02.11.2018 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zu 20 Jahre Abschlussbericht Enquete-Kommission und Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin

(Es gilt das gesprochene Wort)

Zwei Jahre nach Vollendung der staatlichen Einheit setzte der Deutsche Bundestag seine Kraft für einen umfassenden Rückblick auf die DDR ein. Es war ein Wagnis, als die erste Enquete-Kommission begann, sich der Friedlichen Revolution und den Machtstrukturen im untergegangenen SED-Staat zuzuwenden.

Schon damals war zu erahnen, dass die ungleichen Parallelgeschichten der beiden deutschen Staaten die Menschen im wiedervereinigten Deutschland lange beschäftigen würden. Doch niemand konnte vorhersehen, wie lange Prägungen und Vorurteile in Ost und West fortwirken. Und wie sie unsere plurale Gesellschaft verändern würden.

Zu Beginn der neunziger Jahre herrschte Freude über die Einheit. Zugleich standen 17 Millionen neue Bundesbürger völlig unvorbereitet vor der Situation, dass sich ihr bisheriges Leben und ihre Lebensumstände komplett gewandelt hatten. Nicht alle haben diese Turbulenzen nach der wiederhergestellten Deutschen Einheit gut überstanden. In dieser historisch einmaligen Situation, für die es keinen Masterplan gab, wurden Fehler gemacht. Hier ist weitere Aufarbeitung erforderlich – um Zusammenhänge zu erhellen, Verantwortlichkeiten herauszuarbeiten und Vorurteile zu widerlegen.

Walter Kempowski, unermüdlicher Tagebuchschreiber und Chronist, beschrieb die Stimmung 1991 mit einem interessanten Begriff: Er sprach vom „Wiedervereinigungsplankton“, in dem damals alle schwammen. (Zitat) „Wir sind jetzt zwiespältig. Dass sich schon jetzt so viele Widerstände aufgebaut haben gegen die Wiedervereinigung, das macht uns traurig und betroffen.“

Für die Enquete-Kommission hatte Kempowski, der einst politischer Häftling in Bautzen gewesen war, keine Zeit. Er nahm an nur zwei Sitzungen teil, legte dann seinen Sitz als Experte nieder und lotete fortan weiter den Zustand unseres Landes aus.  

Die einen sahen in der untergegangenen DDR so etwas wie ein besseres Deutschland und urteilten milde – wie Günter Grass, dem der SED-Staat als „kommode Diktatur“ erschien, wie er einmal schrieb. Anderen war das vergreiste SED-Regime verhasst, weil es seine Bürger eingesperrt und unterdrückt hatte. Die dritten interessierten sich überhaupt nicht für die DDR – und ignorierten auch die Stasi-Spitzel im Westen, auf die viele auch in der vermeintlich aufgeklärten bundesdeutschen Gesellschaft reingefallen waren. Getäuscht, genauso wie DDR-Bürger, die von Inoffiziellen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes beobachtet und bedrängt wurden – oder, viel schlimmer noch, der psychologischen Zersetzung ausgeliefert waren.

In den ersten Nachwendejahren beherrschten spektakuläre Fälle von enttarnten IMs die öffentliche Debatte. Eine tückische Mischung aus berechtigten, bisweilen übertriebenen oder gänzlich ungerechtfertigten Vorwürfen wurde lanciert und diskutiert – nicht immer in lauterer Absicht.

In dieser Atmosphäre sollte auf parlamentarischer Ebene eine Enquete-Kommission aufklärend wirken. Kann ein politisches Gremium das tatsächlich leisten? Konnte die Kommission zu objektiven Bewertungen kommen und zur Befriedung, zur inneren Einheit beitragen?

Heute wird ihr von Wissenschaftlern, die transitional justice in postdiktatorischen Systemen untersuchen, die Rolle einer Wahrheitskommission zugeschrieben. Damals war sie hoch umstritten.

Tatsächlich wurden viele SED-Opfer gehört – und deren Leid anerkannt. Später folgten Rehabilitierungsverfahren – denn die Enquete-Kommission gab auch politische Handlungsempfehlungen.

Wer die beachtlichen 32 Bände mit den Dokumenten und Berichten der Kommissionen aus beiden Legislaturperioden anschaut, muss erst einmal beeindruckt sein: Von der schieren Fülle dessen, was zwischen 1992 und 1998 verhandelt und zu Papier gebracht wurde. Die Enquete-Kommission hörte Zeitzeugen, Sachverständige und Wissenschaftler – keine unbedingt leichtgängige Kombination. Der Zeitzeuge erträgt nicht immer, was aus akademischer Sicht bewiesen ist.

Die Akteure damals hatten oft mehrere Rollen inne, waren Abgeordnete und Protagonisten in der DDR-Opposition – wie die hier anwesenden Pfarrer Rainer Eppelmann und Markus Meckel, deren Engagement auch für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur prägend war und ist.    

Auch die Gründung der Bundesstiftung vor zwanzig Jahren geht auf die Enquete-Kommission zurück. Die Stiftung sollte die Aufarbeitung weiterführen und in der Gesellschaft das Bewusstsein für die DDR-Geschichte verankern. Das geschieht in vielfältiger Weise und setzt die Arbeit des Parlaments von damals fort.

Meine Damen und Herren,

dem Deutschen Bundestag wurde vorgehalten, mit den Enquete-Kommissionen wildere er auf einem Feld, auf dem Politik nichts zu suchen habe. Der Historikertag mit seiner umstrittenen Resolution hat gerade wieder gezeigt, wie brisant die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft ist.

Wie mit Geschichte gezündelt wird, zeigt bis heute der Begriff „Unrechtsstaat“. Das Wort löst Emotionen aus. Wer öffentlich bezweifelt, dass die DDR ein „Unrechtsstaat“ war, kann damit Beifall erheischen. Der Rechtsstaat schützt immer auch diejenigen, denen er fremd ist.

In der Nachwendezeit lautete der Vorwurf, aus politischen Motiven solle die Enquete-Kommission eine staatsoffizielle Geschichtsinterpretation arbeiten und ein letztgültiges Urteil über die DDR fällen. Die Aufarbeitung werde in den Dienst der Selbstlegitimation der Bundesrepublik gestellt. „Siegermentalität“ lautete ein Schlagwort – ungeachtet der Tatsache, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien, auch die damalige PDS, vertreten waren und vieles kontrovers diskutiert wurde.  

Ein weiterer Einwand scheint mir widerlegt: die Befürchtung, die Beschäftigung mit dem SED-Staat würde den Blick auf den NS-Staat verstellen und dessen Verbrechen relativieren.      

Es bleibt festzuhalten: Die beiden Enquete-Kommissionen standen vor großen Herausforderungen. Ihre Mitglieder haben nach bestem Wissen und Gewissen, mit Elan und Umsicht gearbeitet.

Eine Herausforderung indes bleibt: „Das demokratische Selbstbewusstsein zu stärken und eine gemeinsame politische Kultur zu entwickeln.“  

So hieß es vor 26 Jahren – und das ist nicht leichter geworden. Es gibt Menschen, die sich nicht wahrgenommen fühlen. Die das Gefühl haben, ihre Lebensleistung werde nicht anerkannt. In dieser Seelenlage hilft der Hinweis auf demokratische Grundrechte nicht. Denn ihnen geht es um ein verlorenes Heimatgefühl. Es sei geraubt worden, sagen die Populisten. Und versprechen, das Geraubte zurückzubringen. Sie kennen angeblich die Täter und wollen diese aus dem Land jagen. Das geht im demokratischen Rechtsstaat nicht. Zum Glück. Jedem Menschen ohne Ansehen seiner politischen Haltung, Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Nationalität stehen die gleichen Rechte zu. In der DDR war das anders. Es bleibt unsere Aufgabe, diesen Unterschied zu vermitteln.  

Ich hoffe, dass auch die DDR und vor allem die friedliche Wiederherstellung der Deutschen Einheit in unserem gemeinsamen kulturellen Gedächtnis einen Platz finden – wie die Menschen, die den zweiten deutschen Staat erlebt oder erlitten haben. Diejenigen, die geflohen sind. Jene, die in der Friedlichen Revolution den Mut hatten, ihre Meinung zu sagen. Und jene, die immer noch glauben, der DDR-Teil der deutschen Geschichte habe nichts mit ihnen zu tun. In den Anhörungen der Enquete-Kommissionen kamen alle zu Wort.

Sie sind inzwischen Teil der deutschen Parlamentsgeschichte. Diese Geschichte lädt dazu ein, interpretiert zu werden. Immer wieder neu. Kommende Generationen müssen eigenen Fragen stellen. Sie werden nicht nur Erkundigungen über die DDR einholen, sondern auch über unseren Umgang mit ihr. Auskunft geben die bekannten 32 roten Bände. Ab jetzt sind sie – wie andere Quellen auch – online zugänglich. Das begrüße ich ausdrücklich. Denn im „Wiedervereinigungsplankton“ steckt durchaus ein hoher gesellschaftspolitischer Nährwert.  

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