haben sich gerade Ungleichheiten immer wieder als Movens für gesellschaftliche Veränderungen erwiesen. Auch darüber werden Sie in den Sektionen dieses Historikertages sicherlich sprechen.
Gefährlich werden Ungleichheiten allerdings dann, wenn jede Balance verloren geht, Maß und Mitte. Dafür müssen wir sensibel bleiben. Dem gilt es entgegenzuwirken, wenn uns an der Stabilität unseres Gemeinwesens gelegen ist.

Meine Damen und Herren,
die „Weltgeschichte rollt der Zufall“: Tatsächlich ist das, was kommt, unvorhersehbar. Das Geschehene wird erst in der Rückschau zum Schicksal, mit dem wir Nachgeborenen leben müssen. Die Vergangenheit zum Band, das uns verbindet. Durch Erfahrungen, die wir teilen – im Positiven wie im Negativen. 
Unser Umgang mit der Vergangenheit erzählt dabei viel über uns. 
Historisches Bewusstsein vermittelt einen Standpunkt – und erhellt unsere Gegenwart. Wir beschäftigen uns doch mit Geschichte, weil wir aus ihr Erkenntnis gewinnen wollen. Weil wir aus der Geschichte lernen können – auch wenn damit noch keineswegs ausgemacht ist, das wir tatsächlich immer die sinnvollen und richtigen Schlüsse ziehen. 

Das alles verleiht der Geschichtswissenschaft eine besondere Bedeutung, gibt Ihnen und Ihrer Zunft hohe Verantwortung.
Denn Geschichte hat ja keineswegs nur befriedende Wirkung. Im Gegenteil: Wir sehen immer wieder, wie Erinnerungen spalten können. Konflikte anheizen, Kriege legitimieren. 

Der Westfälische Frieden hatte nach den traumatischen Kriegserfahrungen proklamiert, es sollen „alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Unkosten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei.“
Amnestie und Amnesie als Voraussetzung gesellschaftlicher Befriedung, zur Überbrückung aller Spaltungen: Christian Meier hat vor ein paar Jahren auf diese jahrhundertwährende Konstante hingewiesen. Und er hat verdeutlicht, wie im 20. Jahrhundert mit seinen beispiellosen Verbrechen der Drang nach Gerechtigkeit das einstige Gebot des Vergessens ins Gegenteil verkehrte: 
Vergangenheit zu bewältigen, erscheint seitdem allein im ständigen Wachhalten der Erinnerung möglich. Weil es keinen wirklichen Frieden geben könne, solange nicht den Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerechtigkeit widerfährt. In der Anerkennung ihres Leids.
Die Nation erscheint hier nicht allein als Gefühls- sondern auch als historische Verantwortungsgemeinschaft. Ein sensibles, ein anspruchsvolles Selbstverständnis. 
Unser Selbstverständnis.

Nation – Staat – Geschichte: Welche Rolle fällt dabei den Historikern zu? 
Diese Frage ist umstritten. Die Auseinandersetzung mit ihr hat eine eigene Geschichte. Sie beginnt vor den großen Zäsuren des 20. Jahr¬hunderts. Bereits der erste Historikertag widmete sich ihr. 1893, vor 125 Jahren. 
Sollte Staatsbewusstsein und Patriotismus auf die Fahne von Wissenschaft und Unterricht geschrieben sein? Die versammelten Historiker pochten schon damals auf ihre Unabhängigkeit – und lehnten mehrheitlich ab, der Geschichtsunterricht müsse (Zitat) „insbesondere auch die Liebe zum Vaterland und ein strenges Pflichtbewusstsein gegen den Staat erwecken“. 
Sich mit seinem Land zu identifizieren, Zugehörigkeit zu empfinden, auch Verantwortung und sogar Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber: Daran ist nichts falsch. Im Gegenteil. Aber in einer freiheitlichen Gesellschaft lässt sich das nicht staatlich verordnen. Geschichte, zumal unsere Geschichte, lehrt eben auch Demut, sich und seine Nation nicht zu überhöhen – sich vielmehr der Verführbarkeit und Fehlbarkeit von Menschen bewusst zu werden.
Mit seiner Entschließung wandte sich der erste Historikertag vor allem gegen ein Nützlichkeitsdenken, in dem die Geschichtswissenschaft ihre Relevanz als „Magd des Staates“ nachzuweisen habe. 
Es gab in Deutschland Zeiten, in denen das anders war, und es gibt weltweit noch immer Staaten, in denen das anders ist. Die Freiheit der Wissenschaft ist aber ein hohes Gut. Sie sichert Ihnen Unabhängigkeit – und darf nicht angetastet werden. 
Sie entlässt Sie allerdings auch nicht aus Ihrer gesellschaftlichen Verantwortung – erst recht nicht in einer Zeit, in der die Glaubwürdigkeit von Eliten und Autoritäten angezweifelt wird. 
Der Populismus erschüttert in einer fragmentierten Öffentlichkeit ja nicht nur die Grundfesten unserer Demokratie. Auch wissenschaftliche Erkenntnis trifft längst nicht mehr auf ungeteilte Achtung. 
Die Geschichtswissenschaft bleibt deshalb besonders gefordert, ihre Expertise einzubringen, Studien zu vertiefen, Erkenntnis in der Gesellschaft zu verankern. Selbstreflexiv, kritisch und auch als Widerhaken in Komfortzonen, in denen wir uns als erinnernde Gesellschaft eingerichtet haben. 
Demokratiegeschichte, Diktaturgeschichte, Verfassungsgeschichte, Parlamentsgeschichte: Das sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen, welchen Beitrag Ihr Fach leisten kann. Sie arbeiten am Grundkonsens mit – nicht mit einem politischen Auftrag, aber im Bewusstsein Ihrer besonderen gesellschaftspolitischen Verantwortung.
Dazu gehört für mich zwingend der Anspruch, eine breite Öffentlichkeit erreichen zu wollen. Wissenschaftliche Erkenntnis verständlich aufzubereiten und lesbar zu vermitteln – nicht allein abstrakt, sondern anschaulich und lebendig: das verlangt Kunstfertigkeit. Zuerst aber überhaupt den Willen, ein Publikum auch außerhalb des kleinen Kreises von Fachkollegen anzusprechen – um es mit seinem Forschungsgegenstand zu faszinieren. 
Gespaltene Gesellschaften – auch durch traumatische Kriegs- und Gewalterfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart und das im atemberaubend schnellen Wandel und in nicht bekannter globaler Verdichtung – das ist unsere Herausforderung heute. Und der müssen sich auch Historiker stellen.

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