28.10.2018 | Parlament

Beitrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: Der Fünfwochenkanzler. Max von Baden und die Parlamentarisierung Deutschlands 1918

Die Deutschen pflegen kein inniges Verhältnis zur Revolution. 1918 wagten sie den Umsturz dennoch: Matrosen, Arbeiter und Soldaten im November, kurz zuvor und weniger bekannt die Parlamentarier im Reichstag. Vor 100 Jahren, am 25. und 26. Oktober, verabschiedeten sie weitreichende Verfassungsänderungen, mit denen im Urteil Gustav Stresemanns das Werk Bismarcks „zu Grabe getragen“ wurde. Der Reichskanzler war fortan nicht mehr allein dem Kaiser verantwortlich, sondern dem Parlament – der Volksvertretung. Die konservative Opposition sprach in den Debatten am deutlichsten aus, was das bedeutete. Der Abgeordnete Graf von Westarp brachte es auf den Punkt: „Aus dem monarchisch-konstitutionellen Reich ist ein nach den Grundsätzen der westlichen Demokratien parlamentarisch regierter Staat geworden.“ Die Parlamentarisierung Deutschlands vollzog sich im Gewand der Reform, sie bedeutete jedoch nichts weniger als eine Verfassungsrevolution.

Eine der Schlüsselfiguren der spannungsvollen Wochen ist Max von Baden, Deutschlands letzter kaiserlicher und erster parlamentarischer Kanzler. Ein Mann mit vielen Eigenschaften, Mitglied des Hochadels, Thronfolger im Großherzogtum Baden – und der Moderne gegenüber aufgeschlossen. Ein weltläufiger Schöngeist, der rege Briefwechsel mit Wissenschaftlern unterhielt und sich in der Welt der Künste bewegte – mit einer zeittypischen Vorliebe für Richard Wagner. Er pflegte Kontakte zum bekennenden Antisemiten Houston Stewart Chamberlain und zugleich Freundschaften mit Juden wie Max Warburg oder dem Reformpädagogen Kurt Hahn.

Max von Baden personifiziert die Ambivalenzen seiner Epoche: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von der Historiker sprechen. Es ist das Signum eines Zeitalters, in dem Zukunftseuphorie und Endzeitstimmung ganz nahe beieinanderlagen. Gegensätzliche Entwicklungen verliefen parallel: Die Dynamik der Industriegesellschaft mit ihren sozialen Emanzipationsbewegungen und die Beharrungskräfte des ostelbischen Junkertums. Liberale Regierungen in einzelnen Ländern und der militarisierte Obrigkeitsstaat im Reich. Ein im internationalen Vergleich fortschrittliches allgemeines Wahlrecht – allerdings noch nicht für Frauen – im Gesamtstaat und das Dreiklassenwahlrecht in Preußen. 

Der Weltkrieg erschütterte diese widersprüchliche Gesellschaftsordnung nachhaltig. Die Verfassungsreformen im Oktober 1918 markieren im Urteil Heinrich August Winklers den Abschluss der ungleichzeitigen Demokratisierung des deutschen Kaiserreichs. In der Öffentlichkeit blieben sie vor allem im Schatten eines Notenwechsels zwischen der deutschen Reichsleitung und dem Präsidenten der USA. Denn darin entschied sich, was die Menschen am meisten bewegte: nach vier Jahren sinnlosen Blutvergießens endlich Frieden zu schaffen.

Im Kreise der Militärs um Erich Ludendorff war bereits das Kalkül gereift, die Verantwortung für die längst unausweichliche Kriegsniederlage auf die zivilen Kräfte abzuwälzen. Die Verfassungsreformen sind nicht losgelöst davon zu betrachten. Aber das ist nur ein Teil der historischen Wahrheit. Dazu gehört, dass die Entwicklungen im Oktober auch das Ergebnis eines im Kriegsverlauf selbstbewusster werdenden Parlaments waren. Das hatte sich schon mit der vom Zentrums-Politiker Matthias Erzberger im Juli 1917 initiierten Friedensresolution angebahnt. Damals fanden sich mit den Sozialdemokraten, dem Zentrum und der Fortschrittlichen Volkspartei die parlamentarischen Kräfte zusammen, die fortan im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstages die Parlamentarisierung des Kaiserreichs einforderten. Unter dem Druck dieser Mehrheitsfraktionen wurde im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens die Regierungsvorlage zur Verfassungsänderung um einen entscheidenden Passus erweitert – erst dadurch wurde der Reichskanzler dem Parlament gegenüber verantwortlich. 

Der neuen parlamentarischen Ordnung haftete der Malus der Kriegsniederlage an. Sebastian Haffner hat es als letzte Pointe des Kaiserreichs bezeichnet, dass die, die sich 1918 aus der Verantwortung stahlen, nur ein Jahr später als Ankläger auftraten: gegenüber jenen, denen sie selbst die Aufgabe überlassen hatten, die militärische Niederlage mit all ihren Konsequenzen einzugestehen. Darin liegt die Tragik der Parlamentarier und ihrer Oktoberreformen.

Dass Linksliberale, Zentrumspolitiker und sogar Sozialdemokraten ihre Hoffnungen auf einen Aristokraten aus dem Hause Baden setzten, war kein Zufall. Baden war der Staat mit einer der modernsten und liberalsten Verfassungen Mitteleuropas – im August hat sich ihre Proklamation vor 200 Jahren gejährt. Die Öffentlichkeit des Großherzogtums war erfahren mit dem parlamentarischen System und hatte anderen voraus, dass die Sozialdemokratie politisch bereits stärker eingebunden war. 

Die Kanzlerschaft Max von Badens ist trotzdem die Geschichte eines großen Missverständnisses. Denn so modern er auch auftrat: zum Volk wahrte der Prinz Distanz, die Masse blieb ihm fremd. Erst Recht die Parteien. Er wunderte sich rückblickend selbst, was alles in ihn hatte hineinprojiziert werden können: „Sie haben mich als Verfechter des öden westlichen Parlamentarismus angesehen, während ich ein Gegner desselben war. Sie haben mich einen Demokraten ... genannt, während ich ... ein Verfechter des Führergedankens und der menschlichen Aristokratie bin“, schrieb er Ende März 1919. Was für eine Volte der Geschichte: Die Parlamentarisierung, die heute mit seinem Namen untrennbar verbunden ist, wollte er nicht. Mehr noch: Er hegte allergrößten Widerwillen gegen sie. Zwischen seiner idealen politischen Welt und der realen Welt der Politik gab es kaum Schnittflächen, sagt sein Biograf Lothar Machtan. Und der Historiker Lothar Gall nennt ihn einen Illusionisten, der an einen dritten Weg geglaubt habe: an eine altliberale Alternative zwischen konservativ-monarchischem Obrigkeitsstaat und moderner parlamentarisch-parteienstaatlicher Demokratie. 

Skepsis, wenn nicht Vorbehalte oder gar Angst vor der parlamentarischen Demokratie waren weit verbreitet. Thomas Mann denunzierte sie 1918 in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ als „Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik“. Gegen solche intellektuelle Borniertheit trat mit dem Soziologen Max Weber ein einflussreicher Gelehrter an, der als ‚Professor in Heidelberg‘ nicht nur ein Wahl-Badener war, sondern auch mit Max von Baden eng verbunden. Beide beklagten die politische Unmündigkeit des Volkes, der Kanzler führte sie vor dem Reichstag ausdrücklich als Begründung für seine Reformanstrengungen an. Doch während er die Verantwortung des Obrigkeitsstaates und seiner Institutionen für den Untertanengeist bestritt, sah Weber die „Karikatur eines politisch reifen Volkes“ als Hinterlassenschaft Bismarcks und seiner Verfassungsordnung. Der analytisch geschulte Soziologe erkannte die Folgen eines machtlosen Parlaments, das eine Nation ohne Willen zur Selbstverantwortung produzierte. Weber proklamierte folgerichtig: „Wer überhaupt die Zukunftsfrage der deutschen Staatsordnung anders stellt als dahin: wie macht man das Parlament fähig zur Macht?, der stellt sie von vornherein falsch. Denn alles andere ist Nebenwerk.“

Wie anspruchsvoll das Projekt der freiheitlichen Demokratie tatsächlich ist – und wie fragil, hatten bereits kluge Zeitgenossen erkannt: „Die Demokratie als solche garantiert die Freiheit nicht, wenn es keine Demokratie ist, deren Einrichtungen und deren Geist von liberalen Gedanken erfüllt ist“, schrieb etwa der Nationalökonom Moritz Julius Bonn. Er sah auch die Gefährdungen eines Parlamentarismus voraus, der so alltäglich ist, dass er als selbstverständlich und voraussetzungslos wahrgenommen wird. 

Im kommenden Januar jährt sich der berühmte Vortrag Max Webers über Politik als Beruf – und Berufung. Darin entwickelte er die epochemachende Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. In ihrem Spannungsfeld bewegte sich Max von Baden, der sein politisches Engagement durchaus als Berufung verstand. Aber Politik als Beruf? Parteinahme, Kampf, Leidenschaft, Führung: Sie sind nach Weber das Element des Politikers. Philipp Scheidemanns bissige Einschätzung, der Prinz sei ein „guter und verständiger Mensch, bestimmt aber kein Politiker“, traf sich durchaus mit dem Selbstbild Max von Badens, der sich im „technischen“ Sinne nicht als Politiker sah.

Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass es um die Richtlinienkompetenz des Kanzlers Max von Baden nicht sehr weit bestellt war. Dass sein politisches Wirken weniger von seinen Überzeugungen geleitet als von den Umständen bestimmt war. Dass er wie ein Getriebener agierte, eingezwängt zwischen den Ansprüchen der Obersten Heeresleitung und denen der Mehrheitsfraktionen im Reichstag. Zur Bilanz seiner kurzen Kanzlerschaft gehören das noch am Tage seines Amtsantritts – gegen seine Überzeugung – übermittelte Waffenstillstandsangebot an den amerikanischen Präsidenten, die Entmachtung Ludendorffs, die neue Verfassungsordnung. Das ist nicht wenig für fünf Wochen. Er habe das „Zusammenbröckeln der alten Welt in seinen Fingern gespürt“, schrieb der Prinz später einem Freund.

„Wenn die Völker fortschreiten und die Verfassungen stillstehen, kommen die Revolutionen“, hatte Friedrich Ebert am 22. Oktober im Reichstag gesagt. Die durch die Oktoberreformen in ihren Grundfesten erschütterte monarchische Ordnung erwies sich nicht mehr auf der Höhe der Forderungen, die im Volk artikuliert wurden. Sie konnten die Revolution nicht aufhalten. Das hatte mit dem irrwitzigen Befehl der Admiralität zu tun, die kaiserliche Flotte noch einmal auslaufen zu lassen. Ein Himmelfahrtskommando, dem sich die Matrosen widersetzten. Auch der Kaiser war der Situation nicht gewachsen. Allen war bewusst, woran US-Präsident Wilson in seinen Noten keinen Zweifel ließ: Dem ersehnten Frieden stand vor allem Wilhelm II. entgegen. Dynastische Loyalität oder persönliche Befangenheit hinderte Max von Baden daran, seinen Vetter zum Thronverzicht zu drängen. Er spielte auf Zeit – in einem Moment, der die Entscheidung brauchte. Sein Zögern erhöhte den Druck, der zu den revolutionären Ereignissen vom 9. November führte. So ist Max von Badens Kanzlerschaft auch ein Lehrstück über den richtigen Moment in der Politik, den wir meist nur rückblickend zu erkennen glauben. Und auch darüber, dass Nichtstun Folgen haben kann.

Am Morgen des 9. November handelte der Prinz dann doch. Er ließ die Abdankung Wilhelms II. als Kaiser und als König von Preußen verkünden, ohne autorisiert zu sein. Und er übergab die Regierungsgeschäfte an Friedrich Ebert. Das sei ein kleiner Staatstreich gewesen, heißt es. Denn sein Amt einem Nachfolger zu übergeben, lag außerhalb der verfassungsrechtlichen Befugnisse des Reichskanzlers. Der Historiker Thomas Nipperdey rechtfertigte es mit der „Ausnahmelegitimität der notwendigen Tat“ – um in der Revolution Kontinuität zu bewahren. Das womöglich ist eine deutsche Besonderheit.

Die Rolle des Reichsverwesers wollte Max von Baden nicht übernehmen – aus Gewissensgründen. Hat er so verhindert, eine im Volk wirksame Integrationsinstanz zu schaffen? Hätte damit tatsächlich die Chance für einen friedlicheren Übergang zur neuen Ordnung bestanden? Wäre die Geschichte dann anders verlaufen? „Hätte“ – „Wäre“: Das sind keine historischen Kategorien. Geschichte verläuft nicht im Konjunktiv. Jede kontrafaktische Betrachtung bleibt Spekulation. Reizvoll ist sie trotzdem. Die Frage nach Handlungsspielräumen ist immer aufschlussreich. Erst im Rückblick wird Vergangenheit zum Schicksal, dem die nachfolgenden Generationen nicht entrinnen können. Als Geschichte bestimmt sie dann die Gegenwart mit, die ihrerseits wieder Entscheidungen fordert und dafür Alternativen bereithält. Auch das lehrt die spannungsvolle Phase zwischen dem 3. Oktober und 9. November 1918. Es waren Schlüsselwochen der deutschen Demokratiegeschichte.

(erschienen in der Welt am Sonntag, 29.10.2018)

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