07.11.2018 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Ausstellung „14/18 – Damals nicht, jetzt nicht, niemals!“ in Berlin

(Es gilt das gesprochene Wort)

14/18. Das ist ein Kürzel, eine historische Chiffre, die in vielen europäischen Nationen bis in die Gegenwart hinein eine hohe Bedeutung hat. 
Der Erste Weltkrieg endete vor 100 Jahren. Materielle Spuren finden sich noch heute – in der Erde der einstigen Schlachtfelder. In Nordfrankreich zum Beispiel. Dort verbergen sich in den Äckern immer noch Granatsplitter, Uniformknöpfe oder menschliche Überreste. Von Soldaten, die hier in einem jahrelangen, sinnlosen Stellungskrieg zu Tode gekommen sind. 
In dem hoch über die Landschaft ragenden Mahnmal, dem Beinhaus in Douaumont bei Verdun, ruhen die sterblichen Überreste von mehr als   130. 000 nicht identifizierten französischen und deutschen Soldaten. Von der Anhöhe mit dem einstigen Fort ist nicht zu übersehen: Der Wald rings herum steht auf unebenem Grund. Die Natur hat sich der Erde wieder bemächtigt, aber auch 100 Jahre nach Kriegsende bleiben tiefe Trichter, zerklüftete, kontaminierte Böden und zerstörte Dörfer, in denen niemand mehr wohnt. Villages phantômes: sie haben einen Bürgermeister, eine Postleitzahl, ein Kriegerdenkmal, aber keine Einwohner. 
Der Krieg hat einen verwundeten Landstrich hinterlassen. Und in ganz Europa Familien, die Tote zu beklagen hatten. Soldaten, die von der Front zurückkamen, waren verwundet – auch jene, die körperlich unversehrt geblieben waren. In der zivilen Welt kamen viele von ihnen nicht mehr zurecht, sie konnten ihre Erlebnisse nicht vergessen.  
Die Baumstämme, aus denen die vielfältigen Werke in dieser Ausstellung entstanden sind, stammen aus einer anderen immer wieder umkämpften Region Europas, dem Elsass. Auch dieses Holz trägt Spuren der Kriege in sich. 
Den Künstlerinnen und Künstlern aus den einst kriegführenden Nationen, die sich an diesem außergewöhnlichen Projekt beteiligt haben, war aufgegeben, sich mit dem Thema „Krieg“ oder besser: „Nie wieder Krieg“ auseinanderzusetzen. Und sie haben zugleich mit authentischem, mit versehrtem Material gearbeitet – eine besondere Herausforderung. 
Die aus Eichenholzquadern entstandenen Werke könnten unterschiedlicher kaum sein, mit künstlerischen Mitteln setzen sie verschiedene Akzente – doch alle erzählen eindrücklich vom Schrecken des Krieges, von psychischen und physischen Verwundungen, von Zerstörung – und vom Frieden. Von der Hoffnung auf Frieden. 
Für uns scheint er selbstverständlich. Seit 1945. Wir sind geprägt von politischen Gesten der Versöhnung: Der Handreichung über den Gräbern derer, die sich noch als „Erbfeinde“ gegenüberstanden. Wir haben mit unseren Nachbarn Frieden geschlossen und erkennen Grenzen an. 
Der Krieg, für den die Chiffre 14/18 steht, und der Zweite Weltkrieg, der Verheerungen in noch größerem Ausmaß hinterließ, sind uns eine Mahnung.
Auch diese mahnende Aussage steckt in der Ausstellung. „14/18. Damals nicht, jetzt nicht, niemals!“. Ursprünglich ist das der Titel eines in den Niederlanden erschienenen Buches, das im Deutschen schlicht: „Im letzten Augenblick“ heißt. Es sind die Kriegs- und Nachkriegs¬erinnerungen einer Künstlerin, die vor zwei Jahren verstorben ist. Truus Menger-Oversteegen. 
Als Kind gehörte sie – gemeinsam mit ihrer Schwester – dem bewaffneten kommunistischen Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer an. Als Rotkreuzschwester getarnt half sie, jüdische Kinder vor Verfolgung und der drohenden Deportation in Sicherheit zu bringen. Truus Menger-Oversteegen berichtet auch davon, wie ein solcher Fluchtversuch misslang. Wie auf ein Boot mit fliehenden Kindern geschossen wurde. Ein kleines Mädchen aus diesem Boot konnte sie retten. Die Erinnerung an die anderen, vor ihren Augen untergegangenen Kinder wurde sie nie wieder los. 
Auch Truus Menger-Oversteegen war eine Versehrte – geprägt von ihren Kindheits- und Kriegserlebnissen. In Israel, in Yad Vashem, wird sie für ihren Widerstand als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Auch hier wieder Bäume. Sie werden zur Erinnerung gepflanzt, schlagen Wurzeln und sollen auch für kommende Generationen Zeichen der Hoffnung sein.  
Sie zeigen uns – wie die hölzernen Werke dieser Ausstellung –, dass der Friede und die Demokratie, in der wir leben, alles andere als selbstverständlich sind. Da sind sich die Demokratie und der Friede ähnlich: Sie sind zerbrechlich, angreifbar, auch im 21. Jahrhundert in vielfältiger Weise Bedrohungen ausgesetzt. Insbesondere dann, wenn ihnen diejenigen abhandenkommen, die beides aktiv pflegen. 
Weit verzweigt sind die Verbindungen derer, die auf nationaler und internationaler Ebene für Rechtsstaatlichkeit und Gewaltverzicht eintreten – auch Künstler in aller Welt. Doch hat das Netz unübersehbare Löcher bekommen. Auch diese besorgniserregende Entwicklung spiegelt sich in den hier ausgestellten Werken. 
Friede und Demokratie sind eben keineswegs zwangsläufig, sie beruhen letztlich auf Verabredungen. Und darauf, dass diese auch dauerhaft eingehalten werden. 
Wir sind nach zwei Weltkriegen die Verpflichtung eingegangen, den Frieden zu wahren und zu verteidigen – und wir wissen, dass dies in einer komplexer werdenden Welt mit ihren vielen verknüpften Konfliktlinien eine immense Herausforderung bleibt.   
Wie rasch Konflikte auch in Europa, auch nach dem friedlichen Ende der Teilung der Welt in Ost und West, vom „kalten“ zum „heißen“ Krieg gerät, hat uns der Bosnienkrieg vor Augen geführt. Und fast scheinen wir uns schon daran gewöhnt zu haben, dass auch in der Ukraine weiter ein Konflikt schwelt, der mit Waffengewalt ausgetragen wird. 
Wir leben in Frieden, wir sind vom Frieden verwöhnt – während selbst auf unserem Kontinent im 21. Jahrhundert manche Menschen diesen Zustand nicht mehr kennen. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den großen Themen Krieg und Frieden ist umso wichtiger. So wünsche ich dieser Ausstellung nicht nur hier im Deutschen Bundestag viele interessierte Besucher – und ihrer Kernbotschaft eine nachhaltige Wirkung. 

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