Parlament

Festvortrag zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 in der Humboldt-Universität in Berlin „Europa der Bürger - parlamentarische Perspektiven der Union nach dem Lissabon-Vertrag“


Sehr geehrter Herr Professor Pernice,
Herr Petschke,
Herr Hänel,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr für die freundliche Einladung und die liebenswürdige Begrüßung. Ich bin gerne gekommen, schon gar zu diesem Anlass. Und ich bin auch sehr beeindruckt, dass Europa von Zeit zu Zeit sogar noch öffentliche Aufmerksamkeit findet. Jedenfalls, wenn es solche herausgehobenen Anlässe gibt. Ob das, was ich heute Abend vortrage, ein Festvortrag wird, weiß ich noch nicht genau. Eher wahrscheinlich ein Arbeitsbericht von einer Dauerbaustelle, die über das Richtfest weit hinausgekommen ist. Aber von einem endgültigen Abschluss der Bauarbeiten kann sicher bei nüchterner Betrachtung keine Rede sein.

Der Lissabon-Vertrag, meine Damen und Herren, ist nicht der erste und nach menschlichen Ermessen auch nicht der letzte Schritt auf dem langen, aber endlich gemeinsamen Weg in eine gemeinsame Zukunft Europas. Das mühsame Zustandekommen dieses Vertrages und das späte Inkrafttreten haben naheliegender Weise in einem längeren Zeitraum eine Fülle von Betrachtungen, Kommentaren, Erwartungen und Befürchtungen ausgelöst, die nicht allesamt freundlich waren, für die es aber jeweils nachvollziehbare, beachtliche Gründe gibt. Alan Posener hat am vergangenen Wochenende in einer großen Sonntagszeitung seinen Kommentar zum bevorstehenden heutigen Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages mit der Vermutung versehen – ich zitiere: „… in Europas Straßen wird man nicht tanzen…“. Mir liegen auch noch keine gegenteiligen Agenturmeldungen vor. Und er hat hinzugefügt: „Niemand wird behaupten wollen, von hier und heute gehe eine neue Epoche der Weltgeschichte aus. Und das ist bedenklich, denn es hat unübersehbar eine neue Epoche begonnen.“.

Beides ist richtig, jedenfalls nach meiner Beurteilung. Hier beginnt ganz sicher nicht eine neue Epoche der Weltgeschichte. Aber mit dem Lissaboner Vertrag werden mehr als ein paar Gerüste von der Baustelle abgeräumt. Der Bau gewinnt zunehmend Konturen. Was im übrigen sowohl diejenigen, denen diese Konturen gefallen, wie diejenigen, die davon nicht so begeistert sind, zu Recht mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen. Würdigen kann man das, was in Lissabon zustandegekommen ist, nur im Kontext der Vorgeschichte, so wie sich die große Errungenschaft dieser europäischen Gemeinschaft, um die es sich zweifellos handelt, ja ohnehin nicht begreifen lässt in der täglichen Auseinandersetzung um diesen oder jenen kleinen Fortschritt oder das, was man dafür hält, sondern im Kontext des prinzipiellen Unterschieds zu den Verhältnissen, die Europa und das Verhältnis seiner Staaten und Völker zueinander Jahrzehnte und Jahrhunderte lang vorher gekennzeichnet haben.

Über den Lissaboner Vertrag und seine Bedeutung kann man nicht sprechen, ohne über den Nizzavertrag und seine Enttäuschungen zu reden, über die damals gescheiterte Reform im Dezember 2000 – pünktlich zur Weihnachtszeit, wie alle großen Initiativen der letzten Jahre. Und dann der große Aufbruch 2001, wiederum im Dezember, mit der Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs, eine Verfassung Europas zu entwickeln, eine Verfassung für die Bürger, die mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Effizienz der europäischen Gemeinschaft und ihrer Organe ermöglichen sollte. Sie kennen die Leidensgeschichte dieses Vertrages, des Entwurfs und seines schließlichen Scheiterns, und Sie kennen die Ambitionen nicht aller, aber vieler der damals Beteiligten wie der später in Verantwortung Nachgewachsenen, die Substanz einer gescheiterten Verfassung in einen Reformvertrag hinüberzuretten. Was wiederum die einen als Mindestvoraussetzung für einen qualitativen Sprung verstanden haben und die anderen als Drohung, einen zweiten Anlauf zu einem, in ihren Augen zu Recht gescheiterten Versuch zu unternehmen. Die Auseinandersetzung über diesen Vertrag hängt natürlich nicht nur, aber ganz wesentlich damit zusammen, dass es über den Bau, über das gemeinsame Haus Europas nach wie vor nicht nur keine identischen Vorstellungen gibt, sondern dass sich mit der Zukunft der Europäischen Union Erwartungen verbinden, die sich zum Teil wechselseitig ausschließen. Und das macht es – dies wird man gerade in einer Hochschule mit ihrer geradezu professionellen Verpflichtung zur kritischen Analyse sagen dürfen – nicht nur verständlich, dass dieser Vertrag nicht allen Ansprüchen genügen kann: es macht es unvermeidlich – schon gar unter den Bedingungen des Einstimmigkeitsprinzips, die bis Lissabon jeden möglichen Fortschritt der europäischen Gemeinschaft bestimmt haben.

Wenn ich die drei großen Ziele, die damals im Zusammenhang mit dem Anlauf zu einer europäischen Verfassung genannt wurden, auch als Kriterium für den Lissabon-Vertrag gelten lasse - mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Effizienz -, dann halte ich den Zuwachs an Transparenz wie an Demokratie für absehbar und beinahe gesichert. Was die Effizienz angeht, bin ich mir nicht ganz so sicher. Mit dem Vertrag von Lissabon sind gewiss nicht alle Probleme Europas gelöst, aber deutlich bessere Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sie überhaupt gelöst werden können. Seit Bestehen der Europäischen Union ist dies ganz sicher der größte Schritt zur Parlamentarisierung europäischer Entscheidungen. Der Vertrag stärkt sowohl die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments als auch die der nationalen Parlamente. Künftig ist es weder rechtlich noch politisch möglich, die Europapolitik weitgehend den Regierungen allein zu überlassen. Mehr Rechte für die Parlamente auf europäischer wie auf nationaler Ebene bedeutet zugleich eine Ausweitung ihrer Verpflichtungen. Der Bundestag hat mit dem Begleitgesetz zum Lissaboner Vertrag, seinem Verbindungsbüro in Brüssel unter Beteiligung der Fraktionen des Deutschen Bundestages, insbesondere aber durch die einzigartige Kooptation von deutschen Mitgliedern des Europäischen Parlamentes in seinen Ausschuss für Europäische Angelegenheiten sichergestellt, den neuen Anforderungen und neuen Kompetenzen gerecht werden zu können.

Da ich mich – wie angekündigt – im wesentlichen auf die parlamentarischen Aspekte dieses Vertrages und die sich daraus ergebenden Perspektiven für die Zukunft konzentrieren will, möchte ich doch einen Satz der Begründung für meine etwas skeptischere Einschätzung zum Effizienzkriterium sagen, bei dem mir die Erfolgsaussichten nicht ganz so ausgeprägt erscheinen, wie das beim Demokratieprinzip und beim Transparenzpostulat der Fall sein könnte.

Ich habe noch einmal nachgelesen, was die Bundeskanzlerin in ihrer Humboldtrede am 27. Mai dieses Jahres zum Lissabon-Vertrag gesagt hat, der damals von allen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet, in den allermeisten Ländern ratifiziert, aber eben noch nicht in Kraft getreten war: „… brauchen wir den Vertrag von Lissabon, denn er wird dem Europäischen Rat einen Präsidenten geben, der über eine Periode von zweieinhalb Jahren mehr Kontinuität in die Arbeit des Europäischen Rates hineinbringt, Interessen bündeln kann und hoffentlich für mehr Schnelligkeit und Praktikabilität der Arbeit sorgt…“. Und als zweite wichtige Veränderung nennt sie: „… der Vertrag von Lissabon wird auch das Europäische Parlament als Mitgesetzgeber stärken…“. Das ist erstaunlich vorsichtig, außerordentlich bescheiden formuliert. Die Kanzlerin wird gewusst haben, warum sie sich so vorsichtig ausdrückt. Denn jeder, der irgendwann einmal auch nur in der Nähe europäischer Personalentscheidungen war, weiß, dass meine allgemeine Bemerkung, dass viele Erwartungen und Ansprüche unterwegs sind, die sich zu einem beachtlichen Teil wechselseitig ausschließen, dafür in besonderer Weise zutrifft. Aber es hat nun auch keinen Sinn, an einem solchen Festtag wie heute darüber hinwegzusehen, dass die Personalentscheidungen, auf die sich vor wenigen Tagen der Europäische Rat im Lichte der Veränderungen des Lissaboner Vertrages hat verständigen können, manche Hoffnungen enttäuscht haben. Und dass es nicht wenige gibt, auf die die getroffenen Personalentscheidungen wirken wie der Widerruf zum Ehrgeiz, den der Lissaboner Vertrag als Konzept vermittelt hat. In Zukunft wird unter dem Gesichtspunkt „Effizienz“ Europa mit drei Präsidenten und einer Vizepräsidentin gleichzeitig auftreten: Dem Präsidenten der Kommission, dem wechselnden halbjährigen Präsidenten des Europäischen Rates, einem scheinbar ständigen Präsidenten, der zweieinhalb Jahre amtiert, und einer Vizepräsidentin der Kommission, die gleichzeitig für auswärtige Angelegenheiten zuständig ist - und damit übrigens für genau den Bereich, der zu den wenigen verbleibenden Politikfeldern gehört, für die es keine ausgeprägte Gemeinschaftszuständigkeit gibt. Das wird spannend.

Nun muss man der Fairness halber hinzufügen, dass die Kritik an einem solchen Tableau sowohl institutionell wie personell entschieden leichter ist als die Herbeiführung von konsensfähigen Entscheidungen. Denn das, was dem einen naheliegend erschien – mir zum Beispiel – mit Blick auf eine ausgewiesene Persönlichkeit mit ausgeprägter europäischer Biografie und nachgewiesenem Führungsvermögen, hat naturgemäß auf manche der handelnden Regierungschefs eher abschreckend als förderlich gewirkt. Und am Ende kommen nur Lösungen zustande, auf die sich alle verständigen können und bei denen dann - das ist der Vorbehalt, den man nun leider machen muss - das Risiko bleibt, dass statt der berühmten verbindlichen Telefonnummer, die Henry Kissinger schon vor über 30 Jahren eingefordert hat, es demnächst vier Telefonnummern gibt, bei denen sich ein amerikanischer oder chinesischer oder japanischer Staats- oder Regierungschef im Zweifelsfall - statt vier Leute der Reihe nach anzurufen - vielleicht lieber gleich an den französischen Präsidenten oder die deutsche Kanzlerin wendet. Wenn Sie da einen kleinen Unterton von Enttäuschung eines engagierten Europäers durchhören sollten, dementiere ich das nicht. Aber ich hoffe, es ist gleichzeitig deutlich geworden, dass ich verstehe, warum es so ist, wie es ist. Und meine Empfehlung ist, die eine Wahrnehmung nicht zugunsten der anderen aufzugeben: nicht wegen der Einsicht in die Unvermeidlichkeit solcher Entscheidungsprozesse das Beobachtungsvermögen einzustellen oder umgekehrt, aus schierer Begeisterung für die Lösung, die man selbst für die richtige hält, all diejenigen unter Generalverdacht zu stellen, die für sich mit ähnlich beachtlichen Argumenten ganz andere Präferenzen in diesem Zusammenhang gebildet haben.

Meine Damen und Herren, ich will im wesentlichen über die parlamentarischen Perspektiven reden und ich tue das um so lieber, weil nach meiner festen Überzeugung dies auch der wichtigste einzelne Fortschritt ist, den dieser Reformvertrag von Lissabon für die Gemeinschaft anbietet. Dieser Reformvertrag leistet den mit Abstand stärksten Beitrag zur Parlamentarisierung der europäischen Entscheidungsverfahren seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Was übrigens auch nicht alle so rundum toll finden, sich aber als Sachverhalt schwerlich übersehen lässt, wie ich hoffentlich verdeutlichen kann. Er wertet nicht nur das Europäische Parlament deutlich auf, übrigens auch und gerade in den bisher weitgehend von Regierungszusammenarbeit geprägten Feldern der Innen- und Justizpolitik, sondern er stärkt vor allem die nationalen Parlamente. Ich will dazu einige Hinweise geben und bitte um Nachsicht, wenn ich jetzt naturgemäß manches vortrage, das vielen von Ihnen natürlich vertraut sein wird.

Erstens: Als erster europäischer Vertrag verankert der Vertrag von Lissabon den Grundsatz der repräsentativen Demokratie ausdrücklich im EU-Primärrecht. Das hatten wir bislang nicht. Es müsste eigentlich beim Bundesverfassungsgericht zu Entzückungen führen, weil genau dies im Maastricht-Vertrag 1993 ausdrücklich eingefordert worden war.

Zweitens: Im Einklang gerade mit diesen von Karlsruhe immer wieder eingeforderten Ansprüchen werden die nationalen Parlamente im neuen Vertrag noch vor dem Europäischen Parlament genannt, nämlich im Artikel 12 vor den dann folgenden Artikeln 13, 14 und folgenden, die die Rolle des europäischen Parlamentes regeln, und durch diese neue Vorschrift mit eigenen Informations-, Kontroll- und Mitwirkungsrechten ausgestattet. Zwei dem EU-Vertrag durch den Reformvertrag beigefügte Protokolle – das Parlamenteprotokoll und das Subsidaritätsprotokoll – konkretisieren diese parlamentarischen Rechte im Einzelnen.

Drittens: Der Vertrag von Lissabon macht die nationalen Parlamente zu Wächtern der Subsidiarität in der EU. Das ist überfällig, zumal ich weit und breit keine andere politische Institution mit Verfassungsrang sehe, die sonst eine solche Subsidaritätskontrolle mit Aussicht auf Erfolg wahrnehmen könnte. Die Europäische Kommission hat dezidiert die umgekehrte Aufgabe. Sie ist auf Gemeinschaftshandeln programmiert. Der Europäische Ministerrat handelt entweder gar nicht oder europäisch. Das europäische Parlament muss sich in der Logik seines Selbstverständnisses als Vertretung der europäischen Bürger verstehen und nicht als verlängerter Arm der Nationalstaaten und auch nicht der nationalen Parlamente. Wenn also überhaupt in diesem Europa von Nationalstaaten die Subsidiarität nicht nur eine nostalgische Erinnerungsfigur an überkommene Zeiten sein soll – was übrigens auch eine denkbare und legitime europapolitische Vorstellung wäre –, sondern wenn dies Gestaltungsprinzip bleiben soll, kommen bei nüchterner Betrachtung eigentlich nur die nationalen Parlamente als Hüter der Subsidiarität ernsthaft in Frage. Dies nimmt dieser Vertrag ausdrücklich nicht nur in Kauf, sondern zur Kenntnis und setzt damit einen – wie ich finde – ebenso wirklichkeitsnahen wie politisch bedeutsamen Akzent.

Viertens: Jedes nationale Parlament erhält im Lissabon-Vertrag das Recht, gegen EU-Rechtsakte, die aus seiner Sicht gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen, direkt vor dem EuGH Subsidaritätsklage zu erheben. Dieses Klagerecht steht bei uns in Deutschland sowohl dem Bundestag wie dem Bundesrat zu.

Fünftens: Auch wenn der neue Vertrag Mehrheitsentscheidungen nicht nur erlaubt, sondern in Zukunft hoffentlich zur Regel macht und damit die eingebaute Blockade aufhebt, die das Einstimmigkeitsprinzip nach sich zieht, bleibt es auch in Zukunft in zentralen außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen beim Erfordernis der Einstimmigkeit im EU-Ministerrat, so dass jedes nationale Parlament über seine Regierung bestimmenden Einfluss behält. Das gilt ganz besonders für mögliche EU-Militärmissionen, die überhaupt nur dann mit deutscher Beteiligung stattfinden dürfen, wenn Deutschland dazu im Rat seine Zustimmung erteilt, was wiederrum nicht erfolgen kann, wenn es nicht die vorherige Zustimmung des Bundestages dazu gegeben hat. Eine sehr übersichtliche, wenn auch nicht völlig unkomplizierte Lage.

Sechstens: Auch in Zukunft bleiben Vertragsänderungen, Beitritte weiterer Mitgliedsstaaten, Beschlüsse über die Finanzmittel der EU ratifizierungsbedürftig, treten also nur dann in Kraft, wenn jedes nationale Parlament seine Zustimmung gegeben hat.

Siebtens: Verfahrensrechtlich erschwert, aber im Lichte der Subsidaritätsklausel - wie ich finde – zu Recht erschwert, wird im Reformvertrag die Anwendung der sogenannten Flexibilitätsklausel, die es der EU ermöglicht, Beschlüsse ausnahmsweise auch dann zu fassen, wenn dazu keine spezielle Rechtsgrundlage in den Verträgen vorgesehen ist. Während dafür heute die Anhörung des Europäischen Parlaments genügt, verlangt der neue Reformvertrag seine ausdrückliche Zustimmung. Eine zusätzliche Einschränkung ergibt sich aus den neuen Kontrollrechten der nationalen Parlamente, die bei Anwendung der Flexibilitätsklausel Einschätzungen der Verletzungen des Subsidiaritätsprinzip rügen und notfalls gerichtlich beanstanden können.

Und schließlich, achtens, erhält jedes nationale Parlament durch den Vertrag von Lissabon ein innerhalb von sechs Monaten ausübbares Vetorecht gegenüber besonderen Vertragsänderungen, die nicht, wie sonst üblich, von einer Regierungskonferenz, sondern einstimmig vom Europäischen Rat mit Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen werden. Das heißt: Bundestag und Bundesrat können künftig verhindern, dass in einem Politikfeld von der Einstimmigkeit im Rat zu Mehrheitsentscheidungen übergegangen wird und beispielsweise das Familienrecht europäisiert wird, auch wenn es dazu eine völkerrechtlich verbindliche Kompetenzzuweisung nicht gibt. Genau diese gelegentlich kritisierte schleichende Ausweitung von Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedsstaaten ist nach dem neuen Vertrag von den nationalen Parlamenten, wenn sie es denn für nötig halten, zu konterkarieren. Mit anderen Worten: die nationalen Parlamente werden zum ersten Mal durch den Vertrag von Lissabon von bisher nur mittelbar Beteiligten, eher ferneren Zuschauern des Unionsgeschehens zu unmittelbaren, mit eigenen einklagbaren Mitwirkungsrechten ausgestatteten Akteuren im EU-Entscheidungsprozess. Oder, etwas salopper formuliert, aus der Rolle von Beobachtern mit dem Recht auf Zwischenrufe werden Teilnehmer mit einklagbaren Rechten auf Mitwirkung und Mitentscheidung. Das ist nun alles andere als eine Lappalie.

Man muss diesen Katalog erweiterter parlamentarischer Mitwirkung nicht gut finden, und ich weiß, dass es Europäer gibt, ansonsten anständige Leute, die das eher für einen Irrweg als für einen Fortschritt halten, und man muss es auch nicht für ausreichend halten, auch da gibt es den einen oder anderen, dessen Ehrgeiz über diese Vereinbarungen hinausreicht. Aber dass dies ein gewaltiger Schritt nach vorne ist, kann man selbst bei bösem Willen unter Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes an intellektueller Redlichkeit nicht bestreiten. Deswegen hat der Präsident unseres Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, wiederum in einem Vortrag hier an der Humboldt-Universität zu Berlin am 21. Februar vorigen Jahres zu Recht begrüßt, dass der Vertrag von Lissabon die nationalen Parlamente als zweiten Legitimationsstrang der Europäischen Union substantiell stärkt und sie „(…) selbst in den Rang europäischer Akteure erhebt.“ Dies liegt auf der Linie einer früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ich vorhin indirekt schon einmal angesprochen, aber noch nicht zitiert habe, nämlich dem berühmten Maastricht-Urteil von 1993. Damals hat das Bundesverfassungsgericht seine Erwartungen an die Entwicklung der Demokratie in der Europäischen Union wie folgt formuliert: „Entscheidend ist, sowohl aus vertraglicher wie aus verfassungsrechtlicher Sicht, dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedsstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.“ Dieser Anspruch wird vom Lissaboner Vertrag zweifellos erfüllt, und deswegen kann es nicht weiter überraschen, dass die Klage mit dem Ziel der Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Lissaboner Vertrages im Lichte des Grundgesetzes, im Lichte der eigenen Kriterien des Bundesverfassungsgerichts scheitern musste.

Damit sind wir bei dem nicht ganz undelikaten Teil der rechtlichen Bewertung des Lissabon-Vertrages und dem, was das Bundesverfassungsgericht dazu pflichtgemäß entscheiden musste, und dem, was es nicht unbedingt hätte hinzufügen müssen, aber aus welchen Gründen auch immer glaubte, dringend hinzufügen zu sollen. Das ist nun unter vielerlei Gesichtspunkten hoch interessant und nach meiner persönlichen Einschätzung nicht ganz so überzeugend wie der erste Teil, der sich mit der vermeintlichen Verfassungswidrigkeit des Lissabon-Vertrages und der Notwendigkeit einer Stärkung auch und gerade der nationalen Parlamente im Entscheidungsprozess auseinandersetzt, in diesem Falle: des Bundestages. Diesen Teil des Urteils finde ich wie fast jeder, insofern ist diese Bemerkung völlig unoriginell, rundum überzeugend, sowohl was die Zurückweisung der Klage im Grundsatz als auch was die eingeforderte Stärkung der Rolle des Parlaments betrifft, bei der aus einer ohnehin vorhandenen Vereinbarung über Informationspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Parlament nun eine gesetzliche Verpflichtung geworden ist. Dabei hat sich nicht der Inhalt der Verpflichtungen verändert, wohl aber in erheblicher Weise ihre rechtliche Relevanz.

Dieser Teil gefällt mir außerordentlich gut, zumal man, da wird es dem einen oder anderen von Ihnen vielleicht gelegentlich ähnlich gehen, bei Streitfragen lieber Recht behält als im Unrecht bleibt. Als wir zu Beginn der letzten Legislaturperiode Gespräche mit der Bundesregierung darüber aufgenommen haben, wie wir und die Regierung sich in Zukunft die Kooperation in europäischen Angelegenheiten vorstellen, war, etwas vereinfacht formuliert, die dann später zustande gekommene Vereinbarung der Bundesregierung zu ehrgeizig. Ich habe damals zu denjenigen gehört, die genau die gegenteilige Auffassung vertraten, dass der mit dieser informellen Vereinbarung verbundene Anspruch hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt, die wir im Kontext der ja damals schon absehbaren, wenn auch nicht in Kraft getretenen neuen Lissaboner Kompetenzzuweisungen dringend brauchen. Deswegen nutze ich auch die heutige Gelegenheit gerne, mich beim Bundesverfassungsgericht insofern ausdrücklich für die Unterstützung zu bedanken, die es bezüglich dieser Streitfrage glücklicherweise gegeben hat.

Gleiche Glücksgefühle empfinde ich in dem Teil des Urteils weniger, der sich mit der Beantwortung von Fragen beschäftigt, die weit über die beklagten Regelungen des Lissabon-Vertrages hinausgehen. Nämlich, ob dieser europäische Integrationsprozess Grenzen habe und wo die lägen und wann notfalls anstelle parlamentarischer Entscheidungen Gerichtsentscheidungen den Fortgang Europas zu bestimmen haben. Das finde ich offengestanden kühn und nach meinem persönlichen Urteil –  ich rede hier für niemanden als für mich selbst – weder historisch noch politisch noch juristisch begründet. Und ich fühle mich natürlich ermutigt durch manche Zwischenrufe, auch aus der wissenschaftlichen Diskussion, die ebenfalls deutliche Vorbehalte gegen diesen Teil des Verfassungsgerichtsurteils angemerkt haben. Mit der besonderen Betonung nationaler Souveränität, die man durchaus bedeutend finden kann, auch wenn sie mit Blick auf die realen politischen Verhältnisse längst nicht mehr existiert, aber als Denkfigur natürlich wunderschön, beschwört das Bundesverfassungsgericht ein Kriterium, das in der Literatur immer wieder, aber im Grundgesetz überhaupt nicht vorkommt. Für ein oberstes Gericht, das eine Verfassung zu interpretieren hat, die es gibt, und nicht eine, die man gerne hätte, ist die Inflationierung eines Kriteriums, das in der Verfassung gar nicht vorkommt, schon ein vergleichsweise kühner Zugriff. Und die gleichzeitig besonders kräftigen Fragezeichen an der Legitimation des Europäischen Parlaments finde ich auch erstaunlich. Das Europäische Parlament, ich zitiere: „… ist weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt und innerhalb des supranationalen Interessenausgleichs zwischen den Staaten nicht zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen…“. Eine auch nur andeutungsweise ähnliche In-Fragestellung der „gleichheitsgerechten Zusammensetzung“ des Bundesrates und seiner „maßgeblichen“ Beteiligung an „politischen Leitentscheidungen“ ist mir in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes bislang nicht erinnerlich.

Ich möchte gerne - weil wir hier natürlich eine offene Wunde, manche sagen, eine Zeitbombe ticken haben - darauf hinweisen, dass die nach meinem Empfinden weitestreichende Abtretung nationaler Souveränitätsrechte, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat, schon vier Jahre vor den Römischen Verträgen und damit vor Begründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit dem EVG-Vertrag stattgefunden hat: mit dem Vertrag einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die schon gar nach dem damaligen Selbstverständnis europäischer Nationalstaaten eine geradezu unglaubliche Bereitschaft der Abtretung von nationalen Kernsouveränitätsrechten zum Gegenstand hatte, nämlich dem Verzicht auf eigene Strukturen nationaler Sicherheit zu Gunsten einer zunächst bilateralen, aber wie der Vertragstitel schon deutlich macht, von der Intention her europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Dieser Vertrag ist im Deutschen Bundestag mit den, wie sich später herausstellen sollte, traditionellen hohen Mehrheiten ratifiziert worden. Er ist auch nicht vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert, sondern in der Assembleé Nationale, weil aus Gründen, die sich gut nachvollziehen lassen, die Neigung zu einer solchen Form von Supranationalität aus naheliegenden Gründen in Deutschland um Längen ausgeprägter war als in Frankreich zum damaligen Zeitpunkt.

Seit dieser Zeit sind alle wesentlichen Integrationsentscheidungen, alle Integrationsfortschritte, alle Reformverträge, die den Weg von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union kennzeichnen, mit überragenden Mehrheiten im Deutschen Bundestag nahezu unabhängig von der jeweiligen Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition getroffen worden. Mir fehlt, wie Christoph Möllers, ein bisschen die Fantasie, vielleicht auch das Verständnis für die Vermutung, was bei einer ganz offenkundigen, unmissverständlichen, eindeutigen demokratischen Legitimation dieses Prozesses die Frage soll, ob von einem bestimmten politisch gewollten und mit hohen Mehrheiten demokratisch beschlossenen Integrationsprozess an Gerichte deren Zulässigkeit prüfen und notfalls anhalten können.

Die Wahrnehmung dessen, was in Zeiten der Globalisierung der Nationalstaaten an Souveränität verblieben ist, liegt bei den Parlamenten. In Deutschland mehr als irgendwo sonst beim Bundestag. Er entscheidet, ob überhaupt und wo und in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland nationale Kompetenzen an die Europäische Gemeinschaft oder an internationale Organisationen zu übertragen bereit ist. Nicht die Gerichte. Sie sind weder für Politik zuständig noch für Gesetzgebung. Sie legen die Gesetze im Lichte unserer Verfassung aus. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Deshalb fühle ich mich durch die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts bezüglich möglicher weiterer Integrationsschritte weder in meinem Urteilsvermögen beeinträchtigt noch in meinem politischen Mandat. Und ich habe die begründete Erwartung, dass künftige neu zusammengesetzte Parlamente das für sich mit gleicher Selbstverständlichkeit reklamieren wie ich das für mich und für diesen Bundestag tue.

Meine Damen und Herren, nachdem vorhin Willy Brandt mit einem den europäischen Integrationsprozess wunderschön charakterisierenden Satz zitiert worden ist, darf Konrad Adenauer zum Schluss nicht fehlen. Er hat sich weniger mit Elefanten beschäftigt, obwohl der Parlamentarische Rat, dessen Vorsitzender er war, bekanntlich im Museum König unter Giraffen getagt hat. „Am Anfang“, hat Konrad Adenauer gesagt, und mit Anfang meinte er den Anfang, noch vor Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, noch vor Verabschiedung der Römischen Verträge: „… am Anfang war Europa ein Traum von wenigen. Dann wurde es eine Hoffnung für viele. Inzwischen ist es eine Notwendigkeit für alle.“ Die Einsicht in diese Notwendigkeit erklärt den erstaunlichen Prozess der europäischen Entwicklung der letzten 50 Jahre sowohl unter quantitativen wie unter qualitativen Gesichtspunkten. Sie erklärt, warum sich dieser Gemeinschaft von zunächst ganzen sechs Mitgliedsstaaten immer mehr Länder anschließen wollten und angeschlossen haben: Neun, dann zwölf, dann fünfzehn, dann fünfundzwanzig, dann siebenundzwanzig. Und wir wissen alle, dass der Prozess damit noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Es gibt Anlass darauf hinzuweisen, dass ein ganz besonders spannender Teil dieser Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit in den 90er Jahren stattgefunden hat, nach den großen revolutionären Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa, in deren Zusammenhang auch die Wiederherstellung der deutschen Einheit möglich wurde. Denn damals ging es um die bis heute nicht gänzlich entschiedene Frage, ob eigentlich die Vertiefung der Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft in den damaligen fünfzehn Mitgliedsstaaten oder die Erweiterung dieser Gemeinschaft um die Länder, die jahrzehntelang auf Grund der gegebenen politischen Verhältnisse an der Mitgliedschaft gehindert waren, Vorrang haben müssen. Ich glaube, man tritt niemanden zu nahe, wenn man heute mit vielleicht noch nicht hinreichendem zeitlichen Abstand sagt: Damals ist mit beachtlichen Gründen der Erweiterung Vorrang vor der Vertiefung eingeräumt worden. Ob das alternativlos war, darüber werden sich noch ganze Generationen von Historikern streiten, was für die Nachbesetzung freiwerdender Lehrstühle zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Vielleicht wären auch die umgekehrten Kollateralschäden viel ärger als die, die mit dieser Prioritätsentscheidung verbunden waren. Aber ich weise auf diesen Zielkonflikt hin, weil jedenfalls eine der immer wieder vorgetragenen Begründungen des großen Europäers Helmut Kohl, warum die Erweiterung Vorrang haben müsse vor der Vertiefung, sich im Lichte der weiteren Erfahrungen nicht bestätigt hat: die Erweiterung werde die Vertiefung erzwingen, die im Kreis von fünfzehn Mitgliedsstaaten nicht zu vereinbaren war.

Auch die Freude über den 1. Dezember 2009 mit dem Inkrafttreten eines Vertrages, von dem manche befürchtet und einige wenige gehofft haben, dass er nie in Kraft treten würde, darf den Blick nicht trüben, dass wir natürlich und unvermeidlicherweise in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht haben, dass schon gar unter den Bedingungen des Einstimmigkeitsprinzips Fortschritte unter siebenundzwanzig Beteiligten nicht leichter sein können als unter fünfzehn oder zwölf. Aber Europa muss auch nach Lissabon die Frage beantworten, welche Gemeinschaft über das Konzept eines großen Wirtschaftsraumes hinaus, welche Vorstellung einer politischen Union es tatsächlich realisieren will. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen einem Europa von weniger Staaten, die eng zusammenarbeiten und möglichst vielen, die mal eben so, wie es der jeweiligen Interessenlage entspricht, zusammenarbeiten oder auch nicht, zögere ich keinen Augenblick, mich für die erste Alternative zu entscheiden. Und ich beziehe diese Position in der festen Überzeugung, dass sich hier nicht eine verselbstständigte europäische Begeisterung austobt, sondern dass ich damit die Interessen verfolge, die ich als Deutscher in ähnlicher Weise in Zukunft gerne wahrnehmen möchte, wie das Franzosen tun und Briten und Polen und Portugiesen und Balten und Niederländer und wer auch immer in dieser Gemeinschaft.

Vielleicht ist der Hinweis nützlich, dass die Europäische Gemeinschaft zu Zeiten ihrer Gründung mit ihrer damaligen Bevölkerung etwa ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachte. 50 Jahre danach ist Europa wesentlich größer geworden, und der Anteil an der Weltbevölkerung hat sich halbiert. Der statistische Anteil ist um so kleiner geworden, je größer die Gemeinschaft geworden ist. Und selbst das größte Mitgliedsland der Gemeinschaft, Deutschland, spielt als Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung keine wirklich entscheidende Rolle. Das mag eine leichte Übertreibung eines im Kern, wie ich fest überzeugt bin, zutreffenden Sachverhaltes sein. Und wenn diese Beobachtung für Deutschland richtig ist, dann beantwortet sich die Frage für die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft in einer übersichtlichen Form in ähnlicher Weise.

Wenn der Integrationsprozess Europas nicht vorankommt, nicht weiter vorankommt, weil uns der Mut verlassen hat, weil uns die falsche Einschätzung der eigenen Interessen und die Unterschätzung der Notwendigkeit, diese Interessen zu bündeln, um sie überhaupt wahrnehmen zu können, daran hindert, weiter ins 21. Jahrhundert nach vorne zu marschieren, statt jeweils einzeln zurück ins 19. Jahrhundert, dann hat Europa seine Zukunft hinter sich. Und jeder einzelne Staat ganz gewiss. Es wäre die mutlose und zugleich übermütige Wiederherstellung eines Zustandes, den dieser Kontinent mit Beginn des Baus der Gemeinschaft hinter sich lassen wollte: Die Rivalität von Nationalstaaten, deren Ehrgeiz größer ist als ihre Möglichkeiten. Wir brauchen aber ein Europa, dessen Möglichkeiten über den Ehrgeiz seiner Mitgliedsstaaten hinausreicht - ein Europa selbstbewusster Bürger.

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Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert am Tag der Konstituierung des 17. Bundestages

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die erneute Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bundestages ist eine hohe Auszeichnung und eine große Verpflichtung. Das eine ist mir so bewusst wie das andere.

Vor vier Jahren hat mich der 16. Deutsche Bundestag mit einem ungewöhnlichen Vertrauensvorschuss in dieses Amt gewählt. Ich bedanke mich bei allen, die mir heute auch nach stattgefundenen Erfahrungen in der Wahrnehmung des Amtes ihre Stimme gegeben haben, zunächst bei meiner eigenen Fraktion, die mich trotz gelegentlicher Neigung zu Selbstständigkeit und Hartnäckigkeit, auch gegenüber deren besonderen Wünschen und Erwartungen, für dieses Amt erneut vorgeschlagen hat ‑ in Kenntnis des Risikos, dass das so bleiben wird.

Ich freue mich natürlich ‑ das werden Sie verstehen ‑, dass mein Bemühen eine so breite Anerkennung gefunden hat, dieses hohe Amt so überparteilich wie eben möglich zu führen und unser Parlament nach innen wie nach außen würdig zu vertreten. Dafür bin ich besonders dankbar, und ich versichere Ihnen gerne, dass ich mich nach Kräften weiterhin genau darum bemühen werde, auch wenn dies sicher nicht immer gleich gut gelingt.

Zugleich bitte ich um Verständnis, wenn ich nach Ihrem Votum nun auch um Ihre Unterstützung bei den notwendigen Bemühungen um eine weitere Verbesserung unserer parlamentarischen Arbeit bitte, zu der ich nach meiner Festrede zum 60. Geburtstag des Bundestages im September heute einige durchaus selbstkritische Anmerkungen machen möchte.

Zunächst möchte ich aber unserem Alterspräsidenten Heinz Riesenhuber danken, der nicht nur der lebensälteste Abgeordnete ist, sondern auch zu den mit Abstand dienstältesten Mitgliedern dieses Hauses gehört, für die souveräne Eröffnung unserer konstituierenden Sitzung mit Witz und der ihm eigenen Eleganz und für die Hinweise, die er uns für die Arbeit der bevorstehenden Legislaturperiode über das Tagesgeschäft hinaus gegeben hat.

Mein besonderer Dank und Respekt gilt allen ausscheidenden Mitgliedern des Bundestages für die geleistete Arbeit. Stellvertretend für alle nenne ich Frau Dr. Däubler-Gmelin, die diesem Parlament seit 1972, also stolze 37 Jahre, angehört hat. Dank sagen möchte ich auch für die gute Zusammenarbeit im bisherigen Präsidium, insbesondere Susanne Kastner, die sieben Jahre Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach manchen Beschwerden, Debatten, Verhandlungen in der letzten Legislaturperiode möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass eine Übertragung der Konstituierung dieses Deutschen Bundestages im Hauptprogramm der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht stattfindet. Im Mittelpunkt des Vormittagsprogramms der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands steht heute Morgen die TV-Komödie Schaumküsse. Das Zweite Deutsche Fernsehen bringt statt einer Übertragung dieser Sitzung die 158. Folge der Serie Alisa ‑ Folge deinem Herzen, gefolgt vom 36. Kapitel der Serie Bianca ‑ Wege zum Glück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich folge meinem Herzen und nenne diese Programmentscheidung ganz vorsichtig im wörtlichen Sinne bemerkenswert. Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass ein gebührenpflichtiges Fernsehen, das dieses üppig dotierte Privileg allein seinem besonderen Informationsauftrag verdankt, auch an einem Tag wie heute mit einer souveränen Sturheit der Unterhaltung Vorrang vor der Information einräumt. Da die Chefredaktionen in ihren Entscheidungen so frei sind wie ich in meinem Urteil, kündige ich an, dass ich bei jeder ähnlichen Gelegenheit erneut vortragen werde.

Meine Damen und Herren, das Wahlergebnis vom 27. September hat die Kräfteverhältnisse im 17. Bundestag stärker verändert, als gemeinhin erwartet wurde, und zugleich die politischen Rollen neu verteilt. In der Regel wird der Wechsel aus der Opposition in die Regierungsverantwortung höher geschätzt als der umgekehrte Rollenwechsel. Umso wichtiger ist die Einsicht, dass die demokratische Reife eines politischen Systems nicht an der Existenz der Regierung zu erkennen ist, sondern am Parlament und dort vor allem am Vorhandensein einer Opposition und ihren politischen Wirkungsmöglichkeiten. Regiert wird immer und überall, mal mit und oft ohne demokratische Legitimation. Die Opposition macht den Unterschied, und ihre Bedeutung steht und fällt mit dem Gewicht des Parlaments als Vertretung des ganzen Volkes: Mehrheit und Minderheit, Rede und Widerrede.

Wie sehr die Wählerinnen und Wähler - und eben nicht die Parteien und ihre Führungen - die Zusammensetzung der Parlamente verändern, wird nicht nur an der großen Zahl der jeweils neu gewählten Mitglieder deutlich ‑ diesmal beinahe ein Drittel ‑, sondern auch an der weitgehenden personellen Erneuerung innerhalb von nur zehn Jahren. Von den Abgeordneten, die 1999 beim Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin dabei waren, gehören gerade noch 101, also weniger als ein Sechstel, dem heute zusammentretenden Parlament an.

Nicht alle, die in diesem Bundestag sitzen, haben den gleichen Einfluss; das ist wohl wahr. Aber alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Auf beides will ich achten und wenn nötig in Erinnerung rufen, dass wir gewählt sind, aber nicht gesalbt ‑ nicht für immer, sondern für ganze vier Jahre, mit einem befristeten Auftrag, für den es keine automatische Verlängerung gibt.

Wir sind nicht das Volk, sondern die Volksvertretung. Das ist wichtig genug, aber eben nicht dasselbe. Die Wähler wissen ebenso gut wie wir ‑ manchmal sogar besser ‑, dass wir nicht über Wasser gehen können. Deshalb sollten wir auch keinen anderen Eindruck vermitteln.

Meine Damen und Herren, am 27. September haben fast 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht, mehr als je zuvor in der Geschichte der Bundestagswahlen, obwohl es übrigens noch nie so viele Kampagnen zur Wahlbeteiligung gegeben hat wie in diesem Jahr. Etwa 18 Millionen Frauen und Männer haben nicht gewählt. Das ist so viel, wie das größte Bundesland Einwohner hat. Belanglos ist das nicht. Es sollte bei nüchterner Würdigung weder verharmlost noch dramatisiert werden. Immerhin ist die niedrigste Beteiligung an einer Bundestagswahl seit 60 Jahren immer noch deutlich höher als die vielgerühmte höchste amerikanische Wahlbeteiligung in den letzten 100 Jahren. Dennoch sollten wir uns mit dem unerfreulichen Trend und seinen Ursachen auseinandersetzen.

Zu den Gründen der Wahlverweigerung gehören nicht nur allgemeines politisches Desinteresse, das es natürlich auch gibt, sondern konkrete Enttäuschungen, Ratlosigkeit gegenüber zu vielen oder zu wenigen oder zu undeutlichen Alternativen, manchmal auch schlichte Bequemlichkeit und neuerdings auch eine intellektuelle Überheblichkeit, die sich in der öffentlichen Aufforderung zur Verweigerung dessen niederschlägt, was dieselben Autoren als demokratisches Grundrecht natürlich für völlig unverzichtbar halten. Man wird gerade in diesem Jahr daran erinnern dürfen: Für dieses demokratische Kerngrundrecht freier Wahlen sind auch in Deutschland vor 20 Jahren viele Tausende Menschen auf die Straße gegangen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedeutung des Bundestages im Verfassungsgefüge wie in der Realität unseres politischen Lebens ist sicher höher als sein öffentliches Ansehen. Das parlamentarische System in Deutschland hat im eigenen Land bedauerlicherweise nicht den gleichen guten Ruf, den es fast überall auf der Welt genießt. Zweifellos ist es eine der großen Errungenschaften der jüngeren Geschichte unseres Landes. Mir fallen im Übrigen im internationalen wie im historischen Vergleich nicht einmal eine Handvoll Länder ein, deren Parlamente ähnlich viel oder gar mehr Einfluss auf die Bildung und die Kontrolle von Regierungen, die Gesetzgebung und die öffentliche Meinung hätten als die deutschen Parlamente und schon gar der Deutsche Bundestag.

Aber richtig ist auch: Die Parlamente, ihre Arbeit und ihre öffentliche Wirkung sind nicht immer so gut, wie sie sein könnten und sein sollten. Die Konstituierung eines neuen Bundestages ist eine gute Gelegenheit, gemeinsam darüber nachzudenken. Dies gilt für das Verhältnis von Parlament und Regierung, die Wahrnehmung der originären parlamentarischen Aufgaben, die Mehrheits- wie die Minderheitenrechte im Bundestag, die Transparenzregeln für Abgeordnete, das Wahlrecht, die Wahlprüfung und die Wahlzulassung, nicht zuletzt die neuen Kompetenzen des Bundestages im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.

Den Regierungen von Bund und Ländern mangelt es an Selbstbewusstsein nicht, dem Verfassungsgericht auch nicht. Der Bundestag muss und darf sich hinter ihnen nicht verstecken. Er ist nicht Hilfsorgan, sondern Herz der politischen Willensbildung in unserem Land. Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern das Parlament bestimmt und kontrolliert die Regierung. Im parlamentarischen Regierungssystem ist die Gestaltung der Politik eine gemeinsame Aufgabe von Exekutive und Legislative. Dies wird nicht zuletzt im Gesetzgebungsverfahren deutlich. Die Wahrnehmung dessen, was in Zeiten der Globalisierung den Nationalstaaten an Souveränität verblieben ist, liegt bei den Parlamenten, in Deutschland mehr als irgendwo sonst beim Bundestag. Er entscheidet, ob überhaupt und wo und in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland nationale Kompetenzen an die Europäische Gemeinschaft oder an internationale Organisationen zu übertragen bereit ist, nicht die Gerichte. Sie sind weder für die Politik zuständig noch für die Gesetzgebung. Sie legen die Gesetze im Lichte unserer Verfassung aus, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Die Beteiligung von Sachverstand aus Wirtschaft und Gesellschaft zur Vorbereitung staatlicher Entscheidungen in der Exekutive wie der Legislative ist eine Errungenschaft postfeudaler Zeiten und ganz sicher kein Skandal. Allerdings: Weder ist die Regierung „Gesetzgeber“ noch das Parlament „Gesetznehmer“. Der entstandene Eindruck, diese zentrale staatliche Aufgabe werde immer häufiger und möglichst unauffällig an Anwaltskanzleien, Beratungsunternehmen und Gutachter abgetreten oder ausgelagert, stärkt die Autorität der Verfassungsorgane nicht, weder nach innen noch nach außen. Das muss im Übrigen auch nicht sein, wie zuletzt die ebenso kurzfristige wie kompetente Begleitgesetzgebung zum Lissabonner Vertrag eindrucksvoll belegt hat.

Für die neuen Aufgaben, die damit auf den Bundestag innerhalb der Europäischen Union zukommen, sind wir inzwischen besser gerüstet als zu Beginn der letzten Legislaturperiode: durch eigene Initiativen, vor allem das Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel, aber auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die zentrale und unaufgebbare Rolle des Parlaments auch bei europäischen Rechtsetzungsakten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht ganz so eindrucksvoll ist die Organisation unserer Plenardebatten, die seit einiger Zeit durch ein immer größeres und, wie ich finde, immer ärgerlicheres Missverhältnis zwischen aufgesetzten und tatsächlich öffentlich behandelten Tagesordnungspunkten gekennzeichnet ist. In der vergangenen Legislaturperiode wurden 464 Tagesordnungspunkte ‑ Petitionen nicht mitgezählt ‑ ohne Debatte verhandelt, und von rund 15 500 in den Protokollen verzeichneten Reden wurden nicht weniger als 4 429 zu Protokoll gegeben, mehr als jede vierte. Aus einer im Einzelfall sicher nötigen Ausnahme ‑ ich räume freimütig ein, dass ich in früheren Rollen, die länger zurückliegen, an der Möglichkeit dieser Ausnahmeregelung leichtfertig mitgewirkt habe ‑ ist längst eine fragwürdige Regel geworden. Das ist sicher keine Errungenschaft, schon gar nicht, wenn die zweite und dritte Lesung von Gesetzen im Plenum alleine in der Niederlegung von schriftlichen Beiträgen besteht, die gar nicht debattiert werden konnten. Mit der unmissverständlichen Festlegung unserer Verfassung ‑ Zitat: „Der Bundestag verhandelt öffentlich“ ‑ ist diese Praxis nur schwer vereinbar, zumal die Ausschussberatungen aus guten Gründen nicht immer öffentlich sind.

Deshalb empfehle ich uns dringend ‑ das gilt übrigens ausnahmslos für alle Beteiligten ‑, die Fülle der eingebrachten Gesetzentwürfe, Entschließungsanträge und Resolutionen auch im Maßstab der verfügbaren Beratungszeit selbstkritisch zu überprüfen oder umgekehrt die Anzahl der Sitzungswochen entsprechend zu erhöhen.

Auch in der Gestaltung der Fragestunde besteht gewiss Verbesserungspotenzial, sowohl aufseiten der Parlamentarier wie aufseiten der Regierungsvertreter. Dies gilt auch für Kleine und Große Anfragen. Manche Frage mag unnötig sein, aber manche Antwort der Bundesregierung ist unbefriedigend, gelegentlich ärgerlich.

Über den demonstrativen Beifall einiger von mir jetzt nicht namentlich genannter Kolleginnen und Kollegen freue ich mich ganz besonders und füge hinzu: Nicht nur die neuen Minister können nun zeigen, dass es im Umgang mit sicherlich manchmal lästigen parlamentarischen Auskunftsrechten so verlässlich, zügig und sorgfältig zugeht, wie sie es als Abgeordnete von der Regierung erwartet haben.

Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen auch nicht in jeder Legislaturperiode neue Rekorde bei parlamentarischen Drucksachen erzielt werden. Noch nie wurden von einem deutschen Parlament so viele Einzeldokumente erzeugt wie in den letzten vier Jahren: deutlich mehr als 14 000.

Aus gegebenem Anlass wird sich der neue Bundestag sehr bald sowohl mit den Transparenzregeln für Abgeordnete wie mit einzelnen Bestimmungen unseres Wahlrechts befassen müssen. Ich hoffe sehr, dass wir bei diesen beiden Themen mit möglichst breiten, fraktionsübergreifenden Mehrheiten zur überzeugenden Korrektur von Regelungen kommen, die nicht erst seit den gerichtlichen Beanstandungen umstritten sind. Dabei empfehle ich uns auch einen ruhigen Blick auf die geltenden Regelungen zur Zulassung nicht bereits im Parlament vertretener Parteien zur Bundestagswahl. Dass im dafür zuständigen Wahlausschuss Vertreter der etablierten Parteien über die Zulassung von Konkurrenz entscheiden, ist nicht über jeden demokratischen Zweifel erhaben. Und dass unser Wahlgesetz eine Überprüfung dort mit Mehrheit abgelehnter Bewerbungen erst nach der Wahl zulässt, halten nicht nur einige Kommentatoren des Grundgesetzes für eine Rechtsschutzlücke ‑ ich auch. Dann ist es nämlich für eine Korrektur zu spät.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nie zu spät ist es für gute Vorsätze, mit denen wir sicher alle unsere Arbeit beginnen. Aber wir sollten mit der Umsetzung auch möglichst bald beginnen. Die Legislaturperiode ist kurz, für den Bundestag nur vier Jahre. Fast alle Landtage und viele Parlamente unserer Nachbarstaaten haben fünfjährige Legislaturperioden, ebenso wie das Europäische Parlament. Auch darüber lohnt es nachzudenken, nicht statt anderer eigener Anstrengungen zur Verbesserung unserer Arbeit, versteht sich, aber als möglicher Bestandteil. Ich weiß, dass es solche Überlegungen bei Mitgliedern aller Fraktionen gibt, und ich kenne auch die beachtlichen Einwände. Aber wir sollten auch nicht übersehen, dass es nach Einschätzung der meisten Wählerinnen und Wähler nicht zu wenige Wahlen in Deutschland gibt, sondern eher zu viele, von den Gemeinderäten, Kreistagen und Landtagen bis zum Europäischen Parlament. Auch die Teilnahme an Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene wie in den Ländern ist eher ernüchternd.

Jedenfalls werden wir uns darauf einrichten müssen, für die nächsten Jahre nicht nur von einem allgemeinen Wohlwollen der Öffentlichkeit wie der Medien, als vielmehr von ausgeprägten Erwartungen begleitet zu werden. Unsere Arbeit wird dadurch nicht leichter, dass manche dieser Erwartungen sich wechselseitig ausschließen. Aber wir alle, die wir heute zur Konstituierung dieses Bundestages hier zusammengekommen sind, haben für dieses Mandat kandidiert, weil wir uns dieser Aufgabe gewachsen fühlen. Mit der Annahme dieses Mandats beginnt die Erledigung der übernommenen Aufgaben, in welchen Rollen auch immer. Ich wünsche uns allen, jedem Einzelnen, Freude und Erfolg bei der Bewältigung dieser Herausforderungen, und ich freue mich auf eine ebenso streitbare wie kollegiale Zusammenarbeit.

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Parlament

Festrede anlässlich des Festaktes „10 Jahre Donum Vitae“ am 23. Oktober 2009 in Berlin


Verehrte, liebe Frau Waschbüsch,
sehr geehrter Herr Präsident des Zentralkomitees, lieber Herr Meyer,
meine Damen und Herren,

Ich fang mal ganz vorsichtig an: In wenigen Wochen geht ein Jahr zu Ende, das durch eine bemerkenswerte Serie bemerkenswerter Gedenktage und Festtage gekennzeichnet war, die an herausragende Ereignisse der Geschichte unseres Landes im vergangenen Jahrhundert erinnern, die sich nicht alle in gleicher Weise zum Feiern eignen.

Vor 90 Jahren wurde die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet, der erste mutige Versuch, in Deutschland eine parlamentarische Demokratie zu etablieren - ein Versuch, der bekanntlich nach weniger als 14 Jahren zu Ende war.

Vor 80 Jahren ereignete sich die sogenannte Weltwirtschaftskrise, an die zu erinnern es erstaunlich aktuelle Gründe in den vergangenen Monaten gegeben hat.

Vor 70 Jahren ist der 2. Weltkrieg ausgebrochen mit dem Überfall Deutschlands auf Polen mit allen damit mittelbar und unmittelbar verbundenen entsetzlichen Folgen. Eine dieser Folgen war, dass vor 60 Jahren zwei deutsche Staaten gegründet wurden, die die Teilung unseres Landes und die Teilung dieses Kontinents manifest machten. Es hat 40 Jahre gedauert, bis vor 20 Jahren die Berliner Mauer fiel und als Folge einer bemerkenswerten Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern überall in Mittel- und Osteuropa die Menschen mit Mut und Verantwortungsbewusstsein zugleich eine Aufgabe gelöst haben, die über viele Jahre und Jahrzehnte für unlösbar gehalten wurde. Spätestens das letzte Datum und die Wahrnehmung einer unlösbaren Aufgabe bringt uns in die Nähe des heutigen Ereignisses.

Der 10. Jahrestag der Gründung von donum vitae fügt sich in einer bemerkenswerten Weise in diese komplizierte Serie sehr unterschiedlicher herausragender Ereignisse des letzten Jahrhunderts ein. 10 Jahre ist ja kein richtiges Jubiläum, jedenfalls ein sehr bescheidener, übersichtlicher Anlass - und eine ungetrübte, reine Freude will sich mit Blick auf dieses Jubiläum jedenfalls bei mir auch nicht so recht einstellen. Dafür ist der Anlass zu ernst und die Umstände zu bitter, unter denen diese Gründung überhaupt erfolgte, weil sie nötig wurde.

Vor ein paar Tagen, meine Damen und Herren, habe ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine kleine Notiz gefunden, die über die Befunde eines amerikanischen Forschungsinstituts berichtet, nach der seit Mitte der 90iger Jahre die Zahl der Abtreibungen weltweit kontinuierlich zurück geht. Zwischen 1995 und 2003 von 45,5 Mio auf 41,6 Mio, so weit man das überhaupt präzise erfassen kann. Dieser Trend gilt nach den Ermittlungen der amerikanischen Forscher für Industrieländer wie für Entwicklungsländer. Hauptgrund sei der bessere Zugang zu Verhütungsmitteln und der nachweislich deutlich zurückgegangene Anteil von ungewollten Schwangerschaften. In dieser Studie gibt es einen zweiten, für unsere heutige Veranstaltung beachtlichen Befund: Mit einem gesetzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs steht der Rückgang der Abtreibungen nach Angaben der Wissenschaftler in keinem direkten Zusammenhang. Schwangerschaftsabbrüche kämen überall in der Welt völlig ungeachtet der unterschiedlichen Gesetzgebung der jeweiligen Länder vor. In Ländern, in denen Abtreibungen gänzlich verboten sind, sterben Frauen oft während des Eingriffs. Insgesamt kommen so alljährlich 70.000 Schwangere bei einer Abtreibung zu Tode, bei 5 Mio weiteren treten Komplikationen auf. Das ist jetzt gänzlich unfeierlich, aber mitten in der Sache.

Das Thema, über das wir heute nicht zum ersten Mal, aber auch sicher nicht zum letzten Mal reden, ist nicht neu. Und es wird nach menschlichem Ermessen in überschaubarer Zukunft auch sicher nicht ein für allemal gelöst, sondern wir werden mit einer absehbaren Unvermeidlichkeit uns auch in den kommenden Jahren immer wieder neu um eine angemessene, überzeugende Antwort auf die außergewöhnlich schwierige Fragen bemühen müssen, wie man in der Welt, in der wir leben, am ehesten Leben schützen kann, schon gar ungeborenes Leben. Wir haben wie andere Länder auch, dazu manche, übrigens ganz unterschiedliche Anläufe hinter uns.

Seit 1871 ist in unserer Rechtsordnung der Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig und wird seit einer damaligen Bestimmung im Strafgesetzbuch mit Strafe verfolgt. Und erst gut 100 Jahre später gibt es einen signifikanten neuen Versuch des Umgangs mit diesem schwierigen, humanen und juristischen, Problem zugleich durch die Verabschiedung einer Neuregelung des Bundestages, die nach einer Verfassungsklage, die damals beinahe 200 Mitglieder des Bundestages aus der CDU/CSU-Fraktion und 5 Landesregierungen eingelegt hatten, zu einer Entscheidung des Verfassungsgerichts führte, dass diese Neuregelung verfassungswidrig sei, weil sie unser Verfassungsverständnis von der Unantastbarkeit der Menschenwürde und den sich daraus ergebenden Schutzanspruch auch und grade ungeborenen Lebens nicht hinreichend erfülle. In der Folge wurde dann am 18. Mai 1976 das Strafgesetzbuch in der Weise geändert, dass Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich bestraft wird, außer bei Vorliegen einer Indikation und nach Beratung. Und nach einer neuerlichen Befassung mit diesem Thema in den 90iger Jahren durch das Bundesverfassungsgericht hat es dann im Jahr 1995 erneut gesetzliche Änderungen durch ein Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz gegeben, auf deren rechtlicher Grundlage jedenfalls der Umgang des Staates mit diesem Thema seit dieser Zeit erfolgt.

Ich bin wie manche Kolleginnen und Kollegen im deutschen Bundestag, die lange genug dabei sind, an vielen dieser Beratungen beteiligt gewesen. Ich habe sowohl die Leidenschaft wie die Ernsthaftigkeit dieser Auseinandersetzung in unverändert lebhafter Erinnerung. Und völlig unabhängig von den jeweiligen persönlichen Überzeugungen über das, was geht oder eigentlich gehen müsste, erlaubt und/oder verboten sein könnte, dürfte oder sollte, gibt es nach meiner festen Überzeugung nicht den kleinsten Anlass, an der Ernsthaftigkeit des Gesetzgebers im Umgang mit dieser prinzipiell unlösbaren Frage zu zweifeln. Wenn ich vorhin von den bitteren Bedingungen gesprochen habe, - jedenfalls habe ich sie immer so empfunden - die die Gründung dieses Vereins notwendig machten, dann auch und grade deshalb, weil mir die aus bekannten Gründen zustande gekommene spätere Entscheidung der deutschen Bischofskonferenz, und der ihr vorausgehende vatikanische Anspruch, auch und grade im Lichte vergleichbarer internationaler gesetzlicher Regelungen besonders wenig einleuchtet.

Da es für den Schutz des Lebens in Konfliktsituationen ganz offenkundig keine Patentlösung gibt, ist nicht weiter erstaunlich, dass verschiedene Gesellschaften, verschiedene Staaten dies immer wieder auf unterschiedliche Weise zu regeln, wenn schon nicht zu lösen versuchen. Und ich finde es schon bemerkenswert, wie viele Länder auch in unserer Nachbarschaft und im gleichen Kulturkreis dies „konsequenter“ lösen, indem sie für eine unterschiedlich gesetzte Frist Straffreiheit garantieren und insofern konsequent für diesen Zeitraum auch nicht von der Rechtswidrigkeit eines Abbruchs ausgehen. Zu dieser Konsequenz hat sich der deutsche Gesetzgeber nie entschließen können mit regelmäßiger unmissverständlicher Flankierung unseres Verfassungsgerichts. Dass die deutsche Bischofskonferenz vatikanischen Anweisungen folgt und dem deutschen Gesetzgeber diese „Inkonsequenz“ vorwirft, gehört für mich zu den erstaunlichsten Erfahrungen meiner parlamentarischen Laufbahn.

Natürlich ist es richtig, was immer wieder in zahllosen Korrespondenzen zwischen Vertretern der sogenannten Amtskirche und dem Rest, dem allerdings statistisch erstaunlich überwiegenden Rest des Volkes Gottes, zur Beleuchtung dieses Zusammenhangs ausgetauscht worden ist. Es ist nicht von vornherein sich selbst erklärend, wenn ein und der gleiche Sachverhalt für rechtswidrig und zugleich, unter allerdings definierten Bedingungen, straffrei erklärt wird. Aber wer diese Inkonsequenz nicht aushält oder für nicht zumutbar oder schon gar für nicht moralisch vertretbar, der muss die Frage beantworten, wie er sie auflösen will. Und ich habe auch und grade aus der Amtskirche bis heute keine einzige mich überzeugende Antwort gehört, wie denn diese Auflösung aussehen könnte. Straffrei und deswegen nicht rechtswidrig: offenkundig nicht. Rechtswidrig und deswegen strafbewehrt: das haben wir lange genug versucht, mit einschlägigen, deprimierenden  Ergebnissen. Und viel länger als die 10 Jahre, auf die wir jetzt für donum vitae zurück blicken können und müssen, haben Laien und Bischöfe gemeinsam auf der Basis der aus guten Gründen veränderten Rechtsordnung sich gemeinsam um eine an der Unantastbarkeit der Menschenwürde und der Unverletzlichkeit der menschlichen Person orientierte Schwangerenkonfliktberatung im staatlichen System bemüht, deren harter, jedem nachvollziehbarer Kern die gemeinsame Überzeugung war, dass man das Leben ungeborener Kinder – wenn überhaupt – nur mit ihren Müttern retten kann, sicher nicht ohne, und ganz sicher nicht gegen sie. Und wenn das viele Jahre als gemeinsame Aktivität von Bischöfen und Laien, von Amtskirche und dem restlichen Volk Gottes rechtlich möglich, moralisch vertretbar und theologisch unangefochten war, fehlt mir bis heute jedes Verständnis, warum es seit 1999 nicht mehr vertretbar, verantwortbar und praktikabel sein kann.

Dass heute kein Vertreter der Amtskirche an dieser Veranstaltung teilnimmt, überrascht in der Tat nicht. Aber „natürlich“ finde ich es überhaupt nicht, und naturgemäß schon gar nicht. Nun kann man, ich sag das mit allem gebotenen Respekt, zu dem schwierigen Entscheidungsprozess zwischen Fulda und Rom manches in Erinnerung rufen, was hier nicht vorgetragen werden muss, weil die Allermeisten mit den Abläufen und den Argumenten bestens vertraut sind. Und es ist ja ebenso tröstlich wie enttäuschend zugleich, dass an den Mehrheitsverhältnissen auch in der deutschen Bischofskonferenz kein ernsthafter Zweifel erlaubt ist - und gleichwohl das Ergebnis so war wie es war.

Donum vitae hätte nicht entstehen müssen, wenn es diese damalige Entscheidung nicht gegeben hätte. Aber, meine Damen und Herren, weil es diese damalige Entscheidung gab, musste donum vitae gegründet werden.

Es gibt eben nicht nur die Verantwortung von Bischöfen, es gibt auch eine in vielfacher Weise unterlegte Verantwortung der Laien des Volkes Gottes im Umgang mit eigenen und anderen Problemen, mit Herausforderungen der Welt, in der wir leben. Und vor dieser Verantwortung darf sich niemand drücken, völlig gleichgültig, ob in einem kirchlichen Amt oder ohne. Dass es sich bei dieser Organisation „donum vitae“, die ihren Namen mit subtiler Logik aus einer Verlautbarung der vatikanischen Glaubenskongregation am 22. Februar 1987 „Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung“ bezogen hat, dass es sich bei dieser Organisation um einen privaten Verein handelt, der eine „Vereinigung außerhalb der katholischen Kirche“ sei, darauf bin ich damals offen gestanden nicht gekommen.

Die ganze Wahrheit ist: ich hab mir die Frage nicht einmal gestellt. Unter allen damals überhaupt anstehenden Fragen schien mir die nach dem Rechtsstatus dieser Organisation die belangloseste, ganz sicher nicht die dringlichste. Dass ein paar Jahre später aus - wie es heißt – „gegebenem Anlass“ aufgrund verschiedener Anfragen die deutschen Bischöfe diese nicht gestellte Frage in der grade zitierten Weise beantwortet haben, gehört wiederum zu den doppelt schmerzlichen Erfahrungen, die man an einem solchen Tag nicht verdrängen muss und vielleicht auch besser nicht verdrängen sollte. Denn damit ist ja nicht nur das Binnenverhältnis von Amtskirche zu Laien angesprochen,  sondern, was keineswegs unbedeutend ist, auch das Verhältnis ein- und derselben Menschen in ihren jeweiligen Rollen als Christen, als Katholiken auf der einen Seite und als Staatsbürger auf der anderen Seite. Was den Loyalitätskonflikt betrifft, der hier mindestens leichtfertig wenn nicht mutwillig erzeugt worden ist, warte ich auch bis heute auf überzeugende Antworten zur Lösung dieses damit erzwungenen Spagats zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft.             

(Bischof Dr. Huber betritt den Saal)

Es trifft sich ganz besonders gut, dass wie in einer perfekten Inszenierung an genau dieser Stelle Bischof Huber den Saal betritt. Verehrter, lieber Bischof Huber, ich freue mich, dass -  wie durch den spontanen Beifall ja deutlich geworden ist - das Auditorium meine Freude teilt, dass Sie heute Morgen hier sind. Ihre Anwesenheit bei dieser Veranstaltung füllt die Lücke nicht ganz, die das Fehlen anderer hat entstehen lassen. Aber sie ist doch eine beachtliche Ermutigung, für die ich ihnen außerordentlich dankbar bin.

Donum vitae ist nach dem Selbstverständnis dieses „privaten Vereins außerhalb der katholischen Kirche“ ein Verein bürgerlichen Rechts - ich zitiere aus einem Beschluss des Bundesvorstandes vom Juli 2007: „ein Verein bürgerlichen Rechts, den Katholiken in ihrer christlichen Verantwortung kraft Taufe und Firmung und auch staatsbürgerlicher Verantwortung gegründet haben und tragen. Die Mitglieder des Vereins, auch evangelische Christen, stellen sich gemeinsam der Aufgabe, sich für den Schutz des Lebens, insbesondere des Lebens ungeborener Kinder einzusetzen, indem sie sich bemühen, Eltern, insbesondere schwangeren Frauen durch Rat und Hilfe eine Perspektive für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen. Sie tun dies auf der Grundlage ihres Wissens und Gewissens im Rahmen der geltenden Gesetze einschließlich der gesetzlichen Regelung der Beratungspflicht bei Schwangerschaftskonflikten mit einem Beratungskonzept, das dem christlichen Menschenbild gerecht wird“ – Ende des Zitats. Das erklärt sich alles von allein, Satz für Satz. Und bedarf eigentlich, jedenfalls nach meinem, offenkundig unzureichenden Verständnis, keiner weiteren Interpretationshilfen. Aber weil die Lage halt so ist wie sie ist, muss dieses Selbstverständnis dieser Organisation offenkundig auch immer wieder gespiegelt werden im Lichte der Lebenserfahrung auf der einen Seite und kirchlicher Lehrmeinung auf der anderen Seite, was bedauerlicher Weise nicht immer dasselbe ist.

Mit einem Anflug von Rührung habe ich heute Morgen den einleitenden Song mit der „Suche nach den 100 Prozent“ verfolgt, mit der spontanen Befürchtung, dass die Neigung, 100%ige Lösungen zu suchen, nach wie vor in unserer Kirche immer noch ausgeprägter ist als in vielen anderen ernst zu nehmenden Organisationen und Einrichtungen, die von der Welt, in der wir leben, vielleicht in anderer Weise nüchterner, wirklichkeitsnäher und zugleich verantwortungsbewusst Kenntnis nehmen. Grade da, wo es anspruchsvoll wird, passt eben selten alles perfekt zusammen. Und da, wo wir uns alle im privaten Leben wie im politischen Leben, als Individuen wie als Gesetzgeber, etwa um all die Fragen bemühen und kümmern und streiten müssen, die mit dem Anfang und dem Ende des Lebens zusammenhängen, machen wir die besonders hartnäckige und schmerzliche Erfahrung, dass es die 100%igen Lösungen eben nicht gibt. Und dass das, was wir medizinisch können und was technisch möglich ist, und das, was ethisch zu verantworten ist, manchmal überhaupt nicht, aber nie 100%ig zusammenpasst. Wenn dies aber so ist und offenkundig nicht zufällig so ist, sondern der Natur der Sache nach so ist, dann ist der Anspruch 100%iger Lösungen nicht nur intellektuell unvertretbar, er wird auch moralisch fragwürdig.

Mich besorgt ungemein, übrigens auch im Kontext anderer Auseinandersetzungen, die wir in multikulturellen Gesellschaften führen müssen, dass bei nüchterner Betrachtung die Neigung zum Fundamentalismus gelegentlich in der eigenen Kirche nicht weniger zu beobachten ist als in anderen, nicht christlichen Religionsgemeinschaften, denen wir diese Versuchung mit großer Attitüde regelmäßig vorwerfen.

Ich will zum Schluss noch einmal die Verantwortung auch und grade der Laien unterstreichen, die Voraussetzung und Grundlage für donum vitae gewesen ist. Im 4. Kapitel der dogmatischen Konstitution des 2. vatikanischen Konzils über die Kirche, Lumen Gentium, wird das Apostolat der Laien als Teilhaber an der Heilssendung der Kirche ausdrücklich bekräftigt. Ihnen wird die Möglichkeit, und - Zitat: „bisweilen sogar die Pflicht zugesprochen, sich in kirchlichen Fragen zu äußern“. Zitat: „Die geweihten Hirten aber sollen die Würde und die Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienst der Kirche übertragen, und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen, ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen. Sie können mit Hilfe der Erfahrung der Laien in geistlichen wie in weltlichen Dingen genauer und besser urteilen“ – Ende des Zitats. Dieser Text hatte im letzten Jahr bedauerlicher Weise kein rundes Jubiläum, deswegen ist er offenkundig auch nicht allen mehr in vollem Umfang präsent. Jedenfalls fällt es mir im Lichte dieses Textes außerordentlich schwer, die Aktivitäten von donum vitae als offensichtlich unkatholisch zu empfinden.

Die Kirche, meine Damen und Herren, braucht auch in Zukunft kluge Hirten und eine aufgeklärte Herde, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst ist und von dieser Verantwortung Gebrauch macht. Es gibt nicht viele weitere Themen, bei denen die Wahrnehmung dieser Verantwortung so schwierig und so notwendig zugleich ist wie beim Schutz des Lebens. Deswegen nutze ich die Gelegenheit gerne, all denjenigen, die nicht nur damals donum vitae gegründet haben, sondern die nun über einen Zeitraum eines Jahrzehnts in vielfacher Weise, meist unauffällig, aber außerordentlich wirksam, diese Verantwortung wahrgenommen haben, hauptamtlich und ehrenamtlich, mit Beratung, mit zeitlichem, mit finanziellem Engagement, meinen ausdrücklichen Respekt zu sagen, verbunden mit der genauso ausdrücklichen Bitte, dass dies auch in den nächsten Jahren so bleibt - so lange eine solche gesonderte Organisation überhaupt nötig ist.

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Parlament

Festvortrag des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert „60 Jahre Deutscher Bundestag“

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Verehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als vor 60 Jahren, am 7. September 1949, der Erste Deutsche Bundestag zusammentrat, hatte der westdeutsche Teilstaat des geteilten Deutschland, den manche Zeitgenossen ebenso spöttisch wie liebevoll „Trizonesien“ nannten, seine erste parlamentarische Vertretung. Alterspräsident Paul Löbe erklärte zu Beginn der konstituierenden Sitzung: Das deutsche Volk erhoffe sich von seinem Parlament - ich zitiere -: „Daß wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen.“

Der frühere langjährige Reichstagspräsident machte zugleich deutlich, wie schwer diese Aufgabe war. Er fügte hinzu: „Schier unüberwindlich scheinen die Hindernisse, die auf diesem Wege liegen, und ungezählte Scharen unserer Landsleute sind es, die von unserer Arbeit eine Minderung ihrer Sorge erwarten.“

Nein, „A Wonderful World“ - eine wunderbare Welt - war es nicht; von ihr wurde allenfalls geträumt. Tatsächlich hätte damals kaum jemand die Erfolgsgeschichte für möglich gehalten, auf die wir heute zurückblicken können.

Die Londoner Times hatte im Vorfeld der Bundestagswahl 1949 geschrieben, den Besatzungsmächten sei bei der politischen Verselbstständigung ihrer Besatzungszonen „ähnlich zumute wie einem Vater, der seinen 18-jährigen Sohn zum ersten Mal mit Taschengeld und Hausschlüssel ausgehen“ lasse. Die ganz große Mehrheit der Wahlberechtigten hat dieses Angebot jedenfalls angenommen. Die hohe Wahlbeteiligung von 78,5 Prozent wurde immer wieder auch als indirekte Zustimmung der Bürger zum Grundgesetz interpretiert, was vielleicht doch ein bisschen voreilig war; schließlich ergaben erste Umfragen, dass fast der Hälfte der wahlberechtigten Deutschen das Grundgesetz damals schlicht gleichgültig war. Sie hatten ganz andere Sorgen und Hoffnungen.

60 Jahre später dürfen wir dankbar feststellen: Die von Paul Löbe beschriebenen Hoffnungen, die 1949 angesichts des Scheiterns der Weimarer Demokratie und der verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges nur als äußerst optimistisch, geradezu kühn bezeichnet werden konnten, haben sich erfüllt. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und mit dem neubegründeten politischen System einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland begann, zunächst nur im Westen unseres Landes, eine beispiellose Zeit des Friedens, der Freiheit, des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands.

Die Anfänge waren allerdings bescheiden - viel bescheidener als die allermeisten es heute für möglich halten, die in diesem Land unter der Verfassung des Grundgesetzes und mit dem Deutschen Bundestag groß geworden sind. Dies gilt für die ökonomischen Rahmenbedingungen ebenso wie für die politischen Perspektiven. In den ersten Nachkriegsjahren brauchte man schon eine gehörige Portion Mut und Zuversicht, um sich für ein politisches Amt überhaupt zur Verfügung zu stellen. Konrad Adenauer hatte dies in seiner Antrittsrede als Präsident des Parlamentarischen Rates mit den Worten beschrieben, es sei für jeden der Mitglieder dieses Rates eine schwere Entscheidung gewesen - ich zitiere -, „ob man sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands zur Mitarbeit überhaupt zur Verfügung stellen soll“. Glücklicherweise hat es damals trotzdem oder gerade deshalb Frauen und Männer gegeben, die sich dieser Herausforderung gestellt haben.

Das Grundgesetz, die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je hatte, hat dem Parlament zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte die entscheidende Position im Verfassungsgefüge eingeräumt. Es hat den Bundestag zu einem starken Parlament gemacht, zu der zentralen Institution im Gesetzgebungsprozess, die als das einzige unmittelbar vom Volk demokratisch legitimierte Verfassungsorgan maßgeblichen Einfluss auch auf die Besetzung und die Kompetenzen der anderen Organe ausübt, zu einem Parlament, ohne dessen Mitwirkung keine rechtswirksamen politischen Entscheidungen von Gewicht getroffen werden und ohne dessen Zustimmung keine völkerrechtlichen Verträge wirksam werden können. Diese herausragende, unaufgebbare und nicht delegierbare Funktion des Bundestages hat das Verfassungsgericht immer wieder bestätigt und bekräftigt.

Meine Damen und Herren, die parlamentarischen Anfänge waren durchaus beschwerlich. Für die 402 Abgeordneten und die 8 nicht voll stimmberechtigten Berliner Vertreter standen damals ganze 50 Büros zur Verfügung, was gerade für das Präsidium und die Fraktionsvorstände ausreichte. Abgeordnete, die weder dem einen noch einem der anderen Gremien angehörten, erhielten ein Postfach in einem Stahlschrank, dazu einen nummerierten Sicherheitsschlüssel. Geschrieben und diktiert wurde in den Gängen und auf Treppenstufen. Der akute Mangel an Sitzgelegenheiten hatte aber auch durchaus Vorzüge. So erklärte Richard Stücklen, der zu den Mitgliedern des Ersten Deutschen Bundestages gehörte, als dessen späterer Präsident: „Der Abgeordnete von ’49 musste, wenn er sitzen wollte, ins Plenum oder ins Restaurant. Kein Wunder, dass die Plenarsitzungen damals stärker besucht waren als heute.“

Damals war auch das kulinarische Repertoire des Bundestagsrestaurants, vermute ich, oft noch weniger attraktiv als die parlamentarische Tagesordnung.

Vollständig behoben wurde das Provisorium nie. Erst 20 Jahre später, im Februar 1969 in der Amtszeit des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier, wurde das auch als „Langer Eugen“ bezeichnete Abgeordnetenhochhaus bezugsfertig. Die damit eröffneten Möglichkeiten galten damals als Quantensprung in der Unterbringung der Abgeordneten. Endlich verfügte jeder Abgeordnete über ein Einzelbüro. Sogar ein Waschbecken gab es, zum Waschen allerdings nur kaltes Wasser. Wenige Jahre später sollte der „Lange Eugen“ dann bei neuen Abgeordneten einen geradezu verheerenden Ruf erhalten als beengter Kaninchenstall mit der bescheidenen Möglichkeit der adäquaten Unterbringung entweder der Abgeordneten oder ihrer Mitarbeiter, niemals aber beider gleichzeitig - sicherlich auch ein Zeichen dafür, wie rasch die vermeintlich guten alten Zeiten erst langsam immer besser wurden.

Schon in der ersten Wahlperiode waren Telefongespräche für die Abgeordneten zwar kostenfrei; wer aber zu lange telefonierte, wurde vom Bundestagspräsidenten persönlich ermahnt, sparsamer zu sein.

Bescheiden waren auch die Wohnungen, die in Bonn für die Abgeordneten zur Verfügung standen. Der Abgeordnete Günter Goetzendorff, der für die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (WAV) - auch das gab es damals - im Bundestag saß, hat die Situation so beschrieben: „In Bonn fand ich bei einem Studienrat ein Zimmer zur Untermiete. Dort wohnte ich mit meinem Abgeordnetenkollegen Dr. Adolf Arndt von der SPD. Wir waren sehr behelfsmäßig untergebracht. Wenn seine Frau zu Besuch kam, konnte ich frühmorgens das Badezimmer nicht benutzen, weil sie darin schlief.“

Viele Abgeordnete der ersten Stunde verfügten über keinerlei parlamentarische Erfahrung. Ein Stenograf, der bereits für die Weimarer Nationalversammlung und den Parlamentarischen Rat gearbeitet hatte, charakterisierte den Ersten Deutschen Bundestag bei einem Vortrag im März 1950 einmal so: „Da tauchen 402 Abgeordnete auf, von denen bestenfalls 10 Prozent etwas vom parlamentarischen Betrieb verstanden. Die anderen waren vollkommene Neulinge. Sie kommen mit Anforderungen aller Art, verstehen nichts, reden daher, dass sich einem die Fingernägel aufbiegen …“

Meine Damen und Herren, heute halten die Stenografen des Bundestages, die zu Recht einen exzellenten Ruf genießen, keine Vorträge mehr und solche schon gar nicht.

In der Tat bestand auch das erste deutsche Parlament nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus „Wunderheilern“, wie die Tageszeitung Die Welt die Konstituierung des Deutschen Bundestages vor 60 Jahren kommentierte. Dieses Parlament ist der ihm durch das Grundgesetz übertragenen Verantwortung aber zweifellos gerecht geworden und hat in den vergangenen 60 Jahren mit dem Vertrauen, das der Verfassung und ihren Organen immer mehr zugewachsen ist, tragfähige politische Grundlagen gelegt, Grundlagen, die über die Bonner Zeit hinaus auch die Berliner Republik prägen.

Es hat große, denkwürdige Debatten gegeben: im alten historischen Plenarsaal, der gewiss nicht abgerissen worden wäre, wenn damals das Ende des Provisoriums absehbar gewesen wäre; später im Wasserwerk - das als Parlamentsgebäude weder gebaut wurde noch wirklich geeignet war und vielleicht gerade deshalb ganz besonders beliebt geworden ist -, in dem die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer ein Höhepunkt unserer Parlamentsgeschichte wurde; schließlich hier im neuen Plenarsaal, einem glänzenden Beispiel zeitgenössischer Architektur und demokratischer Baukultur, den wir zu einem Zeitpunkt übernommen haben, als bereits klar war, dass wir nicht bleiben, sondern im wiedervereinigten Deutschland nach Berlin ins Reichstagsgebäude ziehen würden.

Aber es waren eben nicht nur die großen Debatten, die in Erinnerung geblieben sind, sondern auch die großen Entscheidungen, die hier getroffen wurden und die den Weg unseres Landes bestimmt haben:

In den ersten Jahren gelang es dem Deutschen Bundestag, durch weitreichende gesetzgeberische Maßnahmen wie das Lastenausgleichsgesetz die Folgen von Krieg und Vertreibung zu lindern. In den gleichen Zeitraum fielen grundlegende außenpolitische Weichenstellungen, die der Zustimmung des Deutschen Bundestages bedurften, so der Deutschlandvertrag, das Wiedergutmachungsabkommen mit dem Staate Israel (1952), der Aufbau der Bundeswehr und der NATO-Beitritt (1955) sowie die Römischen Verträge (1957).

Mit der Sozialgesetzgebung der 50er-Jahre legte der Deutsche Bundestag die Fundamente für die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Dazu gehörten der Kündigungsschutz, das Kindergeld und die große Rentenreform. Auch die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes, das den Arbeitnehmervertretungen in den Unternehmen Informations-, Konsultations- und Mitbestimmungsrechte verleiht, fällt in diese frühen Jahre.

Zu den wichtigsten parlamentarischen Leistungen in der Zeit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 gehören die Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzverfassung, das liberalisierte Strafrecht, die Bewältigung der damaligen Krise des Arbeitsmarktes und die Entscheidung für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die leidenschaftlichen Debatten über die sogenannten „Notstandsgesetze“ sind unvergessen; die damit verbundenen Befürchtungen wie Beschwörungen haben sich längst erledigt.

In der Zeit der ersten sozialliberalen Koalition Anfang der 70er-Jahre wurden der Moskauer und der Warschauer Vertrag sowie der Grundlagenvertrag mit der DDR geschlossen mit dem „Brief zur deutschen Einheit“. 1973 trat die Bundesrepublik Deutschland den Vereinten Nationen bei, ein Schritt, den der Deutsche Bundestag parlamentarisch begleitete und ratifizierte.

Als 1989 infolge der friedlichen Revolution in der DDR die Mauer fiel, flankierte der Deutsche Bundestag die außenpolitischen wie die innenpolitischen Initiativen der Bundesregierung zur Wiederherstellung der deutschen Einheit. Der Einigungsvertrag wurde ratifiziert. Am 20. Dezember 1990 nahm zum ersten Mal seit 1932 ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament seine Arbeit auf. Dieses Parlament beschloss 1991 den Umzug der Regierung und des Parlaments von Bonn nach Berlin, übrigens mit einer ähnlich knappen Mehrheit wie bei der ersten Entscheidung im November 1949 für Bonn statt Frankfurt als Sitz der Verfassungsorgane.

Den Prozess der europäischen Integration hat der Deutsche Bundestag seit den 50er-Jahren konstruktiv begleitet und maßgeblich mitbestimmt. Dazu gehörte die Zustimmung zum Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, von dem im Roman Das Treibhaus die Rede ist. Dieser Vertrag, der schon damals eine erstaunlich weitgehende Bereitschaft zur Übertragung von nationalen Hoheitsrechten voraussetzte, ist weder im Deutschen Bundestag noch beim Bundesverfassungsgericht gescheitert, sondern in der französischen Nationalversammlung, die die Zustimmung zu diesem hier beschlossenen Vertrag verweigerte. Alle weiteren Integrationsschritte von der Wirtschaftsgemeinschaft über die Europäische Gemeinschaft bis zur Union und die damit verbundenen europäischen Verträge sind im Deutschen Bundestag verhandelt und regelmäßig mit hohen fraktionsübergreifenden Mehrheiten ratifiziert worden. Seit Anfang 2007 unterhält der Bundestag ein eigenes Verbindungsbüro in Brüssel, um seine Verpflichtungen in europäischen Angelegenheiten auch unabhängig von der Regierung angemessen erfüllen zu können.

Meine Damen und Herren, dass der Deutsche Bundestag der zentrale Ort der politischen Entscheidungsfindung in Deutschland ist, zeigt sich nicht nur an den großen Richtungsentscheidungen, die in unserem Parlament getroffen worden sind. Es zeigt sich auch an den Persönlichkeiten, mit denen die deutsche Nachkriegsgeschichte in Verbindung gebracht wird. So sind, ohne dass das Grundgesetz dies als verfassungsrechtliche Bedingung so bestimmte, ausnahmslos alle Bundeskanzler aus der Mitte des Deutschen Bundestages gewählt worden oder haben, wie im Falle Kurt Georg Kiesingers, die nächste Gelegenheit genutzt, sich um ein Mandat im Deutschen Bundestag zu bewerben. Das gilt übrigens gleichermaßen für nahezu alle Bundesminister. Der Bundestag ist also auch die wichtigste Institution für die Rekrutierung des politischen Spitzenpersonals der Exekutive. Es muss auch kein Zufall sein, dass die anwesenden Mitglieder der Bundesregierung und viele ehemalige Minister bei dem heutigen Festakt viel lieber im Plenum des Bundestages Platz nehmen wollten als auf der Regierungsbank. Das ist vermutlich nach dem 27. September wieder umgekehrt.

Zweifellos hat der Bundestag wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer parlamentarischen Demokratie entwickelt hat, die um vieles stabiler, auch solider, in sich gefestigter und viel breiter akzeptiert ist, als dies der Weimarer Republik vergönnt war. Der zu einem solchen dezidierten Urteil aus mancherlei Gründen besonders geeignete und berufene Außenminister Joschka Fischer hat in Verbindung mit dem Umzug nach Berlin festgestellt, „dass die deutsche Demokratie im fünfzigsten Jahr ihres Bestehens keine Systemfrage mehr kennt … und dies ist eine überaus beruhigende Botschaft für Berlin und die ‚Berliner Republik‘.“

Das hätte nach meiner lebhaften Erinnerung der Abgeordnete und Parlamentarische Geschäftsführer Joschka Fischer bei seiner ersten Wahl in den Deutschen Bundestag ganz sicher nicht so formuliert.

Diese Entwicklung hat auch mit der politischen und parlamentarischen Kultur zu tun, die sich vielleicht nur hier in Bonn in den ersten Nachkriegsjahrzehnten so günstig entwickeln konnte, wie sie sich tatsächlich entwickelt hat. So wurde die Bezeichnung „Bonner Republik“ im Laufe der Jahrzehnte im In- und Ausland immer mehr zu einem Qualitätsmerkmal. In den Worten von Egon Bahr: „Sie stand für Überschaubarkeit, Berechenbarkeit, Durchsichtigkeit und den daraus zu ziehenden Schluss: vielleicht etwas provinziell, vielleicht etwas spießig, aber sicher nicht bedrohlich; vor diesen Deutschen braucht man keine Angst zu haben.“

Die Bonner Jahre haben diese Republik geprägt, und sie prägen sie noch heute. 8 547 Gesetzentwürfe wurden bis zum Umzug nach Berlin in den Deutschen Bundestag eingebracht und 5 505 Gesetze verabschiedet. Schon zu seinem 20. Geburtstag bezeichneten Journalisten den Deutschen Bundestag als „fleißigstes Parlament der Welt“. Es ist deswegen nicht weiter erstaunlich, dass Verfahren und Stil der Bonner Republik ohne jede substanzielle Änderung auch nach Berlin übertragen wurden. Wer sich hier gestern und heute umgesehen hat, der wird festgestellt haben: Der Umzug hat Bonn offensichtlich stärker verändert als das Parlament und unser politisches System.

„Bonn ist nicht Weimar“, hatte der Deutschlandkorrespondent der Züricher „Tat“ , René Allemann, schon in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre erleichtert festgestellt. Der Satz wurde zum geflügelten Wort. Bonn ist nicht Weimar, und Berlin ist in mancherlei Hinsicht Bonn geblieben. Das eine ist so beruhigend wie das andere.

In der Bonner Republik wurden die Fundamente für eine politische Kultur gelegt, die zwar durchaus heftige Auseinandersetzungen kennt, die aber stets auch die Bereitschaft zum Kompromiss und die Kraft zur Integration hatte. Nichts verdeutlicht dies vielleicht besser als die Entwicklung der Grünen, die 1983 dezidiert systemkritisch als Antiparteien-Partei hier in Bonn auftraten, als Bewegung, die mit „diesem ganzen Laden“ nichts zu tun haben wollte und deren Repräsentanten im Parlament Wert darauf legten, sich nicht nur äußerlich von den etablierten Politikern zu unterscheiden, sondern zum Beispiel auch dadurch, dass sie ihre Mandate nach dem Rotationsprinzip nach zwei Jahren an sogenannte Nachrücker weitergeben wollten - oder jedenfalls sollten.

Ich glaube, es spricht weder gegen die Partei, die sie schließlich doch geworden ist, noch gegen den deutschen Parlamentarismus, wenn man heute feststellt, dass sie durch unser parlamentarisches System stärker verändert worden ist als dieses System durch sie.

Meine Damen und Herren, nicht nur das Beispiel der Grünen zeigt im Übrigen, dass der Deutsche Bundestag nicht auf ein bestimmtes Parteiensystem festgelegt und unser Wahlsystem gegenüber Änderungen im Wahlverhalten flexibler ist als oft behauptet. Das personalisierte Verhältniswahlrecht und die Fünfprozentklausel begrenzen eine zu starke Zersplitterung der organisierten Meinungen im Parlament und erleichtern damit die parlamentarische Willensbildung, verhindern den Zugang neuer politischer Kräfte in den Bundestag aber offenkundig keineswegs. Im Ersten Deutschen Bundestag, für den es die Fünfprozentklausel in der jetzigen Form nicht gab, waren übrigens insgesamt zehn Parteien vertreten. Im Laufe der Jahre ist bei prinzipiell gleichem Wahlrecht durch Wählerentscheid die Anzahl der im Parlament vertretenen Gruppierungen auf drei Fraktionen zurückgegangen und schließlich auf vier, heute fünf Fraktionen wieder angewachsen.

Die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie ist nicht zuletzt auch den politischen Parteien zu verdanken. Bei keiner anderen Institution ist die Diskrepanz zwischen tatsächlicher Leistung und niedriger Reputation so groß wie bei ihnen. Perfekt sind die Parteien hierzulande gewiss nicht - ebenso wenig wie die Unternehmen, die Banken, die Gewerkschaften, die Vereine und die Verbände. Aber sie haben mit ihren vielen Tausend Mitgliedern und ganz überwiegend ehrenamtlichen Funktions- und Mandatsträgern einen beachtlichen Beitrag zur Artikulation von Interessen wie zur Konsensbildung unserer Gesellschaft geleistet, der mehr Anerkennung verdient, als das in der Öffentlichkeit meist geschieht.

Der Demokratie als Staatsform standen viele Menschen in diesem Lande zunächst sehr skeptisch gegenüber. Das wird nicht nur in der Literatur, wie gerade vorgetragen, deutlich, sondern auch in vielen politischen Biografien. So heißt es in den Erinnerungen von Erich Mende: „Natürlich waren wir uns alle darüber klar, daß auch an dem zweiten Beginn der deutschen Demokratie viel Abneigung, ja sogar Feindseligkeit in weiten Kreisen der Bevölkerung zu erwarten war. Theodor Heuss hatte mit Recht die Unpopularität der deutschen Demokratie beklagt. Sie sei zweimal nach einer Niederlage ... nach Deutschland gekommen. Warum sollten ausgerechnet wir es einfacher haben als die Abgeordneten der Reichstage nach 1919 in Berlin, noch dazu in einem zerstörten, geteilten und besetzten Deutschland der drei Westzonen hier in Bonn?“

Heute hat sich Deutschland im Unterschied zur Weimarer Republik zu einer Demokratie mit überzeugten Demokraten entwickelt: Bei einer im Herbst 2008 veröffentlichten repräsentativen Umfrage erklärten 95 Prozent der Befragten, Befürworter der demokratischen Idee zu sein, und immerhin drei Viertel sind auch mit der konkreten Form zufrieden, die die Demokratie im Grundgesetz gefunden hat.

Einzuräumen ist allerdings, dass sich nur 45 Prozent der Befragten auch mit der Praxis der Demokratie in Deutschland zufrieden zeigen, was in Anbetracht der zuvor genannten Zahlen ganz offenkundig nicht als ein Zeichen von Demokratieverdrossenheit gewertet werden kann, sondern als manchmal lästige, jedenfalls aber legitime Kritik an konkreten Entscheidungen oder Entwicklungen. Manches, was vorschnell als „Politikverdrossenheit“ interpretiert wird, ist vielleicht eher Ausdruck eines gereiften Urteilsvermögens, zwischen den Prinzipien unserer Verfassung auf der einen Seite und ihrer alltäglichen Praxis auf der anderen Seite unterscheiden zu können - und auch zu wollen.

Was viele Bürgerinnen und Bürger an der Politik ganz offenkundig stört, sind politischer Streit und zähe Entscheidungsprozesse. Beides müssen die Wähler wie die Gewählten allerdings aushalten; Streit muss sein. Demokratie ist kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, sondern zur Herbeiführung mehrheitlich getragener Lösungen, und demokratische Lösungen sind weder durch autoritäre Kommandos noch im Hauruckverfahren zu haben, schon gar nicht angesichts der komplexen und komplizierten Probleme, um die es geht. „Die öffentliche Lust auf eine alexandrinische, knotenzerhauende Politik ist eine undemokratische Lust.“

So hat Heribert Prantl vor wenigen Tagen in einem lesenswerten Kommentar geschrieben und hinzugefügt: „Ein Demokrat haut nicht schnell zu, sondern nestelt herum; er lässt nicht die Fetzen fliegen, sondern versucht, die Knoten zu lösen.“

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Bundestag war nie und ist gewiss auch heute kein „Gesangsverein“, kein - in der Formulierung von Wolfgang Koeppen - „einfältiger Chor“ zu einem von wem auch immer vorgetragenen Solo. Im Deutschen Bundestag wurde die Regierungsarbeit im Gegenteil immer kritisch, aber konstruktiv begleitet und von Teilen der Abgeordneten nicht selten auch leidenschaftlich bekämpft, in einigen wichtigen Fragen gelegentlich auch unabhängig von der Fraktionszugehörigkeit. Und im Unterschied zur Weimarer Republik wird in diesem Parlament die Bereitschaft zum Kompromiss als demokratische Tugend begriffen und praktiziert. Deshalb haben wir allen Grund dazu, stolz auf dieses Parlament und unsere inzwischen 60-jährige parlamentarische Tradition zu sein und selbstbewusst in die Zukunft zu blicken.

Meine Damen und Herren, wer um die Anfänge weiß, muss diese 60 Jahre nicht für ein Wunder halten, aber doch für eine glückliche Fügung, ein Geschenk, für das wir dankbar sein sollten.

Alle, die heute in Deutschland leben, profitierten von guten, historisch beispiellosen ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Umso größer ist die Versuchung, diese Bedingungen für eine Selbstverständlichkeit zu halten und sich nicht klarzumachen, dass dies eben nicht der Regelfall der deutschen Geschichte ist, sondern die seltene, aber glücklicherweise nun seit Jahrzehnten stabile Ausnahme, eine Errungenschaft, die immer wieder unser Engagement erfordert. Dazu gehört insbesondere auch die Teilnahme an Wahlen, zu der ich gerade heute, nur wenige Tage vor der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag aufrufe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben - das waren vor 60 Jahren die von Paul Löbe beschriebenen Erwartungen der Deutschen an ihr Parlament. Als - ich zitiere - „erste Aufgabe“ der Abgeordneten nannte Paul Löbe dazu die Wiedergewinnung der deutschen Einheit, verbunden mit der Versicherung - ich zitiere weiter -, „dass dieses Deutschland ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europa sein will“.

Auch diese Hoffnung hat sich erfüllt. Unser Dank und Respekt gilt nicht nur den Müttern und Vätern unserer Verfassung, sondern allen Frauen und Männern, den bekannten und den in der Regel nicht namentlich genannten, die dieses Land unter schwierigen Bedingungen wieder aufgebaut und zu einem der angesehensten Mitglieder der Völkergemeinschaft gemacht haben.

60 Jahre nach der Gründung zweier deutscher Staaten und 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und der Überwindung der Teilung würdigen wir mit besonderer Hochachtung den Einsatz der vielen Tausend Menschen in der damaligen DDR, die in einer beispiellosen unblutigen Revolution politische Bevormundung und Entmündigung überwunden und mit der souveränen Entscheidung der ersten frei gewählten Volkskammer, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, erstmals in der Geschichte der Deutschen individuelle Freiheit und staatliche Einheit in einem demokratischen Rechtsstaat zusammen möglich gemacht haben.

Meine Damen und Herren, 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und 20 Jahre nach Überwindung der Teilung haben wir in ganz Deutschland nicht nur Frieden, Stabilität und Wohlstand. Wir haben endlich Einigkeit und Recht und Freiheit. Im Glanze dieses Glücks können wir voller Dankbarkeit dieses Fest feiern.

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Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert zu 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung - Festakt im Deutschen Nationaltheater Weimar

Die Unterzeichnung der Weimarer Reichsverfassung am 11. August 1919 ist ein bedeutendes Ereignis der deutschen Geschichte, jedenfalls in der vergleichsweise kurzen Geschichte der mühsamen Entwicklung von Demokratie und Parlamentarismus in Deutschland. Ein herausragendes Ereignis der deutschen Demokratiegeschichte ist die Weimarer Nationalversammlung schon deshalb, weil sie der erste und einzige in Deutschland je allgemein und demokratisch gewählte Verfassungskonvent war. Sie war und bleibt verbunden mit der Einführung des Frauenwahlrechts, mit dem das politisch eher rückständige Deutschland sogar hochangesehenen, etablierten Demokratien in Nachbarstaaten voraus war - eine der wenigen nachhaltigen Errungenschaften der Weimarer Demokratie.

Die neue Verfassung des Deutschen Reiches wurde am 11. August 1919 vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert unterzeichnet, übrigens nicht in Weimar, sondern in Schwarzburg, einem thüringischen Erholungsort, und zwar in einem Nebengebäude des Hotels „Weißer Hirsch“, in dem Ebert wohnte. Im Unterschied zur Verfassung existiert das Hotel heute noch: ein dezenter Hinweis auf die relative Haltbarkeit bedeutender Institutionen des Staates und der Zivilgesellschaft.

Mit der Verkündung im Reichsgesetzblatt trat die Verfassung am 14. August in Kraft. Eine Woche später verabschiedete sich die Nationalversammlung aus Weimar, übernahm aber bis zum Zusammentreten des ersten Reichstages im Mai 1920 dessen gesetzgeberische Aufgaben.

Am Tage der Unterzeichnung der neuen Verfassung, am gleichen 11. August 1919, begannen in Berlin deutsch-polnische Verhandlungen über die Räumung der deutschen Ostgebiete, die im Versailler Vertrag Polen zugesprochen waren: eine wohl zufällige, aber symbolträchtige Koinzidenz zweier historischer Veränderungen der bisherigen Verhältnisse.

Der Vertrag von Versailles, der Frieden schaffen sollte, aber Unfrieden unter den Völkern Europas stiftete, lag wie ein Schatten über dem ehrgeizigen Versuch, nach der militärischen Niederlage und dem Sturz der Monarchie in die politische Moderne aufzubrechen durch den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie, die tatsächlich nach wenigen Jahren scheiterte und in einer beispiellosen Katastrophe endete. Über die tragische Geschichte der Weimarer Verfassung und der von ihr begründeten Demokratie lässt sich nicht reden, jedenfalls nicht urteilen, ohne die Vorgeschichte und die Nachwirkungen des Versailler Vertrages, der mit ähnlichem Ehrgeiz verhandelt wurde und wie diese gescheitert ist.

„Unser Programm ist das Programm des Weltfriedens“, hatte US-Präsident Woodrow Wilson vor Beginn der Pariser Konferenz verkündet; „wir wollten nicht nur den Frieden vorbereiten, sondern den ewigen Frieden“, so der britische Diplomat Harold Nicholson. Dies ist leider gründlich misslungen.

Mit dem Friedensvertrag, den die Deutschen schließlich im Spiegelsaal von Versailles zu unterzeichnen hatten, mit Verpflichtungen und Bedingungen, die zum Rücktritt der Reichsregierung unter Führung von Philipp Scheidemann führten, und den die Nationalversammlung gleichwohl mitten in den Beratungen über die Reichsverfassung am 9. Juli ratifizierte, verlor Deutschland ein Siebtel seines Territoriums von 1914 mit insgesamt einem Zehntel seiner Bevölkerung.

Das Rheinland wurde von den Siegermächten besetzt, Ostpreußen durch einen polnischen Korridor vom Reich abgetrennt, Danzig wurde zu einer Freien Stadt unter dem Schutz des Völkerbundes, dem ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die mit Nachdruck für ihn geworben hatten, gar nicht erst beitraten, die deutschen Kolonien wurden unter den Siegermächten aufgeteilt. Damals haben die Siegermächte „ die Karte Europas gezeichnet, wie sie mehr oder weniger heute noch gültig ist. Tatsächlich aber hat keiner der Unterzeichner die Auswirkungen des eigenen Handelns überblickt“, kommentierte kürzlich der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger die „doppelte Bedeutung“ des Versailler Vertrages über die unmittelbaren Regelungsabsichten hinaus (SPIEGEL-Gespräch 28 / 2009).

Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt - neben den materiellen Lasten und territorialen Abtretungen hatte insbesondere der Kriegsschuldartikel 231, der als einseitige Schuldzuweisung gegenüber Deutschland und seinen Verbündeten verstanden wurde und auch so gemeint war, politisch-psychologische Auswirkungen, die die Lebenskraft der Weimarer Republik von Beginn an beeinträchtigten. Er wirkte wie die amtliche Bestätigung der von Nationalisten und Nationalsozialisten mit diabolischem Eifer verbreiteten Dolchstoßlegende.

Die Wahlen zur Nationalversammlung fanden am 19. Januar 1919 statt, genau einen Tag nach der Eröffnung der Pariser Friedenskonferenz unter Vorsitz des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau und ohne Beteiligung Deutschlands und seiner Kriegsverbündeten.

Von den 423 Mandaten der Nationalversammlung entfielen

  • 165 (39%) auf die SPD
  • 91 (22%) auf das Zentrum
  • 75 (18%) auf die Deutsche Demokratische Partei
  • 44 (10%) auf die Deutschnationale Volkspartei
  • 22 ( 5%) auf die Unabhängigen Sozialdemokraten
  • 18 ( 4%) auf die Deutsche Volkspartei
  • 4 ( 1%) auf den Bayrischen Bauernbund
  • 4 ( 1%) auf sonstige Gruppierungen

Dem Parlament gehörten erstmals 26 Frauen an. Die Zusammensetzung nach Berufen und Beschäftigungsverhältnissen zeigt dagegen im Vergleich zu früheren wie späteren Volksvertretungen keine auffälligen Unterschiede.

Zur feierlichen Eröffnung der Nationalversammlung am 6. Februar, nachmittags um 15 Uhr, war nach Berichten von Zeitzeugen „die halbe Stadt auf den Beinen“. Die damals 37.000 Einwohner zählende Stadt wuchs vorübergehend um rund 4.000 Gäste. Trotz mancher Besorgnisse wegen der erwarteten Schwierigkeiten bei der Unterbringung und Verpflegung der Parlamentarier und ihrer Begleitung fühlten sich viele Bürger Weimars zugleich geschmeichelt und aufgewertet. „Wir wollen nicht in Abrede stellen, dass dies in der Geschichte Weimars ein Ereignis bildet, das geeignet ist, den Namen der Stadt vielleicht für Jahrhunderte von neuem berühmt zu machen“ (Weimarische Zeitung).

Zunächst war daran gedacht, das Weimarer Schloss für die Nationalversammlung zu nutzen - ein ebenso origineller wie zweifelhafter Austragungsort zur Ablösung der monarchischen durch eine demokratische Staatsverfassung, ebenso war - als Referenz zur ersten Nationalver-sammlung in der Frankfurter Paulskirche - die Herderkirche im Gespräch. Schließlich einigte man sich auf das Theater, das noch rasch in „Deutsches Nationaltheater“ umbenannt wurde. Das Theatergestühl wurde für die parlamentarische Versammlung entfernt, dafür wurden die Sessel aus dem Berliner Reichstagsgebäude aufgestellt. (Für den Festakt neunzig Jahre danach wird aus dem Reichstag nur noch der Parlamentspräsident entliehen, die Stühle können bleiben).

Friedrich Ebert eröffnete - noch als Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten - die Versammlung. In seiner Rede beschwor er den „Geist von Weimar“:

„Die alten Grundlagen der deutschen Machtstellung sind für immer zerbrochen. Die preußische Hegemonie, das hohenzollernsche Heer, die Politik der schimmernden Wehr sind bei uns für alle Zukunft unmöglich geworden. Wie der 9. November 1918 angeknüpft hat an den 18. März 1848, so müssen wir hier in Weimar die Wandlung vollziehen vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe… Jetzt muss der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen“.

Die Wahl Weimars als Tagungsort der Nationalversammlung sollte den neuen demokratischen Staat mit den Traditionen des deutschen Idealismus verbinden. Neben Weimar standen damals auch Jena, Erfurt, Eisenach, Kassel, Bayreuth, Bamberg, Würzburg und Nürnberg zur Diskussion und natürlich Frankfurt - allesamt honorige Adressen. Tatsächlich war die Wahl Weimars als Sitz der Nationalversammlung aus der Not der Berliner Turbulenzen geboren, nicht aus dem Geist des Idealismus.

„Dass die Wahl auf Weimar fiel, war auch ein Zeichen von Wunschdenken“, wie Peter Gay in seinem Buch „Die Republik der Außenseiter“ zutreffend analysiert: „Dass man einen Staat in Goethes Stadt gründete, gab keine Gewähr für einen Staat im Geiste Goethes. Es garantierte nicht einmal seinen Bestand. Die Republik wurde in der Niederlage geboren, lebte in Aufruhr und starb in der Katastrophe“.

Die Berufung auf den „genius loci“ von Weimar war demonstrativ und sehr bemüht; sie illustriert einmal mehr das notorisch schwierige Verhältnis von Politik und Kultur, nicht erst in der Moderne. Immerhin: die Kunstfreiheit wurde zur Grundmaxime demokratischer Kulturpolitik erklärt. Gegenüber der Verfassung von 1871 war bei den Freiheitsgarantien nicht nur die Kunst zur Wissenschaft hinzugekommen, sondern daran anschließend die Verpflichtung des Staates zu ihrem Schutz und ihrer Pflege eingeführt worden. „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil“ (Art. 142 WRV). Auch diese Selbstverpflichtung der Weimarer Verfassung gehört zu den nachhaltigen Errungenschaften der deutschen Demokratie.

Die Arbeit an der Verfassungsgebung in Weimar verlief im Ganzen sachlich, nüchtern und mit großem Engagement der Abgeordneten. Davon zeugen sowohl die Verhandlungsprotokolle als auch deren Ergebnis. In 87 Plenarsitzungen wurden die wichtigsten Fragen der künftigen politischen Verfassung Deutschlands debattiert und entschieden. Am 31. Juli wurde die Reichsverfassung verabschiedet mit 262 gegen 75 Stimmen, am 14. August trat sie in Kraft. Gleichzeitig wurde auch die schwarz-weiß-rote Flagge durch die Farben der deutschen Freiheits- und Einheitsbewegung aus der Zeit vor der Frankfurter Paulskirche ersetzt: schwarz-rot-gold.

Die Ausgangslage für die Arbeit der Nationalversammlung und den Aufbau einer stabilen demokratischen Republik war alles andere als günstig. Als die Parlamentarier zusammentraten, fanden sie die Hinterlassenschaft einer gescheiterten Monarchie und eines verlorenen Krieges vor. Für die notwendige Neuorganisation der Staatsgewalt in Gestalt einer demokratischen Republik gab es keine Entwürfe und keine Vorbilder. Soweit es in den Jahren zuvor überhaupt Verfassungsdebatten gegeben hatte bzw. Forderungen nach Verfassungsreformen, galten sie dem Kaiserreich und nicht einer Republik, die damals gar nicht zur Debatte stand. Manche Reformerwartungen hatten sich im Übrigen in den sog. Oktoberreformen des turbulenten Jahres 1918 bereits erledigt.

Für den unvermeidlichen Neuanfang, den die einen wollten und die anderen nicht verhindern konnten, gab es weder Vorarbeiten noch Vorlagen. In manchen Anliegen konnte man an die Paulskirchenverfassung anknüpfen, insbesondere im Blick auf Grundrechte. Der durchaus eindrucksvolle Katalog der Grundrechte galt in der Weimarer Verfassung freilich nur nach Maßgabe der Gesetze, stand also zur Disposition des Gesetzgebers. Dagegen hat das Grundgesetz bekanntlich umgekehrt alle Gesetze an die Grundrechte gebunden und damit erstmals alles staatliche Handeln nur nach Maßgabe der Verfassung legitimiert und deren Auslegung einem eigenen, unabhängigen Verfassungsgericht übertragen.

Die Weimarer Verfassung hat gleichwohl beachtliche Verdienste in der Verankerung der demokratischen Legitimation staatlicher Machtausübung. Dies kommt in den Wahlen zu den Parlamenten wie des Reichspräsidenten zum Ausdruck, der Verantwortung der Regierung vor dem Parlament wie auch in demokratischen Ansprüchen an die Sozialverfassung.

Ganz besonders gilt dies für die Ausgestaltung des Wahlrechts, das die Unmittelbarkeit, Gleichheit und Geheimhaltung der Stimmabgabe und erstmals die Wahlberechtigung der Frauen vorsah.

Diese Regelungen haben die erste deutsche Republik ebenso überdauert wie die Weimarer Kirchenartikel, die Bestandteil des Religions- und des Staatskirchenrechts des Grundgesetzes geworden und geblieben sind.

Die weit verbreitete Kritik an der Weimarer Verfassung begann nicht erst nach 1945 in Verbindung mit dem zweiten Versuch eines demokratischen Neubeginns. Sie war schon in den Zwanzigerjahren deutlich zu hören, keineswegs nur von Anhängern der radikalen Parteien. So erklärte zum Beispiel Reichswehrminister Otto Geßler, der für die liberale DDP über acht Jahre verschiedenen Reichsregierungen angehörte, man habe „in unserer Reichsverfassung die unzweckmäßigsten Bestimmungen anderer Verfassungen zusammengestoppelt“. Darüber lässt sich durchaus streiten. Unbestreitbar sind die uneingelösten, teilweise wirklichkeitsfremden Erwartungen und die Distanz zwischen den großen Zielen und den bescheidenen Ergebnissen, die im Laufe der Jahre immer größer wurde.

Das Jubiläum der Weimarer Verfassung hat eine beachtliche Anzahl neuer Studien veranlasst, die sich um eine differenzierte Beurteilung der Entstehungsbedingungen, Absichten und Wirkungen dieser Verfassung auch im internationalen Vergleich bemühen. „Eine gute Verfassung mit schlechtem Image“: Unter diesem Titel befasst sich der Bielefelder Rechtswissenschaftler Prof. Christoph Gusy kritisch mit der landläufigen Kritik. Die Weimarer Verfassung sei „eine gute Verfassung in schlechter Zeit“. Tatsächlich ist die Verfassung der Weimarer Republik besser als ihr Ruf, sie hatte als Dokument eines demokratischen Erneuerungswillens manche Vorzüge, aber auch erhebliche Schwächen.

Die „demokratischste Demokratie der Welt“ wie der damalige Reichsinnenminister Eduard David (21.06-03.10.1919) voreilig schwärmte, wurde Weimar nicht. Ein absurder Anspruch im Übrigen, der zu den maßlosen Erwartungen gehörte, denen die neue Republik gar nicht entsprechen konnte.

Die Weimarer Reichsverfassung war sicher gut gemeint, aber nicht wirklich gut gelungen. Sie war zweifellos besser als die damaligen Verhältnisse, vielleicht zu gut für schwierige Zeiten - also nicht gut genug für die Verhältnisse, die sie ordnen sollte.

Das uneingeschränkte Verhältniswahlrecht der neuen Republik wollte die Beteiligung auch von Minderheiten an der parlamentarischen Entscheidungsfindung sichern, hat durch den Verzicht auf jede Sperrklausel aber die Entwicklung eines funktionsfähigen Parteiensystems nicht befördert, sondern behindert und die parlamentarische Willensbildung erschwert. Allerdings hat sich in Preußen unter dem gleichen Verhältniswahlrecht das entwickelt, was im Weimarer Reichstag kaum je vorhanden war: stabile, handlungsfähige Regierungen, die von Parteien mit hohem Verantwortungsgefühl getragen waren. Das Wahlrecht alleine kann die Fehlentwicklungen dieser Zeit also weder verursacht haben noch erklären.

Der wohl folgenreichste Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung war die fehlende Balance zwischen den Verfassungsorganen. Die juristisch kunstvolle, politisch eher künstliche Gewichtsverteilung der zentralen Institutionen und ihrer Kompetenzen - Reichspräsident und Reichskanzler, Reichstag und Regierung, dazu die Möglichkeit von Plebisziten anstelle parlamentarischer Entscheidungen - hat eine längerfristig angelegte Arbeit der Regierung geradezu verhindert, da sie zwischen den jeweils durch Wahl direkt legitimierten Verfassungsorganen Präsident und Parlament immer wieder aufgerieben wurde. Die regelmäßigen vorzeitigen Auflösungen des Reichstages vor Ende der gesetzlichen Legislaturperiode sind Ausdruck dieser strukturellen Instabilität.

Sie wurde begünstigt durch den berüchtigten Artikel 48 der Verfassung, die dem Reichspräsidenten ein Notverordnungsrecht zugestand, das sich mit der zunehmenden Handlungsunfähigkeit des Reichstages immer mehr zu einer Ersatzgesetzgebung entwickelte.

In den knapp vierzehn Jahren der Weimarer Republik stürzten sechzehn Regierungen mit einer durchschnittlichen Amtszeit von acht (!) Monaten, mit zwölf Kanzlern und zwanzig Kabinetten. Die längste durchgehende Regierungszeit eines Kabinetts betrug 636 Tage (Hermann Müller, 1928 bis 1930), die kürzeste ganze 48 Tage (2. Kabinett Gustav Stresemann 1924). Die Weimarer Republik scheiterte - neben institutionellen Mängeln einer nur auf dem Papier eindrucksvollen Gewaltenteilung - nicht nur am Fehlen einer unangefochtenen, den Staat als Ganzes repräsentierenden republikanischen Autorität, sondern auch und vor allem an einer Serie politischer Fehlleistungen von Wählern und Gewählten, denen das wirklich Wichtige nicht wichtig genug und das eigene Interesse allzu wichtig war.

Die politische Kultur der Weimarer Republik litt von Beginn an unter dem weitverbreiteten Zweifel über die Vorzüge und die Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Diese Skepsis war genährt von Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und vom Misstrauen in pluralistisch-demokratische Entscheidungsprozesse. Das bei den Wählern wie bei ihren Repräsentanten verbreitete Unverständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen als der vielleicht wichtigsten demokratischen Tugend stürzte 1930 die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Reichsregierung. Sie stürzte übrigens über die Unfähigkeit einer Einigung über die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge.

Damals waren in der bestehenden Großen Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und Bayrischer Volkspartei die jeweiligen Parteiinteressen stärker als die gemeinsame Verantwortung für stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse. Schließlich wurde das Scheitern der Regierung einmal mehr eher in Kauf genommen als der Konflikt mit der eigenen Klientel.

Danach bestimmte nicht mehr das Parlament über gesetzliche Regelungen, sondern der Reichspräsident über die sog. Notverordnungen. Der Reichstag hatte sich als Gesetzgebungsorgan längst aufgegeben, bevor er mit der Zustimmung zu Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ seine eigene Abdankung beurkundete. Die Republik von Weimar ist keineswegs nur an ihren vielen Gegnern, die es zweifellos gab, zugrunde gegangen, sondern auch und vor allem durch das Versagen ihrer demokratischen Stützen.

Es ist nicht unbedingt tröstlich, aber doch redlich, darauf hinzuweisen, dass in keinem der im Ersten Weltkrieg unterlegenen Staaten die neuen parlamentarischen Systeme die stürmischen Zeiten zwischen den beiden Kriegen überlebt haben. Ihre Verfassungen waren keineswegs gleich, eher schon ihre politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Für die gelegentlich allzu vordergründige Suche nach Kausalitäten ist dies jedenfalls nicht belanglos.

Für das Scheitern der Weimarer Republik gibt es viele Gründe, die Mängel ihrer Verfassung gehören wohl dazu. Theodor Heuss, der ihren Aufbau wie ihre Auflösung persönlich erlebt und politisch begleitet hat, verwies während der Beratungen des Parlamentarischen Rates 1948 auf die „offenkundigen Fehlkonstruktionen in der Weimarer Verfassung selber“.

Aber es waren weder alleine die institutionellen Strukturfehler noch der Versailler Vertrag, weder die Reparationszahlungen am Anfang und die Weltwirtschaftskrise am Ende, nicht einmal das Elend einer steigenden Massenarbeitslosigkeit, gewiss nicht die versäumte Demokratisierung von Justiz und Verwaltung oder das Fehlen eines unabhängigen Verfassungsgerichts. Und auch nicht die Plebiszite: gegen Volksabstimmungen gibt es durchaus beachtliche Argumente, aber dass sie die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland zerstört hätten, lässt sich nicht ernsthaft vortragen.

Tatsächlich hätte die junge Republik die eine oder andere der genannten Belastungen vielleicht bewältigen können, unter der geballten Gleichzeitigkeit der Herausforderungen wie der eigenen Fehler ist sie zusammengebrochen.

Die Weimarer Republik war - im Unterschied zu den Verhältnissen davor und danach - eine Demokratie, natürlich nicht ohne Demokraten, wie später allzu geringschätzig immer wieder behauptet wurde, aber gewiss mit zu wenig engagierten Demokraten, sie war eine Republik, in der die Republikaner nie eine verlässliche Mehrheit hatten - nicht einmal für die Wahl des Staatsoberhauptes. Insofern war ihr Ende weder zwangsläufig noch zufällig.

Auf den Tag genau drei Jahre nach der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung, am 11. August 1922, hat Reichspräsident Ebert das Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben zur Nationalhymne des Deutschen Reiches bestimmt. Es hat dann noch beinahe siebzig Jahre gebraucht, bis das Ziel erreicht war, das in diesem Lied aus der Zeit weit vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates formuliert ist: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“.

In diesem Jahr 2009 erinnern wir uns nicht nur an die Weimarer Verfassung vor 90 Jahren und ihren Beitrag auf diesem langen und steinigen Weg, sondern auch an die Gründung zweier deutscher Staaten in einem geteilten Vaterland nach dem Zweiten Weltkrieg, der vor 70 Jahren vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, und an das Grundgesetz, das vor 60 Jahren den zweiten Aufbruch unseres Landes in den Kreis der großen westlichen Demokratien ermöglicht und eröffnet hat.

Vor 20 Jahren ist schließlich die Mauer in Berlin gefallen. Damit war endlich für alle Deutschen der Weg offen für Einigkeit und Recht und Freiheit.

„Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland!“

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Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum 56. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Herr Sejmmarschall!
Herr Professor Schröder! Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!

„Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“ hatte Erich Honecker noch Anfang Oktober 1989 anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gesagt. Vier Wochen später fiel die Mauer, weniger als ein halbes Jahr danach war die kommunistische Regierung durch freie Wahlen gestürzt, ein Jahr später der Staat aufgelöst: Die DDR hatte sich durch Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit der Bundesrepublik Deutschland vereinigt. Es waren nicht Ochs und Esel, es waren die Menschen, die den Sozialismus 1989 nicht nur aufhielten, sondern ihn ersetzten: durch die Freiheit. Einigkeit und Recht und Freiheit.

In diesen Tagen und gerade heute gilt unsere besondere Sympathie und Solidarität den Menschen im Iran, die nach Wahlen, an deren offiziellem Ergebnis sie begründete Zweifel haben, in eindrucksvollen Demonstrationen für Freiheit und Demokratie eintreten.

Um die Freiheit ging es den Menschen auch am 17. Juni 1953. Der Tag gehört deshalb zu den herausragenden Daten der jüngeren deutschen Geschichte. In der Begründung zu dem Bundesgesetz, das den 17. Juni noch im selben Jahr zum gesetzlichen Feiertag bestimmt hat, heißt es:

Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden.

Die Geschichte des 17. Juni 1953 ist, für sich betrachtet, die Geschichte einer Niederlage. Der Aufstand der Menschen in der DDR war brutal niedergeschlagen worden, und doch waren die Erhebungen von 1953 in der Rückschau der Beginn eines letztlich erfolgreichen Kampfes für die Freiheit. Fritz Stern, der als Junge mit seiner deutsch-jüdischen Familie 1938 aus Breslau vertriebene amerikanische Historiker, sagte bei seiner Rede zur Gedenksitzung des Deutschen Bundestages am 17. Juni 1987, also zwei Jahre vor dem Fall der Mauer:

Aus der heutigen Sicht kann man sehen, dass die damaligen Kämpfer mehr erreicht haben   sowohl Erstrebtes wie Ungeahntes  , als man nach ihrer Niederlage vor sowjetischen Panzern hätte erwarten können. Der 17. Juni wurde zu einem Vorboten von Aufständen und Reformen: Die Menschen der Nachbarländer der DDR, die Polen, die Ungarn, die Tschechen, haben auf ihre eigene großartige Weise versucht, ihre Forderungen durchzusetzen … Der 17. Juni hat einen Prozess eingeleitet, in dem immer erneute Forderungen Reformen erzwungen haben.

Viele Menschen in Westdeutschland werden den 17. Juni allerdings vor allem als arbeitsfreien Tag in Erinnerung haben, weniger als einen nationalen Gedenktag, vielmehr als einen Ausflugstag bei häufig schönem Wetter. Und wenn wir ehrlich sind, war das Gedenken an den 17. Juni 1953 in der alten Bundesrepublik für viele eher ein Ritual und in der früheren DDR, wie die Bundeskanzlerin es einmal knapp formulierte, ein „Untag“  vermutlich bei jedem Wetter.

Seit der Wiedervereinigung haben wir die Möglichkeit, ein gemeinsames Verständnis des 17. Juni als eines nationalen wie eines europäischen Gedenktags in Ost und West zu entwickeln, ein Verständnis, das unser Gedenken an diesen Tag als Teil des Erinnerns der europäischen Freiheits- und Einheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts ansieht. Der Fall der Mauer vor 20 Jahren war nicht der Anfang, sondern der glückliche Abschluss einer Entwicklung, die viele Jahre früher begonnen und nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Mittel- und Osteuropa stattgefunden hat.

Ich freue mich deshalb, zur heutigen Gedenkfeier im Deutschen Bundestag neben zahlreichen Botschaftern dieser und anderer Staaten mit einer großen Delegation den polnischen Sejmmarschall, Bronislaw Komorowski, begrüßen zu können und mit ihm die Mitglieder des Präsidiums des polnischen Parlaments, die zur inzwischen jährlichen gemeinsamen Sitzung unserer beiden Parlamentspräsidien gestern und heute nach Berlin gekommen sind.

An die polnischen Verdienste um Freiheit und um die Einheit Deutschlands und Europas wird künftig ein Mauerstück der ehemaligen Danziger Lenin-Werft erinnern, das wir unmittelbar im Anschluss an diese Veranstaltung an der Ostfassade des Reichstagsgebäudes auf dem Friedrich-Ebert-Platz der Öffentlichkeit übergeben. Es handelt sich um einen Teil jener Mauer, über die Lech Walesa vor 29 Jahren, genau am 14. August 1980, sprang, um den Streik zu organisieren, der zur Gründung der Solidarnosc-Gewerkschaft führte. „Zur Erinnerung an den Kampf der Solidarnosc für Freiheit und Demokratie und an den Beitrag Polens zur deutschen Wiedervereinigung und für ein politisch geeintes Europa“, so lautet der Text der an dieser Mauer angebrachten Bronzetafel. Sie ist ein Zeichen, ein sichtbares Zeichen der Erinnerung an eine oft nicht einfache, nicht immer glückliche, aber jedenfalls gemeinsame Geschichte unserer beiden Länder, die   in der Formulierung des unvergessenen großen polnischen Papstes Johannes Paul II.   „der Wille Gottes zu Nachbarn gemacht hat“.

Schon seit geraumer Zeit erinnert eine andere Gedenktafel an die Freundschaft zwischen Deutschland und Ungarn und die souveräne Entscheidung eines damals nicht gänzlich souveränen Landes zur Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich und die damit verbundene Entwicklung zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und Europas.

Mit Polen verbindet uns Deutsche der 17. Juni übrigens auch noch auf eine andere Weise als die Erinnerung an den Aufstand im Jahre 1953. Am 17. Juni 1991 nämlich unterzeichneten Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki in Bonn den deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Über diesen Vertrag sagte 1995 bei einer Veranstaltung von Bundestag und Bundesrat zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der damalige Außenminister Polens, Wladyslaw Bartoszewski, er bilde zusammen mit der Gemeinsamen deutsch-polnischen Erklärung vom 14, November 1989 und dem Deutsch-Polnischen Grenzvertrag „den Abschluss der tragisch belasteten Zeit in den gegenseitigen Beziehungen von Deutschen und Polen, eine optimistische Vorankündigung eines neuen Gefüges im Rahmen der gemeinsamen europäischen Ordnung“. Am 17. Juni 1953 war von einer „optimistischen Vorankündigung eines neuen Gefüges im Rahmen der gemeinsamen europäischen Ordnung“ keine Rede. Die damaligen Ereignisse wurden von Teilnehmern wie Beobachtern eher als eine tragische Episode wahrgenommen denn als Beginn einer neuen Epoche, als die sie sich heute darstellen.

Bis 1990 gab es nicht einmal die Möglichkeit, im Deutschen Bundestag einen Repräsentanten der Deutschen zu Wort kommen zu lassen, die damals gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Unfreiheit den Aufstand geprobt haben. Wir sind dankbar, dass mit Professor Richard Schröder heute jemand die Ereignisse des 17. Juni 1953 schildert und erläutert, der als Mitglied der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer maßgeblich an der Vollendung der Geschichte beteiligt war, die damals scheinbar gescheitert ist: der Weg der Deutschen zu Einigkeit und Recht und Freiheit.

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Parlament

Ansprache des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert bei der 13. Bundesversammlung

Ich eröffne die 13. Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland und heiße Sie, die Mitglieder der Bundesversammlung, herzlich willkommen.

Ich begrüße die Repräsentanten unserer Verfassungsorgane: den Bundespräsidenten, die Bundeskanzlerin, den Präsidenten des Bundesrates, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, die Mitglieder der Bundesregierung wie der Landesregierungen, die Mitglieder des Bundestages und die von den Landtagen gewählten Vertreter sowie die Botschafter und Vertreter der ausländischen Missionen. Mein besonderer Gruß gilt auch den Ehrengästen hier im Saal, stellvertretend für sie alle begrüße ich die Bundespräsidenten

  • Walter Scheel,
  • Richard von Weizsäcker,
  • Roman Herzog.

Der heutige Tag ist eine gute Gelegenheit, Ihnen für den Dienst zu danken, den Sie unserem Land auch nach Ende Ihrer Amtszeit noch immer leisten.

Schließlich begrüße ich alle, die diese Bundesversammlung im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internetangebot des Deutschen Bundestages verfolgen.


Meine Damen und Herren,

vor dreißig Jahren fand die Bundesversammlung erstmals an einem 23. Mai statt, und es ist inzwischen längst eine gute Tradition geworden, dass das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland seitdem immer am Verfassungstag gewählt wird. Dies macht die Verbindung zwischen der Substanz unseres Staatsverständnisses und der politischen Repräsentanz dieses Staates besonders deutlich. Am heutigen Verfassungstag können wir mit dem 60. Geburtstag unseres Grundgesetzes ein besonderes Jubiläum feiern.

Unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, darf heute auf sechzig außergewöhnlich gute, erfolgreiche Jahre in Frieden und Freiheit zurückschauen und kann auch in schwierigen Zeiten mit begründeter Zuversicht in die Zukunft blicken. Es verdankt dieses Glück keinem anderen Dokument mehr als der vorläufigen Verfassung eines damals geteilten Landes: dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ist aus dem ungewöhnlich bescheidenen Anspruch, den „Bauriss für einen Notbau“ zu entwerfen, wie Carlo Schmid die Arbeit des Parlamentarischen Rates einmal charakterisierte, ein stabiles und eindrucksvolles Gebäude geworden. Ob die zahlreichen Umbauten und Anbauten, die dieses Verfassungsgebäude in 60 Jahren erfahren hat, alle notwendig und alle gut gelungen sind, das war vorgestern Gegenstand eines durchaus selbstkritischen Verfassungsgesprächs unter Beteiligung der Spitzen unserer Verfassungsorgane.

Konrad Adenauer, der damalige Präsident des Parlamentarischen Rates, hat am Tag der Verkündung des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland prognostiziert: „Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes“, Sechzig Jahre später dürfen wir feststellen: Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes begann für die Deutschen, zunächst allerdings nur im Westen des geteilten Landes, die beste Zeit ihrer Geschichte, eine beispiellose Epoche des Friedens und der Freiheit, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der sozialen Sicherheit.

Selbstverständlich war dies nicht. Und allgemein erwartet wurde es schon gar nicht. Das Scheitern der Weimarer Republik stand vielen noch deutlich vor Augen. Immerhin 40 Prozent der Deutschen erklärten im März 1949, also mitten in den Beratungen des Parlamentarischen Rates, ihnen sei die zukünftige westdeutsche Verfassung schlicht gleichgültig. Und noch fünf Jahre nach seiner Verkündung kannten mehr als die Hälfte der Deutschen das Grundgesetz überhaupt nicht; nur 30 Prozent fanden es im Großen und Ganzen gut, 51 Prozent erklärten, es nicht zu kennen.

Das Vertrauen in die beste und freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je hatte, ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist dem Grundgesetz über die Jahre erst zugewachsen.

Heute ist Deutschland ganz gewiss keine „Demokratie ohne Demokraten“ mehr. Die Deutschen in Ost und West sind bei aller Kritik an einzelnen Entscheidungen, Personen und Institutionen ganz überwiegend überzeugt von der politischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, dem Grundgesetz und der von ihm begründeten parlamentarischen Demokratie. In jüngeren repräsentativen Umfragen erklären neun von zehn Befragten, Befürworter der demokratischen Idee zu sein. Zwei Drittel aller Befragten geben im Februar 2009 an, stolz auf das Grundgesetz zu sein, über 80 Prozent stimmen der Aussage zu: „Ich bin stolz auf die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Deutschlands.“ Und sie dürfen es sein. Das Grundgesetz gilt längst als eine der großen, exemplarischen Verfassungen der Welt.

Wir haben viele gute Gründe, den 60. Geburtstag unserer Bundesrepublik Deutschland für einen dankbaren Rückblick zu nutzen. Unser Dank und Respekt gilt nicht nur den Müttern und Vätern unserer Verfassung, sondern allen Frauen und Männern, den bekannten und den in der Regel nicht namentlich genannten, die dieses Land unter schwierigen Bedingungen wiederaufgebaut und zu einem der angesehenen Mitglieder der Völkergemeinschaft gemacht haben. Sechzig Jahre nach der Gründung zweier deutscher Staaten und zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und der Überwindung der Teilung würdigen wir mit besonderer Hochachtung den Einsatz der vielen Tausend Menschen in der damaligen DDR, die in einer beispiellosen unblutigen Revolution politische Bevormundung und Entmündigung überwunden und mit der souveränen Entscheidung der ersten freigewählten Volkskammer, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, erstmals in der Geschichte der Deutschen Einigkeit und Recht und Freiheit zusammen möglich gemacht haben.

Auf dieser unangefochtenen Grundlage und in diesem Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung aller Demokraten wählen wir heute unser Staatsoberhaupt.

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Parlament

Eröffnungsrede des Präsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert aus Anlass des 60jährigen Jubiläums der Verabschiedung des Grundgesetzes in Berlin

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle ganz herzlich auch im Namen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Herrn Professor Papier, zu diesem Verfassungsgespräch, das wir aus Anlass des 60. Geburtstages des Grundgesetzes heute Abend dem Versprechen von Demokratie und Rechtsstaat widmen wollen.

Diese Verfassungsgespräche haben in Karlsruhe schon eine kleine Tradition, die wir heute gewissermaßen fortsetzen, und natürlich habe ich die Anregung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gerne aufgegriffen, ob nicht dieser besondere Anlass auch ein guter Grund dafür sein könnte, dieses Gespräch heute in Berlin am Vorabend der Geburtstagsfeierlichkeiten der Bundesrepublik und des Grundgesetzes durchzuführen und wenn eben möglich im Deutschen Bundestag, also dem Organ, das die Gesetze und gelegentlich eben auch die Verfassungstexte berät und verabschiedet, den das Verfassungsgericht anschließend seine viele Arbeit verdankt.

Ich freue mich über alle, die heute Abend zu diesem Gespräch gekommen sind. Mein ganz besondere Gruß gilt der Bundeskanzlerin. Ich freue mich über die Teilnahme von Mitgliedern der Bundesregierung und des Bundestages. Ich bedanke mich dafür, dass zahlreiche Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes heute Abend dabei sind, Aktive und Ehemalige. Und mein ganz besonders herzlicher Gruß gilt Bundespräsident Roman Herzog, der zu all den Themen, die wir heute Abend vielleicht behandeln könnten, beinahe den Abend alleine bestreiten könnte, weil er sowohl aus der Perspektive der Legislative wie der Exekutive wie der Judikative dazu eigene Erfahrungen beisteuern könnte.

Meine Damen und Herren, das Grundgesetz gilt in diesen Tagen seit 60 Jahren. Es ist damit fast so lange gültig wie die Verfassung des Deutschen Reiches und die Weimarer Verfassung zusammengenommen. Ende nächsten Jahres wird das Grundgesetz eine längere Geltungsdauer haben als die beiden Vorgängerverfassungen zusammen erlebt haben.

Dieses Grundgesetz gilt inzwischen – jedenfalls nach meinem Eindruck auch und gerade bei internationalen, bei ausländischen Beobachtern und Experten als eine der großen Verfassungen der Welt. Davon konnte man auch nicht unbedingt ausgehen, als man mit den ersten Beratungen zu diesem Grundgesetz begann. Carlo Schmid hat damals im Parlamentarischen Rat von einem Bauriss für ein Notgebäude gesprochen. Daraus ist jedenfalls ein erstaunlich stabiles Gebäude geworden. Dazu hat zweifellos das Bundesverfassungsgericht ganz maßgeblich beigetragen, das seinerseits zu den glücklichen Innovationen dieser Verfassung gehört und seine rechtshistorisch beispiellose Rolle in sechs Jahrzehnten so überzeugend wahrgenommen hat, dass es heute unangefochten die höchste Reputation aller Verfassungsorgane genießt. Mehr als Dreiviertel aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes erklären in jüngeren Umfragen ausdrücklich ihr großes Vertrauen in die Arbeit dieses Verfassungsorgans. Es ist übrigens unter anderen Verfassungsorganen in letzter Zeit besser geworden, aber es gibt nachwievor doch eine beachtliche Distanz. Etwas salopp formuliert, die Deutschen trauen ihren Richtern mehr als ihren Politikern. Warum auch immer das so ist, was ja vielleicht auch ein Thema des Gespräches sein könnte.

Wir können uns heute Abend, meine Damen und Herren, den eher seltenen Luxus erlauben, das im Unterschied zu den meisten Geburtstagsfeiern, bei denen der Jubilar heftig gelobt werden muss, damit die Vorzüge auch um Gottes Willen nicht übersehen werden und mögliche Probleme, wenn überhaupt, eher freundlich zurückgestellt werden. Wir befinden uns heute Abend in der glücklichen Lage, das die Abteilung Lobpreisung des Grundgesetzes jedenfalls nach meiner Wahrnehmung eher knapp gehalten werden kann, weil es einen ernsthaften Streit über die Qualität, über die Geltung, über den Rang dieser Verfassung schon lange nicht mehr gibt. Das sollte uns um so eher in die Lage versetzen, uns in Ruhe, aber auch durchaus selbstkritisch mit der Entwicklung auseinanderzusetzen, die diese Verfassung und dieses Land in den 60 Jahren unter der Geltung dieses Grundgesetzes genommen hat.

Seit 1949 ist das damals verkündete Grundgesetz 54-mal ergänzt oder geändert worden. Das ist bei 60 Jahren im Durchschnitt weniger als einmal pro Jahr, aber es ist immerhin doppelt so häufig wie die amerikanische Verfassung in 200 Jahren. Für jede einzelne dieser Änderungen oder Ergänzungen hat es Gründe gegeben. Mal mehr und mal weniger zwingende. Aber das dem Verfassungsgesetzgeber jede einzelne dieser Änderungen gleich gut gelungen sei, wird man wohl nur zögernd behaupten wollen.

Das Grundgesetz ist in den vergangenen 60 Jahren deutlich länger geworden. Nach Auskunft von Experten, die ich dazu befragt habe, hat es inzwischen nahezu den doppelten Umfang gegenüber dem Text von 1949. Ob es mit der erheblichen Erweiterung auch erheblich besser, jedenfalls präziser geworden ist, diese Frage werden wir uns mindestens gefallen lassen müssen. In einer interessanten staatsrechtlichen Studie, die gerade in diesem Jahr veröffentlicht worden ist, findet sich der jedenfalls diskussionswürdige Satz: „Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen.“ Ob das so ist und ob sich das überhaupt in dieser Weise auch verallgemeinern lässt, ist wiederum ein jedenfalls denkbarer Gegenstand einer solchen gemeinsamen Beschäftigung mit dem Thema.

Jedenfalls lässt sich auch mit Blick auf die Auseinandersetzung früherer Jahre nur schwer übersehen, dass es an der einen und mal an der anderen Stelle beachtlichen Gestaltungsehrgeiz gibt. Und es gibt ja sowohl die Vermutung, dass diese gerade mit Blick auf die Quantitäten geschilderte Entwicklung mit dem besonderen Gestaltungsehrgeiz des Verfassungsgesetzgebers zusammenhinge. Aber es gibt in der Literatur und in der politischen Diskussion gelegentlich auch die umgekehrte Vermutung, dass es mit dem Ehrgeiz des Verfassungsgerichts zusammenhinge, vorhandene Verfassungsbestimmungen so eng auszulegen, dass der gewünschte Gestaltungsspielraum nur durch entsprechende Änderungen, Präzisierungen, Ergänzungen des Verfassungstextes zu erreichen sei.

Sie merken, ich vermeide sorgfältig jede Festlegung nach der einen oder anderen Seite, behaupte allerdings, dass ich beide Vermutungen für hinreichend begründet halte, um eine ruhige konstruktive Beschäftigung mit diesem Thema zu rechtfertigen.

Der eine oder andere von Ihnen weiß ja auch, dass ich gerade auch mit Blick auf manche jüngere Überlegungen nicht restlos glücklich bin, was Gestaltungsehrgeiz betrifft, wobei ich schon meine, dass wir jenseits der in diesem Zusammenhang gelegentlich strapazierten Frage der sogenannten Verfassungsästhetik auch die hochpolitische Frage beantworten müssen, welche Folgen es denn eigentlich hat, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, wenn immer häufiger neben Grundsätzen und Grundregeln politische Gestaltungsabsichten den Verfassungsrang ausgestattet werden. Was das für die Spielräume künftiger Gesetzgeber, künftiger demokratisch legitimierter Mehrheiten bedeutet und damit auch für die Architektur eines politischen Systems, für das wir uns im großen und ganzen regelmäßig wechselseitig beglückwünschen und das mit gutem Grund, weil uns in unserer Geschichte selten Ähnliches ähnlich gut gelungen ist wie diese Verfassung.

Noch einmal herzlichen Dank an Sie alle für Ihr Interesse an diesem Gespräch. In diesen Dank schließe ich auch die Repräsentanten der Gesellschaft ein, die wichtige Gruppe, die gerade auch mit Blick auf das Entstehen unserer Verfassung und ihre gesellschaftspolitische Relevanz immer wieder den Dialog mit den Verfassungsorganen pflegen und beteiligt sind. Ich bedanke mich insbesondere bei Herrn Frey und den Damen und Herren, die im Podium gleich für uns gewissermaßen stellvertretend einige der Aspekte aufgreifen, die mit Blick auf eine 60jährige Verfassungsgeschichte besondere Aufmerksamkeit verdienen.

Herzlichen Dank.

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Parlament

Weimar und das Scheitern der Moderne. Kein Königsdrama. Festvortrag anlässlich der Jahresversammlung der Shakespeare-Gesellschaft in Weimar

Es ist nicht sonderlich originell, die Gegenwart für die Moderne zu halten. In der Vergangenheit Spuren zu entdecken, die - direkt oder auf Umwegen - nicht nur in die Gegenwart führen, das tun sie immer, sondern sie prägen ihre Verhältnisse, ihre Strukturen, ihr Lebensgefühl - ist wesentlich anspruchsvoller und aufschlussreicher.

Nicht alles, was zeitgemäß ist, ist deshalb auch modern und schon gar nicht beständig. Und was Zeitgenossen als Aufbruch erscheint - in Politik oder Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst - erweist sich später gelegentlich als Rückzug oder als Sackgasse.

Als heute auf den Tag genau vor 84 Jahren, am 26. April 1925, der frühere Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Kandidat der Rechten, mit den Stimmen der Republikfeinde, im Alter von 77 Jahren als Nachfolger des verstorbenen Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum zweiten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt wurde, war das für manche Beobachter ein Zeichen der Versöhnung der alten militärischen Elite mit der neuen politischen Ordnung. Es war ganz gewiss kein „Aufbruch in die Moderne“, sondern eher der Triumph der Vergangenheit über die Zukunft und der Anfang vom Ende einer kurzlebigen Republik, in der die Republikaner nie eine stabile Mehrheit hatten, nicht einmal für die Wahl des Staatsoberhauptes.

Als sieben Jahre später, am 10. April 1932, der gleiche Paul von Hindenburg, inzwischen 84 Jahre alt, nun als Kandidat der Demokratischen Parteien gegen Adolf Hitler und damit gegen den offenen Machtanspruch der erklärten Systemgegner im Amt bestätigt wurde, war dies beinahe so etwas wie der verzweifelte Versuch, einen Rest von politischer Modernität gegen ihren kompletten Abbruch zu verteidigen.

Insbesondere das Verhalten der Kamarilla des greisen Reichspräsidenten im längst rapiden Auflösungsprozess der parlamentarischen Demokratie in einer geradezu skurrilen Strategie ausgerechnet Adolf Hitler als Galionsfigur verwenden zu wollen, um ihn binnen eines halben Jahres ausgerechnet mit einem Franz von Papen an die Wand zu drücken, hat alle Ingredienzien einer Farce, die Shakespeare zu einem großen Drama verarbeitet hätte.

Weimar war kein Königsdrama, das Ende nicht, ebenso wenig wie der Anfang. Die Weimarer Republik folgte auf die Abdankung des Kaisers, eines Monarchen, dessen Abgang ebenso banal wie seine Amtszeit war und deren zweifelhafter früher Höhepunkt die Entlassung Bismarcks gewesen ist, der im Unterschied zum Kaiser ein Staatsmann war.

„Es gab eine Zeit“, schreibt der Schweizer Autor Urs Widmer in seiner brillanten Nacherzählung von Shakespeares Königsdramen, „da stand man, je mächtiger man war, desto näher seinem Grab. Barone und Herzöge starben, ohne ihre Bärte jemals gesehen zu haben. König zu werden war ein Todesurteil.“

Der von Shakespeare dargestellte Abschnitt der Geschichte Englands beginnt 1399 und endet 1533. In diesen 134 Jahren starben neun Könige „und manche von ihnen“, schreibt Urs Widmer, „stiegen auf den Thron, während ihre Särge schon gezimmert wurden“.

In 14 Jahren der Weimarer Republik stürzten 16 Regierungen mit einer durchschnittlichen Amtszeit von acht Monaten, mit 12 Kanzlern und 20 Kabinetten. Die längste durchgehende Regierungszeit eines Kabinetts betrug 636 Tage, weniger als zwei Jahre (Hermann Müller, 1928 bis 1930), die kürzeste ganze 48 Tage (2. Kabinett Stresemann 1923).

Die Weimarer Republik scheiterte - neben institutionellen Mängeln einer nur auf dem Papier eindrucksvollen Verfassung - nicht nur am Fehlen einer unangefochtenen, den Staat als Ganzes repräsentierenden „königlichen“ Autorität, sondern auch und vor allem am Fehlen von Demokraten und einer Serie politischer Fehlleistungen von Gewählten, nicht Erwählten, denen das wirklich Wichtige nicht wichtig genug und das Nachrangige allzu wichtig war.

Die Welt, die Shakespeare in seinen Königsdramen entwirft, scheint unendlich weit entfernt von den Zeiten, denen diese Shakespeare-Tagung gewidmet ist. Der Erste Weltkrieg hatte als industrialisierter Massenkrieg mit den Schlachten des Mittelalters nichts mehr gemein - außer den Opfern, denen der eine wie der andere Krieg das Leben gekostet hat.

Immerhin: Die Menschen am Beginn des 20. Jahrhunderts teilten mit Shakespeare im Elisabethanischen Zeitalter eine wesentliche Erfahrung: Sie standen an Epochenscheiden der Moderne. Shakespeare war ein Mann des Umbruchs, er stand mit einem Bein in der Renaissance und mit dem anderen in der Moderne. „Shakespeares Tragödien gehören zu den Grundtexten unserer Zivilisation“, so Dietrich Schwanitz in seiner Englischen Kulturgeschichte, „weil sie an der Schwelle neuzeitlicher Staatenbildung archaische und moderne Erfahrungen miteinander vermitteln.“

Deutschland erlebte 1919 kein Shakespearesches Königsdrama. Die Republik suchte vielmehr die Nähe zur deutschen Klassik. Die Wahl Weimars als Tagungsort der Nationalversammlung sollte u.a. den neuen demokratischen Staat mit den Traditionen des deutschen Idealismus verknüpfen

Friedrich Ebert sagte bei der Eröffnung der Weimarer Reichsversammlung:

„Wie der 9. November 1918 angeknüpft hat an den 18. März 1848, so müssen wir hier in Weimar die Wandlung vollziehen vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe. … Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen.“

Tatsächlich war die Wahl Weimars als Sitz der Nationalversammlung aus der Not der Berliner Turbulenzen geboren, nicht aus dem Geist des Idealismus. „Dass die Wahl auf Weimar fiel, war auch ein Zeichen von Wunschdenken“ wie Peter Gay in seinem Buch „Die Republik der Außenseiter“ zutreffend analysiert. „Dass man“, so schreibt er, „einen Staat in Goethes Stadt gründete, gab keine Gewähr für einen Staat im Geiste Goethes. Es garantierte nicht einmal seinen Bestand. Die Republik wurde in der Niederlage geboren, lebte in Aufruhr und starb in der Katastrophe.“

Die Berufung auf den „genius loci“ von Weimar war demonstrativ und sehr bemüht; sie illustriert das notorisch schwierige Verhältnis von Politik und Kultur, nicht erst in der Moderne. Immerhin: die Kunstfreiheit wurde zur Grundmaxime demokratischer Kulturpolitik erklärt. Gegenüber der Verfassung von 1871 war bei den Freiheitsgarantien nicht nur die Kunst zur Wissenschaft hinzugekommen, sondern daran anschließend die Verpflichtung des Staates zu ihrem Schutz und ihrer Pflege eingeführt worden. „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“ (Art. 142 der Weimarer Verfassung)

Übrigens findet sich 1927 zum ersten Mal in der siebten Auflage von Meyers Konservationslexikon das Stichwort „Kulturpolitik“ anstelle des bis dahin in den Lexika dominierenden Begriffs „Kulturpolizei“ mit folgender bemerkenswerten Differenzierung: „Kulturpolitik bedeutet 1. die Bestrebungen des Staates, die auf Förderung kultureller Güter abzielen und einen wichtigen Teil der Innenpolitik bilden. 2. die Bestrebungen, die sich der Kulturgüter als Mittel für Machtzwecke bedienen (Kulturpropaganda).“

Schon am 29. Dezember 1919, also wenige Wochen nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung und der Konstituierung dieser neuen Republik wurde der Kunsthistoriker Edwin Redslob, gebürtiger Weimarer, zum Reichskunstwart ernannt. Inzwischen ist nicht nur der denkwürdige Begriff vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, sondern der Name des ersten und einzigen Amtsinhabers auch. Der Reichskunstwart war ein dem Reichsministerium des Innern der Weimarer Republik unterstellter Beamter, der vor allem verantwortlich war für das äußerliche Erscheinungsbild, die künstlerische Formgebung des demokratischen Staates und die Symbole der Republik. Zwischen der subjektiven Gestaltung des Künstlers und den Anforderungen des Staates sollte er an der Entwicklung und Durchsetzung des neuen Kunstverständnisses mitwirken und vermitteln. Edwin Redslob war folgerichtig zuständig für die Gestaltung der Briefmarken, der Geldscheine, der Münzen, der Urkunden und Medaillen des Deutschen Reiches, die er insbesondere von den monarchischen Insignien zu befreien und mit mehr oder weniger eindrucksvollen republikanischen Symbolen zu versehen hatte. Er koordinierte Wettbewerbe für die Staatsbauten und das Reichsehrenmal für die Kriegstoten, er gestaltete Verfassungs- und Trauerfeiern, für die es in Weimarer Zeiten reichlich Anlass gab: für Walter Rathenau, für Friedrich Ebert, für Gustav Stresemann.

Als Edwin Redslob, der eher unauffällig und vielleicht deshalb alle wechselnden Kabinette der Weimarer Republik überlebt hatte, im Jahre 1933 von den Nazis endgültig aus seinem Amt entlassen wurde, gab es eine nicht weniger als 65jährige Pause, bis der deutsche Zentralstaat in Gestalt des „Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“ wieder eine personalisierte Verantwortung für die Wahrnehmung seiner kulturpolitischen Funktionen sich zu etablieren traute.

Das „durch Autonomie und wechselseitige Abhängigkeit“ geprägte Verhältnis dieser beiden notorisch schwierigen, im Spannungsverhältnis unvermeidlicherweise befindlicher Sphären „wurde in der Weimarer Republik mit extremen Entwicklungen konfrontiert, die aus unterschiedlichen politischen Positionen auf einer Aufhebung dieser zwischen Ihnen bestehenden Spannungen zielten. Auf der revolutionären Linken durch Politisierung der Kunst und der Massenkultur. Auf der gegenrevolutionären Rechten durch Ästhetisierung der Politik“, so Peter Reichel in seinem hochinteressanten Essay über die „Politisierung der Kunst oder Ästhetisierung der Politik?“.

Das hatte die Weimarer Republik weder gewusst noch gelernt: dass Politik nicht mit Wahrheitsansprüchen handelt, sondern mit Interessen. Interessen sind mehrheitsfähig, Wahrheiten nicht. Interessen sind legitim, aber nicht unbedingt richtig. Mehrheiten entscheiden, was gilt. Ob dies auch richtig oder gar wahr ist, lässt sich durch Mehrheiten nicht ermitteln. Und umgekehrt gilt: Wer mit Wahrheitsansprüchen handelt, hat in der Politik nichts zu suchen und alles zu verlieren. An der Verweigerung dieser fundamentalen Einsicht ist die Republik gescheitert An diesem Scheitern waren auch Künstler und Intellektuelle beteiligt, keineswegs nur in einer passiven Rolle, wie Kurt Sontheimer in seiner großen Untersuchung über „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ vor inzwischen einem guten Vierteljahrhundert aufgezeigt hat.

Die politische Kultur der Weimarer Republik litt von Beginn an unter dem weitverbreiteten Zweifel über die Vorzüge und die Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Diese Skepsis war genährt von Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und vom Misstrauen in die pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Das verbreitete Unverständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen, als der vielleicht wichtigsten demokratischen Tugend, stürzte 1930 die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Reichsregierung. Sie stürzte übrigens in der Auseinandersetzung um eine Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Damals  waren in der bestehenden Großen Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei und Bayerischer Volkspartei die jeweiligen Parteiinteressen größer als die gemeinsame Verantwortung für stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse. Schließlich wurde das Scheitern der Regierung einmal mehr eher in Kauf genommen als der Konflikt mit der eigenen Klientel. Diese Republik ist deshalb keineswegs nur an ihren vielen Gegnern, die es sicher gab, zugrunde gegangen, sondern auch und gerade durch das Versagen ihrer demokratischen Stützen.

Das Ende der Weimarer Demokratie war weder zufällig noch zwangsläufig. Dies ist bei allen offenen Fragen über die tieferen Ursachen des Siegeszuges der Nationalsozialisten ein fundiertes historisches Urteil.

Für den englischen Historiker Allan Bullock war die Weimarer Republik zwar politisch ein Fehlschlag und wirtschaftlich ein Desaster, aber kulturell „ein Brennpunkt der Moderne

Als eine Hypothek des Kaiserreichs in der Weimarer Republik gilt seit Eduard Bernsteins Analyse von 1921 das konfliktreiche Missverhältnis aus stürmischer gesellschaftlicher Modernisierung in Deutschland einerseits und demokratischer Rückständigkeit auf der anderen Seite. Zugleich war das Kaiserreich mit dem Allgemeinen Wahlrecht moderner als England, das “Mutterland„ der Demokratie, damals wie heute in Gestalt einer konstitutionellen Demokratie, woraus sich nicht zuletzt die Revolutionsskepsis vieler Sozialdemokraten 1918/19 erklären lässt, denen es eben “nur„ um ein Mehr an Demokratie, längst aber nicht mehr um die Diktatur des Proletariats ging.

Wenn das Wesen der Moderne in der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse besteht, dann war die Weimarer Zeit sehr modern. Das Janusgesicht der Moderne war in Europa nirgends besser und schon gar nirgends deutlicher zu besichtigen als im Deutschland der 20er und frühen 30er Jahre.

Dennoch: Für die Weimarer Republik von einem “Aufbruch in die Moderne„ zu sprechen, ohne weitere Konditionen und Anführungszeichen, ist mindestens insofern anachronistisch, als dieser Aufbruch zweifellos viel früher begonnen hat.

- Arnold Schönbergs “Zwölftonmusik„ als Absage an die überkommene Tonalität einer inzwischen Jahrhunderte alten Musikgeschichte datiert schon im Jahre 1909.

- Und das erste ungegenständliche Bild der Kunstgeschichte von Wassily Kandinsky stammt aus dem Jahre 1910.

Die Weimarer Republik stand allerdings und unzweifelhaft im krisenhaft akzentuierten Schnittpunkt epochaler Neuerungen. Nicht nur, aber auch kultureller Neuerungen. Sie bildet insofern ganz sicher einen “Höhepunkt jener klassischen Moderne, die sich um die Jahrhundertwende zu entfalten begann„. (Detlev J. K. Peukert) Mit bemerkenswerten Durchbrüchen, die entweder in dieser Zeit stattfanden oder in dieser Zeit ihre entscheidende Massenwirkung entfalteten. Das gilt sowohl für den Bereich der Technik wie für den Bereich der Wissenschaft, der Naturwissenschaften wie der Humanwissenschaften und nicht zuletzt für den Bereich der Kunst und Kultur, der Musik, der Architektur und der Literatur und der bildenden Künste in beinahe gleicher Weise. Und dafür ist keineswegs nur die Gründung des Bauhauses hier in Weimar 1919 ein spektakuläres Signal, sondern dafür lassen sich geradezu Jahr für Jahr, übrigens auch an den Maßstäben der heutigen Kunst- und Kulturproduktionen gemessen, Leuchttürme des kulturellen Schaffens identifizieren.

1921 schreibt Ludwig Wittgenstein seinen berühmten “Tractatus logico-philosophicus„: “Die Welt ist alles, was der Fall ist„. Wittgenstein konnte nicht ahnen, was gut ein Jahrzehnt später alles der Fall sein würde.

1923 verkündet Oswald Spengler den “Untergang des Abendlandes„, den auch er sich als ausdrücklicher Vertreter der konservativen Revolution nicht so vorstellen konnte, wie es tatsächlich der Fall wurde.

André Breton publiziert 1924 sein “erstes surrealistisches Manifest„, mit dem er die Kunstauffassung seiner Zeit revolutionieren wollte - und nahm nicht einmal zur Kenntnis, dass der Surrealismus damals die Politik schon stärker prägte als den Rest der Gesellschaft, den er missionieren wollte.

1924 schreibt Thomas Mann seinen “Zauberberg„, 1927 Hermann Hesse den “Steppenwolf„, 1929 Alfred Döblin “Berlin Alexanderplatz„, 1930 Robert Musils den “Mann ohne Eigenschaften„.

Die Weimarer Republik war auch die große Zeit eines politischen Journalismus mit gesellschaftskritischen Reportagen, bei denen man, wenn man sie heute liest, geradezu sehnsüchtig werden könnte mit Blick auf manche Zeitungen mit jüngerem Erscheinungsdatum. In der “Weltbühne„ schrieben neben Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky auch Lion Feuchtwanger, Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler, Alfred Polgar, Carl Zuckmayer und Arnold Zweig.

Das Berlin der 20er Jahre war der Wallfahrtsort des politischen Theaters mit Bertold Brecht und natürlich Max Reinhardt und nicht zu vergessen Erwin Piscator.

Dresden wurde damals mit Gret Palucca zum Mekka der modernen neuen Tanzkunst und Mary Wigman stand für bis dahin unbekannte Formen des Ausdruckstanzes.

Es war eine unter nahezu jedem Gesichtspunkt außergewöhnliche und aufregende Zeit, und ich traue mich fast nicht in diese Serie kultureller Großereignisse das Datum mit einzufügen, das Sie mir dennoch mit einem leichten Anflug von Lokalpatriotismus zugestehen müssen, nämlich die ersten großen Shakespeare-Wochen am Bochumer Schauspielhaus 1927. Übrigens auch deshalb ein bemerkenswertes Ereignis, weil es durchaus kritische Anfragen gab, ob dieses Manöver denn wirklich ernst zu nehmen sei. Ein Feuilletonist schrieb damals: “Ist Bochum, so viel Schönes sein Intendant auf Bochums Bühnen leisten mag, geeignet, um als Festspielstadt die Shakespeare-Interessenten von London bis Basel künstlerisch, geistig und leiblich zu befriedigen?„ Und mit dem Mut zum Urteil fügt er prompt hinzu: “Nein„ Denn: Bochum sei kohlenschwarz und könne “bei aller Liebenswürdigkeit seiner Kunstveranstalter nicht zum musischen Verweilen verleiten.„ Um dann immerhin nach Abschluss der Festwochen zu bemerken: “Saladin Schmitt beweist der Welt, dass ein deutsches Provinztheater in einer Stadt von 220.000 Einwohnern manche Weltstadtbühne an Geschmack und Aufmachung übertreffen mag.„ Was ich mir, Ihnen und uns für das nächste Jahr und die dann in Bochum stattfindende Frühjahrstagung der Shakespeare-Gesellschaft zwar nicht verbindlich zusagen kann, aber doch ausdrücklich erhoffe.

Die Herausforderungen der Modernisierung, der Zerfall der bisherigen Selbstverständlichkeiten sowie eine merkwürdige Grundstimmung zwischen Faszination und Irritation, zwischen Aufbruchshoffnung und Untergangsangst bestimmten zunehmend die Jahre nach dem Ersten Weltkriegs und einen beachtlichen Teil der Weimarer Zeit. In seiner großen Studie “Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne„, schreibt Detlev J. K. Peukert: “Mondän und atemlos spielte die Weimarer Kultur alle Positionen und Möglichkeiten der Moderne durch, erprobte und verwarf sie nahezu gleichzeitig.„

Das Motto “Aufbruch in die Moderne„ bedient insoweit ein Verständnis der Epoche, in dem auf dem Gebiet der Kultur Weimar geradezu mythisch als Synonym für Modernität gilt. Während Wirtschaft und Politik sich von Krise zu Krise hangelten, stehen moderne Kunst, Kultur und Technik als bis heute wirksame Zeichen für das Bild von den “Roaring Twenties„.

Weimar war in der Tat nicht nur die große Zeit der neuen Sachlichkeit in bildender Kunst und Literatur. Weimar war auch die Zeit des unaufhaltsamen Aufstiegs der Populärkultur, die übrigens manchen Gebildeten damals in tiefe Verzweiflung und in die Entfremdung trieb gegenüber den modischen Trends und ihren Übertreibungen. Die Weimarer Zeit, das waren die Zeiten des Siegeszuges des Tonfilms, nächst dem Bauhaus vermutlich des spektakulärsten Kunstprodukts der Weimarer Jahre. Deutschland produzierte in den 20er und 30er Jahren mehr Filme als alle anderen europäischen Staaten zusammengenommen. Und das ist nicht nur ein quantitativ bemerkenswerter Befund, weil solche Produktionen wie “Metropolis„ oder “Das Kabinett des Dr. Caligari„ oder “Dr. Mabuse„ ohne jeden Zweifel zu den Klassikern der internationalen Filmgeschichte gehören. Damals gab es in Deutschland übrigens 5.000 Kinos, heute gibt es hierzulande keine 2.000 mehr.

Die Weimarer Zeit, das war auch die große Zeit der Schallplatte, der Durchsetzung des Rundfunks und der ersten Gehversuche des Fernsehens. Die Zahl der Rundfunkhörer ist geradezu explodiert in den 20er Jahren - mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die solche Massenmedien nach sich zu ziehen pflegen.

Und schließlich war dies auch eine Zeit des Aufbruchs in neue Möglichkeiten der technischen Entwicklung. Autos und Motorräder prägten zunehmend das Straßenbild. Die Flugzeuge begannen ein relevanter Teil bislang nicht verfügbarer Möglichkeiten moderner Mobilität zu werden. Die Lufthansa wurde 1926 gegründet.

Deutschland prägte aber in dieser ganzen Zeit immer auch und ganz besonders die außergewöhnlich strapaziöse Konstellation von Modernität einerseits und antimodernem Ressentiment andererseits. Peukerts einschlägige Monographie zur Weimarer Republik heißt nicht zufällig “Krisenjahre der klassischen Moderne„. Er versteht die Weimarer Republik als eine Periode der deutschen Geschichte, in der sich verschiedene vorwärtsdrängende und retardierende Tendenzen der Modernisierung überlagerten, diese Modernisierung zugleich große Hoffnungen und existenzielle Befürchtungen auslöste. Er spricht von der Uneinheitlichkeit der Stilarten, ihrer Gleichzeitigkeit und ihrer Inkompatibilität, von der hektischen Aufeinanderfolge all dieser Ereignisse, der Sprachlosigkeit zwischen den jeweiligen Protagonisten und der Vielfalt der jeweiligen medialen Austragungsorte.

Ich glaube, dass Heinrich August Winkler in seiner großen Monographie der Weimarer Republik ein zutreffendes Resümee dieser Zeit zieht, wenn er formuliert: “Die Weimarer Republik: das war das große Laboratorium der klassischen Moderne, eine Zeit des kulturellen Aufbruchs, der Befreiung von hohlen Konventionen, der großen Triumphe einer weltoffenen künstlerischen und intellektuellen Avantgarde. Mit der ersten deutschen Republik verbindet sich aber auch die Erinnerung an gewaltsame Umsturzversuche und galoppierende Inflation, an Massenarbeitslosigkeit und politischen Radikalismus, an die Krisen und den Untergang einer Demokratie, der in den Augen vieler Deutschen von Anfang an der nationale Makel anhaftete, daß sie aus der militärischen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg erwachsen war.„ Und Winkler fügt hinzu in der Verbindung dieser jüngeren Etappen der deutschen Geschichte: “Weimar war nicht nur die Vorgeschichte des „Dritten Reiches“, sondern auch die Nachgeschichte des Kaiserreiches. Beides läßt sich nicht voneinander trennen, aber in beidem geht Weimar nicht auf. Weimar war auch die erste große Chance der Deutschen, parlamentarische Demokratie zu lernen„, und insofern gehöre Weimar zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, deren 60. Geburtstag wir in wenigen Wochen feiern.

“Es ist unmöglich, zu Shakespeare etwas Neues zu sagen, etwas, das nicht einmal wenigstens schon gesagt worden wäre.„, sagt jedenfalls ein bedeutender politikwissenschaftlicher Kollege, Ekkehart Krippendorff in seiner Studie “Politik in Shakespeares Dramen„. Und fügt mit einer eigenen Begabung zur Dramatik hinzu. “Wenn uns zu Shakespeare nichts Neues mehr einfällt, wird das die Todesanzeige unserer Kultur sein.„ Das ist ganz hübsch formuliert, aber wohl doch stark übertrieben.

Der Weimarer Aufbruch in die Moderne ist gescheitert, auch deshalb, weil am Ende der Politik in Gestalt des Nationalsozialismus etwas entsetzlich Neues eingefallen ist: einen scheinbar unblutigen Machtwechsel durch rücksichtslose physische Vernichtung aller potentiellen Gegner, der tatsächlichen wie der eingebildeten unumkehrbar zu machen. Auf das Scheitern des ersten Aufbruchs in die politische Moderne folgte das beispiellose Drama eines vermeintlich tausendjährigen Reiches, das schon nach 12 Jahren in jeder Beziehung zu Ende war: politisch, militärisch, ökonomisch, moralisch und kulturell. Als explizite Absage an Demokratie und Rechtsstaat war es tatsächlich so etwas wie die Todesanzeige unserer Kultur.

Kein Königsdrama. Ein Schurkenstück, das mieseste, das auf der Bühne der Menschheit jemals aufgeführt wurde.

Dass eine kulturelle Blüte noch lange keine gesellschaftliche Konsistenz oder politische Stabilität sichert, wissen wir seit den Weimarer Erfahrungen besser als vorher. Eine Kultur, die den Absturz der Zivilisation nicht aufzuhalten in der Lage war, hat den Aufbruch in die Moderne nicht geschafft.

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Offener Brief an Herrn Minister a.D. Prof. Wladyslaw Bartoszewski, Beauftragter der Polnischen Regierung für die polnisch-deutschen Beziehungen

Verehrter, lieber Herr Bartoszewski,

mit dem gebotenen Respekt vor Ihrer Biographie und Ihrer eindrucksvollen Lebensleistung und zugleich mit zunehmendem Unverständnis für Ihre jüngsten mehrfachen öffentlichen Erklärungen zur Besetzung des Stiftungsrates der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ wende ich mich nun auch öffentlich an Sie mit dem herzlichen Wunsch, unser gemeinsames Interesse an freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen auch und gerade bei Meinungsverschiedenheiten in der Wortwahl und Tonlage deutlich werden zu lassen.

Selbstverständlich ist es Ihr gutes Recht, Frau Steinbach die Eignung als Repräsentantin deutscher Vertriebener in dem vom Deutschen Bundestag dafür vorgesehenen Stiftungsrat abzusprechen, auch wenn das Bild dieser engagierten Frau in der polnischen Öffentlichkeit zum Teil durch eine unvollständige, manchmal irreführende oder grob dämonisierende Berichterstattung entstanden ist, an der sich zu meinem großen Bedauern auch politische Repräsentanten in beiden Ländern beteiligt haben. Eine „blonde Bestie“ ist sie ganz sicher nicht.

Ich kenne Frau Steinbach aus langjähriger Zusammenarbeit in der Bundestagsfraktion, teile keineswegs alle ihre Positionen, habe im Unterschied zu ihr sowohl dem deutsch-polnischen Grenzvertrag zugestimmt als auch den Beitritt Polens zur NATO wie zur EU nachdrücklich unterstützt, dem auch Frau Steinbach entgegen anderslautender Behauptungen im Deutschen Bundestag zugestimmt hat. Ich schätze ihr ernsthaftes und glaubwürdiges Engagement für Erinnerung und Versöhnung auch und gerade im deutsch-polnischen Verhältnis. Keiner ihrer Vorgänger im Amt des Vorsitzenden des Bundesverbandes der Vertriebenen hat hartnäckiger und erfolgreicher gegen Geschichtsverkürzungen und falsche Ansprüche gestritten als Erika Steinbach. Ihre Entscheidung, einstweilen auf die bereits erfolgte Nominierung für den Stiftungsrates im Interesse der Sache zu verzichten, belegt einmal mehr, dass ihre Haltung und ihr Verhalten souveräner ist als die mancher ihrer Kritiker.

Es versteht sich von selbst, dass Sie diese Einschätzung nicht teilen müssen und dezidiert andere Auffassungen auch öffentlich vertreten können. Aber darf unter Demokraten ein doch hoffentlich konstruktiver Streit soweit gehen, dass man Andersdenkende allesamt als „Narren“ bezeichnet, wie Sie es getan haben, verbunden mit dem ausdrücklichen Hinweis, „wenn jemand sich blöd stellt, hilft auch nichts mehr“? Der Präsident des Deutschen Bundestages, prominente Abgeordnete, Ministerpräsidenten, der Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz: allesamt „Narren“?

Verehrter, lieber Herr Bartoszewski, Ihr persönliches Schicksal und Ihr darauf gegründetes politisches Engagement haben meine große Bewunderung, insbesondere seit Ihrer bemerkenswerten Rede im Deutschen Bundestag 1995, mit der Sie in denkwürdiger Weise das Leid der Deutschen gewürdigt haben, die ohne persönliche Schuld Opfer des von Deutschland durch den Überfall auf Polen begonnenen Zweiten Weltkrieges geworden sind.

In meiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Erzwungene Wege - Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert“ in Berlin habe ich Sie mit Ihrem Beitrag aus Anlass des 70. Geburtstages von Kardinal Lehmann zitiert: „Polen und Deutsche müssen ihre gegenseitigen Relationen neu begreifen und definieren (...) Trotz der tragischen Vergangenheit haben es die Deutschen und die Polen verstanden, eine enorme psychologische und moralische Wende zu vollziehen. Sie beginnen, im Sinne von Verständigung und Versöhnung zu leben.“

Mir liegt sehr daran, dass dies so bleibt - und Ihnen sicherlich auch.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Norbert Lammert,
Präsident des Deutschen Bundestages

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Rede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Verehrte Gäste! Das Jahr 2009 spiegelt mit seiner Vielzahl wichtiger Gedenktage die Errungenschaften wie die Brüche der wechselvollen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Wir werden den 20. Jahrestag des Mauerfalls und das friedliche Ende der deutschen Teilung feiern. Wir begehen den 60. Geburtstag des Grundgesetzes, das zum wichtigsten Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses geworden ist. Wir erinnern an den Überfall Deutschlands auf Polen vor 70 Jahren und damit an den Beginn des Zweiten Weltkrieges, mit dem Deutschland sich selbst und ganz Europa ins Elend stürzte. Wir denken zurück an die Verabschiedung der Weimarer Verfassung und die Geburtsstunde der Weimarer Republik vor 90 Jahren, dem ersten, nach nur 14 Jahren gescheiterten Versuch parlamentarischer Demokratie in Deutschland.

Der heutige 27. Januar ist mehr als der Auftakt zu einer Reihe großer Gedenkveranstaltungen. Er verbindet die kommenden Gedenktage wie ein roter Faden, weil das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus jeden der kommenden Gedenktage begleiten wird, insbesondere den 60. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die zweite deutsche Demokratie entstand auf den Trümmern eines totalitären Regimes, das eine beispiellose politische, ökonomische und vor allem moralische Verwüstung hinterlassen hat. Nicht zufällig besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang zur Staatsgründung Israels, das letztes Jahr seinen 60. Jahrestag feiern konnte. Der israelische Staat wurde auf der Asche des Holocaust gegründet - von Überlebenden der Todeslager und von Flüchtlingen aus den zerstörten Gettos. Auch diesen Zusammenhang macht uns der 27. Januar bewusst.

Vor allem aber gedenken wir am heutigen Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau aller im Dritten Reich verfolgten und ermordeten Menschen: europäische Juden, Sinti und Roma, Slawen, die als Untermenschen denunziert und verfolgt wurden, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, politische Gefangene, Kranke und Behinderte und alle anderen zu Feinden des Nationalsozialismus erklärte Menschen. Wir gedenken auch derjenigen, die mit dem Leben bezahlten, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.

Es gehört zur Tradition dieser Gedenkstunde im Deutschen Bundestag, dass sie Raum schafft für die Vermittlung persönlicher Erinnerungen derjenigen, die die Schrecken des Holocaust selbst erfahren mussten. Erinnerung lebt von der Unmittelbarkeit und der Authentizität der Eindrücke. Wenn ein Überlebender seine persönliche Geschichte erzählt, tritt aus der unvorstellbaren Dimension abstrakter Opferzahlen das einzelne, menschliche Schicksal hervor. Die Konfrontation mit dem Leid des Einzelnen sprengt ritualisierte Formen des Gedenkens. Wir sind den Zeitzeugen dankbar, die diese Gedenkstunde im Deutschen Bundestag seit ihrer Einführung 1996 als Rednerinnen und Redner geprägt und ihre persönlichen Erfahrungen mit uns geteilt haben.

Ich begrüße herzlich Arno Lustiger und Ernst Cramer unter den Ehrengästen, die 2005 und 2006 zu uns gesprochen haben.

Mein ganz besonderer Gruß und Dank gilt den Präsidenten der internationalen Lagergemeinschaften und Häftlingskomitees, die zusammen mit den Direktoren der Mahn- und Gedenkstätten in Deutschland an dieser Gedenkstunde teilnehmen.

Einer der früheren Redner, der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, hat über die Zukunft unserer Erinnerung an den Holocaust - über ein Erinnern ohne Zeitzeugen - einmal gesagt: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“ Ich verstehe diese Worte nicht als Beobachtung, sondern vielmehr als Appell: als Verpflichtung, zuzuhören und in diesem Sinne „Zeuge“ zu sein. Wir bekennen uns zu dieser Verantwortung. Als Zeugen der Geschichte unseres Landes bleiben wir sensibel für alle Entwicklungen, die Demokratie und Menschenrechte gefährden. Als Zeugen von Ereignissen, die niemals hätten stattfinden dürfen, wenden wir uns gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit jeder Art. Als Zeugen geben wir die Lehren, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben, an die nächste Generation weiter.

Wir müssen uns darauf einstellen, dass diese wichtige Aufgabe bald ganz allein in unseren Händen, in den Händen der Nachgeborenen, liegt, wenn auch die letzten Zeitzeugen nicht mehr leben. Auch aus diesem Grund lädt der Deutsche Bundestag jedes Jahr engagierte junge Europäer ein, sich über mehrere Tage mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unseres Landes und den Lebensgeschichten der Opfer auseinanderzusetzen. Ich begrüße die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen Jugendbegegnung herzlich im Deutschen Bundestag.

Ihr ehrenamtliches Engagement gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus stimmt mich zuversichtlich, dass auch die junge Generation Formen des Erinnerns finden und ihre Lehren aus der Vergangenheit ziehen wird. Viele Teilnehmer der Jugendbegegnung leisten Freiwilligenarbeit in Gedenkstätten und tragen dazu bei, Konzentrations- und Vernichtungslager als Orte der Erinnerung zu erhalten. Der Deutsche Bundestag unterstützt dieses Engagement: Erst vor wenigen Wochen haben wir beschlossen, Gedenkstätten, die an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnern, in Zukunft noch intensiver zu fördern. Nach der Fertigstellung des Mahnmals für die verfolgten und ermordeten Homosexuellen ist nun auch in unmittelbarer Nähe zum Reichstagsgebäude mit dem Bau des Mahnmals für Sinti und Roma begonnen worden.

Meine Damen und Herren, nicht nur Orte des Gedenkens geben Zeugnis ab und verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit, wenn die Überlebenden des Holocaust irgendwann verstummen werden. Authentische Zeugnisse sind auch die unzähligen Tagebücher, Notizen, Chroniken und Briefe aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in denen die Stimmen der Opfer - ihre Verzweiflung, ihr Hoffen, ihre Hilflosigkeit - gegenwärtig bleiben. Eines der bekanntesten und ältesten Originaldokumente ist das Tagebuch der Anne Frank. Anne Frank hätte in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag feiern können. Tatsächlich ist sie nur 15 Jahre alt geworden. Journalistin und Schriftstellerin zu werden, war ihr großer Traum. Ihn zu verwirklichen, blieb ihr verwehrt. Mit ihrem Tagebuch jedoch, dem sie knapp ein Jahr vor ihrem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen den Wunsch anvertraute, „etwas Großes schreiben (zu) können“, hat sie Millionen von Menschen weltweit eine Vorstellung davon gegeben, was es bedeutete, in den 30er-Jahren Kind jüdischer Eltern zu sein. Ihre Notizen sind als erschütterndes Zeitdokument wahrhaftig „etwas Großes“ geworden.

Viel später, nämlich erst im letzten Jahr, sind die Berichte jüdischer Kinder über ihre Leidensgeschichte veröffentlicht worden, aus denen Schülerinnen der Berliner Sophie-Scholl-Oberschule heute Auszüge vortragen werden. Es sind Stimmen jüdischer Kinder, aufgezeichnet unmittelbar nach dem Ende der deutschen Besatzung in Polen. Ihre Worte offenbaren die Unmenschlichkeit einer Ideologie, die nicht an den Menschen, sondern an Rassen orientiert war, und die Brutalität einer Politik, die diese Ideologie im Wortsinn „vollstreckte“.

Dass die Kinder, deren Berichte wir heute hören, den Holocaust überlebten, grenzt an ein Wunder. Denn Kinder hatten kaum eine Chance. Sie starben bei Vertreibungen, Deportationen und medizinischen Experimenten oder wurden im Getto, bei Massenerschießungen oder spätestens bei der Ankunft in einem Vernichtungslager ermordet. In Polen lebten vor dem Krieg fast 1 Million jüdische Kinder; von ihnen erlebten 5 000 das Kriegsende, eines von 200. Die Überlebenden waren keine Kinder mehr. Sie hatten die Qualen und den Tod ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen müssen. Sie hatten monatelang in Holzverschlägen, in Wäldern, in Erdlöchern ausharren müssen, begleitet von quälendem Hunger und Durst, bedroht durch Kälte und Krankheiten, in ständiger Angst, entdeckt oder verraten zu werden. Sie durften nicht weinen, sie durften niemandem vertrauen, und das Erste, was sie im Leben gelernt hatten, war, dass sie kein Recht hatten, zu leben. Nur wenige Kinder hatten das Glück, in ihrer hoffnungslosen Situation auch Freundschaft und Menschlichkeit zu erfahren - so wie eine Gruppe von Mädchen im Getto Theresienstadt, an deren Schicksal der Deutsche Bundestag vor einem Jahr mit der Ausstellung „Die Mädchen von Zimmer 28“ im Paul-Löbe-Haus erinnert hat.

Meine Damen und Herren,

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Dies schrieb Bertolt Brecht unter dem Eindruck der politischen Entwicklungen in seinem 1939 in Paris veröffentlichten Gedicht An die Nachgeborenen. Es liegt jetzt an uns, den Nachgeborenen, dafür Sorge zu tragen, dass wir solche Zeiten nie wieder erleben. Wir sind in der Verantwortung für unser Land, in dem sich nach einem beispiellosen politischen und moralischen Niedergang demokratische Institutionen über einen Zeitraum von 60 Jahren als stabil erwiesen und bewährt haben. Dennoch bleibt der Holocaust eine immerwährende Warnung, wachsam zu sein und nicht zu schweigen, wenn wir unsere demokratischen Grundüberzeugungen oder Regeln gefährdet sehen oder wenn Menschen Opfer insbesondere von ideologisch motivierter Gewalt werden.

Für die Zukunft unserer Erinnerung kann das nur bedeuten: „Es gibt keinen Schlussstrich“. Bundespräsident Professor Horst Köhler hat sich mit genau diesen Worten am 8. Mai 2005 zum 60. Jahrestag des Kriegsendes gegen jede Form der Erinnerungsmüdigkeit gewandt. Ich freue mich, Herr Bundespräsident, dass Sie heute zu uns sprechen. Zuvor sollen Zeugen zu Wort kommen, deren Leid uns mehr als jedes Argument vor dem Vergessen warnt - ja Vergessen unmöglich macht: Schülerinnen der Sophie-Scholl-Oberschule, die den stolzen Namen einer jungen, tapferen Widerstandskämpferin gegen das Unrecht trägt, lesen Auszüge aus dem Buch Kinder über den Holocaust.

Verehrte Gäste, zum Abschluss unserer Gedenkstunde werden wir den langsamen Satz aus dem zweiten Klavierquartett von Felix Mendelssohn Bartholdy hören, der vor 200 Jahren in eine der angesehensten jüdischen Familien in Deutschland geboren wurde. Dieses Adagio schuf das Wunderkind Felix in seinem 14. Lebensjahr, also genau in dem Alter, in dem in entsetzlichen Zeiten, an die wir heute erinnern, Kinder sterben mussten, weil sie Juden waren.

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Rede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der 50. Gewerkschaftspolitischen Arbeitstagung des DBB Beamtenbundes und Tarifunion in Köln

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Peter Heesen,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, Regierungen
und öffentlichen Verwaltungen,
verehrte Gäste,

ich bedanke mich herzlich für die freundliche Einladung und die liebenswürdige Begrüßung. Ich bin zum ersten Mal bei dieser traditionsreichen Veranstaltung, und auf was ich mich eingelassen habe, wurde mir erst richtig bewusst, als ich vor wenigen Tagen in einer bedeutenden deutschen Zeitung einen Vorbericht über die eindrucksvolle Geschichte dieser gewerkschaftspolitischen Arbeitstagungen nachlas.

Dort wurde unter anderem berichtet vom legendären Auftritt von Carlo Schmid bei der zweiten Arbeitstagung, die 1960 stattgefunden hat und damals wohl schon im Zeichen einer heftigen Auseinandersetzung über angemessene Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst stand. Damals sei von Seiten des Beamtenbundes eine zwölfprozentige Erhöhung der Besoldung beantragt worden und die Bundesregierung hätte unglaublicherweise ganze vier Prozent in Aussicht gestellt. Über die eine wie die andere Zahl könnte mancher von Ihnen jetzt spontan ins Schwärmen geraten. Da das erkennbar nicht Thema meines Vortrages ist, muss und will ich es nicht vertiefen. Aus dem Bericht über die damalige Veranstaltung geht jedenfalls hervor, dass Carlo Schmid, damals Vizepräsident des Deutschen Bundestages, namens der damaligen Opposition- was übrigens schon eine merkwürdige Rollenverbindung darstellt - den damaligen Teilnehmern dieser Tagung mit seinem Vortrag unter dem Titel „Der Beamte in Staat und Gesellschaft“ Trost in dieser Auseinandersetzung gespendet habe. Ich zitiere aus diesem Zeitungsbericht: „Seine Ausführungen gipfelten in der Begriffsbestimmung, der Beamte müsse persönlich frei und sachlich ungebunden sowie in feste Rangordnungen mit festen Zuständigkeiten gestellt sein; er müsse über Fachprüfungen verfügen und ein festes und “standesgemäßes„ Gehalt beziehen - eine Bemerkung, die die Anwesenden mit Trampeln quittierten.“ Ich vermute, fürs Trampeln wird es heute Morgen nicht reichen, das ergibt sich aber schon aus der jeweiligen Themenstellung. Carlo Schmid hatte immerhin das unauffällige, aber aufregende Thema „Der Beamte in Staat und Gesellschaft“, während das mir gestellte Thema zwar auffällig, aber gänzlich unaufregend ist, über Einigkeit und Recht und Freiheit im Kontext einer jetzt bald 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen.

Meine Damen und Herren, als am 1. September 1948 in Bonn die 65 von den damals gerade gewählten Landtagen der elf Bundesländer bestellten Mitglieder des parlamentarischen Rates zusammentraten, 61 Männer und ganze 4 Frauen, auch da hat sich manches in diesen Jahrzehnten weiterentwickelt, um dem nichtsouveränen, unter der Kontrolle alliierter Besatzungsmächte stehenden westlichen Teil Deutschland eine gemeinsame vorläufige Verfassung zu geben, wurde in einer damals kaum vorhersehbaren, von vielen auch schlicht nicht für möglich gehaltenen nachhaltigen Weise die Grundlage der Bundesrepublik Deutschland gelegt, deren 60. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen können. Heute wissen wir, dass mit der Konstituierung des Parlamentarischen Rates gleich drei präjudizierende Entscheidungen verbunden waren: Die Entscheidung für einen Standort, die Entscheidung für eine Persönlichkeit und die Entscheidung für ein Konzept.

Die Entscheidung für Bonn als Standort, für Konrad Adenauer als Präsidenten des Parlamentarischen Rates, bei dem mehr als offen ist, ob er ohne diese Funktion später erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hätte werden können, und insbesondere die Entscheidung für die Parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes haben die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt. Das Grundgesetz hat eine in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellose Überzeugungskraft entwickelt, in deren Rahmen schließlich die Wiederherstellung der Deutschen Einheit möglich geworden ist. Die Anfänge, und es lohnt durchaus daran zu erinnern, die Anfänge waren damals durchaus bescheiden - viel bescheidener, als die allermeisten, die in diesem Land und unter dieser Verfassung groß geworden sind, heute für möglich halten. Schon die Anfrage, welche Stadt sich zur Unterbringung des Parlamentarischen Rates in der Lage sähe, führte beispielsweise in Köln wie in Düsseldorf zu einer freundlichen Absage.

Dankenswerterweise hat sich die vergleichsweise kleine Stadt Bonn am Rhein damals zur Aufnahme des Parlamentarischen Rates bereiterklärt. Übrigens gab es im Bonner Zimmernachweis im Herbst 1948, in dem bei den Bürgern der Stadt Bonn um Quartier für die Mitglieder des Parlamentarischen Rates geworben wurde, damals folgenden mit Schreibmaschine geschriebenen Zettel mit diesem dezentem Hinweis: „Für die Dauer der Aufnahme Ihres Gastes stehen Ihnen pro Monat zusätzlich 10 cbm Gas, 10 kWh Strom sowie 90 g Kaffee-Ersatz, 600 g Seifenpulver und 150 g Waschzusatzmittel zur Verfügung“. So hat das damals angefangen. Und so bescheiden waren damals die ökonomischen Rahmenbedingungen. Übrigens, wenn ich als jemand, der in genau dieser Zeit geboren wurde und insofern nachweislich an der Aufbauleistung kein persönliches Verdienst hat, die damals begonnen wurde, an diese Verhältnisse erinnere und an die Debatten, die wir heute führen, wenn uns große Magazine in großen Titeln das vermeintlich schwierigste Jahr der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ankündigen, dann empfinde ich das als einen geradezu erschreckenden Nachweis für die weitverbreiteten Neigungen zum Verlust aller Maßstäbe in der Beurteilung von Herausforderungen.

Bescheiden waren damals übrigens nicht nur die ökonomischen Voraussetzungen. Für die politischen Perspektiven gilt das in einer sehr ähnlichen Weise. In seiner Antrittsrede als Präsident des Parlamentarischen Rates hat Konrad Adenauer damals erklärt: „Für jeden von uns war es eine schwere Entscheidung, ob er sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands ... zur Mitarbeit überhaupt zur Verfügung stellen ... sollte. Ich glaube, ... eine richtige Entscheidung auf diese Frage kann man nur dann finden, wenn man sich klar macht, was denn sein würde, ... wenn dieser Rat nicht ins Leben träte. ... Gleichwohl welche Ergebnisse unsere Arbeit für ganz Deutschland haben wird, das hängt von Faktoren ab, auf die wir nicht einwirken können.“ Und er hat diese Abwägung zwischen der vermeintlichen Aussichtslosigkeit der Lage und der Notwendigkeit einen neuen Anfang zu setzen, mit seiner persönlichen Überzeugung abgeschlossen: „Trotzdem wollen wir die historische Aufgabe, die uns gestellt ist ..., unter Gottes Schutz mit dem ganzen Ernst und mit dem ganzen Pflichtgefühl zu lösen versuchen, die die Größe dieser Aufgabe von uns verlangt.“

Und auch wenn die Aufgaben, vor denen wir heute stehen, in Ausmaß und Art ganz sicher deutlich bescheidener sind, würde ich mir gelegentlich ein Stück von diesem Ernst, dieser Zuversicht und diesem Gottvertrauen wünschen, das in ungleich schwierigeren Zeiten die Wiederbegründung dieses Landes möglich gemacht hat.

Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, das damals entwickelt wurde, ist die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland in seiner Geschichte je hatte. Es ist das wichtigste Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses geworden. Dass dies heute so ist und gänzlich unbestritten so ist, war keineswegs abzusehen, als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz verabschiedete, und selbstverständlich war es schon gar nicht. Im März 1949, also mitten in den Beratungen des Parlamentarischen Rates oder kurz vor ihrem Ende, erklärten immerhin 40 Prozent der Deutschen, ihnen sei die zukünftige westdeutsche Verfassung schlicht gleichgültig. Noch fünf Jahre nach seiner Verkündung kannten mehr als die Hälfte der Deutschen das Grundgesetz überhaupt nicht. Eine Zeitung schrieb damals ebenso besorgt wie irritiert: „Heute ist Deutschland etwas sehr Unglückliches. Es ist so komisch und so tragisch wie das Deutschland von Weimar: eine Demokratie ohne Demokraten.“

Dass es ganz anders gekommen ist, als damals von vielen befürchtet, hat neben vielen weiteren Gründen vor allem mit dem Grundgesetz zu tun. Es steht für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen Demokratie und die Verhinderung einer verselbständigten Staatsgewalt. Carlo Schmid, der damals zu den Verfassungsvätern gehörte, sicher einer der einflussreichsten Mitglieder des Parlamentarischen Rates war, hat zu einem bis heute aktuellen Aspekt der Verfassungsordnung unseres Landes damals - in den Protokollen der Beratungen wiedergegeben - bemerkt: „Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.“

Dieser ausdrückliche Wunsch nach einer selbstbewussten und abwehrbereiten Demokratie begründete sich aus der Doppelerfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur. Wesentliche Teile des Grundgesetzes sind deshalb durch die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ gegenüber jeder substanziellen Änderung geschützt. Die Grundrechte, die nach der Weimarer Reichsverfassung nur „nach Maßgabe der Gesetze“ galten, also durch Gesetze eingeschränkt werden konnten, sind im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht und binden ihrerseits die Gesetzgebung. Auch die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichtes, das heute als Hüter der Verfassung in allen Umfragen unter den politischen Institutionen dieses Landes das höchste Vertrauen genießt, gehört ganz gewiss zu den glücklichen Initiativen des Parlamentarischen Rates und seiner neunmonatigen Beratungen seit September 1948. Die Urteile und Kommentare des Bundesverfassungsgerichts zu diesem vermeintlich dünnen Heftchen füllen inzwischen 199 dicke Bände.

Ein wesentlicher Grund für die Funktionalität wie die Reputation des Grundgesetzes ist ganz gewiss auch seine Fähigkeit zur Anpassung an veränderte Aufgabenstellungen, auch an veränderte Verfassungswirklichkeiten, ohne dabei im Wesensgehalt verändert zu werden. Konrad Adenauer soll noch in der Schlussberatung des Parlamentarischen Rates neue Anträge und Änderungswünsche mit dem Argument erfolgreich gestoppt haben, der Parlamentarische Rat solle nur das Grundgesetz und nicht die Zehn Gebote neu beschließen. Tatsächlich ist das Grundgesetz weder so kurz noch so unveränderlich wie die Zehn Gebote. Es hat in 60 Jahren manche Änderungen und Ergänzungen erfahren - 53 bisher -, von denen manche unvermeidlich, einige vielleicht unnötig waren, alle sicher gut gemeint, nicht alle auch unbedingt gleich gut gelungen.

Mein persönlicher Wunsch zum Geburtstag des Grundgesetzes ist, dass wir mit Veränderungs- und Ergänzungsehrgeiz in Zukunft eher noch behutsamer und vorsichtiger umgehen als in der Vergangenheit. Mir fallen unbeschadet der an manchen Stellen übrigens auch technischen Unvermeidlichkeiten für Ergänzungen und Änderungen des Grundgesetzes nur wenige Beispiele ein, bei denen ich nachträglich eingefügte Bestimmungen des Grundgesetzes politisch oder gar verfassungsästhetisch eine offensichtliche Verbesserung des Urtextes halten könnte.

Das ursprünglich als Provisorium gedachte Grundgesetz ist heute die unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes. Es gibt im übrigen wenige Texte, bei denen die Diskrepanz zwischen dem bescheidenen Anspruch und der tatsächlichen politischen Wirkung in einer so überragend glücklichen Weise so ausgeprägt ist wie bei diesem Verfassungstext, der ja nicht einmal Verfassung heißen sollte oder durfte, sondern sich schlicht als Grundgesetz vorstellte und dabei tatsächlich eine Verfassungsordnung entwickelt hat, die heute weit über die deutschen Grenzen hinaus international über ein erstaunliches Maß an Ansehen und übrigens gelegentlich maßlos überschätzter Maßstäblichkeit für eigene Verfassungsüberlegungen oder Reformvorstellungen geworden ist.

Das Grundgesetz ist auch und gerade deshalb im wörtlichen und übertragenen Sinne das „Grund-Gesetz“ dieses Landes geworden, weil es in Grundrechten und Verfahrensregeln das konkret formuliert, was im Allgemeinen gelegentlich bezweifelt oder gar bestritten wird: die freiheitlich-demokratische Leitkultur, die sich in unserem Land über manche Umwege und Irrwege entwickelt und längst als unbestrittene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes durchgesetzt hat.

Es gab Zeiten, da reichte das fröhliche Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft völlig aus, um den Nachweis der Offenheit, Toleranz und Weltgewandtheit zu erbringen. Die Zeiten haben sich verändert und die Debatten auch. Inzwischen gibt es niemanden mehr, der ernsthaft bestritte, dass jede Gesellschaft, ausnahmslos jede Gesellschaft ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten, übrigens auch ein Mindestmaß an Verbindlichkeiten braucht, ohne die sie weder ihre innere Legitimation noch ihren inneren Zusammenhalt bewahren kann.

Paul Kirchhoff, längjähriges Mitglied des Bundesverfassungsgerichts, hat in diesem Zusammenhang einmal geschrieben: „Die multikulturelle Gesellschaft ist offen, gestattet aber keinen Wettbewerb der Kulturen um den Inhalt der Verfassungsordnung. Kulturelle Offenheit setzt die Sicherheit in der eigenen Rechtskultur voraus.“ So ist es! Und wir hätten uns und übrigens auch vielen Migrantinnen und Migranten manche unnötige Probleme ersparen können, wenn wir früher und mutiger zu dieser naheliegenden Einsicht gestanden hätten.

Meine Damen und Herren, wir werden in diesem Jahr nicht nur den 60. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland am Tag der Verkündigung des Grundgesetzes feiern, sondern wir werden zugleich in diesem Jahr den 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und damit der Möglichkeit der Verbindung von Freiheit, Recht und Einheit begehen. Der lange Weg der Deutschen zu Einigkeit und Recht und Freiheit hat weder erst vor 60 Jahren begonnen, noch war er vor 60 Jahren erfolgreich abgeschlossen. Mit der Revolution der Ostdeutschen 1989 und mit dem 3. Oktober 1990 ist die Verbindung erst möglich geworden, die dieses Grundgesetz, die diese Verfassung für dieses Land vereinbart hatte: Einigkeit und Recht und Freiheit. Aus diesem Bekenntnis unserer Nationalhymne, einem Land, das mehr als 40 Jahre lang geteilt war, wo Freiheit, Demokratie und Menschenrechte Millionen Menschen über Jahrzehnte verweigert worden waren, sind praktische Gestaltungsprinzipien eines wiedervereinigten Staates geworden. Jenseits der handfesten Interessen und Erwartungen, die zu Recht viele Deutsche mit der Wiedervereinigung verbunden haben, sind dies die eigentlichen, die nachhaltigen Errungenschaften der großen Veränderungen, die damals in Deutschland und in Europa stattgefunden haben. Einigkeit und Recht und Freiheit.

Ich freue mich, dass an der heutigen Veranstaltung mit Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters zwei herausragende Repräsentanten der Politik dieses Landes teilnehmen, in deren ganz besonderer Ressortverantwortung damals diese großen Veränderungen möglich geworden sind. Und nicht nur, aber fast hinreichend unter Hinweis auf die Wahlen zum Europäischen Parlament, die auch in diesem Jahr wieder anstehen und die sich völlig zu unrecht nach wie vor einer begrenzten öffentlichen Wertschätzung erfreuen, ist es mehr als nur angemessen, einmal mehr darauf hinzuweisen, dass die Wiederherstellung der Deutschen Einheit ohne den jahrzehntelangen, vorher mit Hartnäckigkeit und Konsequenz verfolgten Prozess der europäischen Einheit nie möglich geworden wäre.

In der natürlich nach solchen großen Ereignissen unvermeidlichen, auch gar nicht zu beanstandenden Neigung auf die praktischen Lebensfragen, auf die materiellen Entwicklungen, die wirtschaftlichen Perspektiven, geraten zu oft die wirklichen Gestaltungsprinzipien der Veränderungen der Jahre 1989/90 aus den Augen. Diese Gestaltungsprinzipien wiederzuentdecken heißt nicht, die Ökonomie gering zu schätzen. Im übrigen, das Risiko, das wir die Bedeutung wirtschaftlichen Fragen unterschätzen könnten, ist nachweislich aller Medienberichte und aller öffentlichen Debatten und aller Tagungsgegenstände offenkundig nicht wirklich akut. Wenn überhaupt haben wir von Zeit zu Zeit Anlass darüber nachzudenken, ob es vor und nach und jenseits der ökonomischen Entwicklungsperspektiven auch noch andere Dinge im Leben gibt, die eine vertiefte Beschäftigung verdienen.

Dass wir im übrigen in diesen 20 Jahren nach Wiederherstellung der Deutschen Einheit aber auch unter diesem Gesichtspunkt Beachtliches erreicht haben, bedarf eigentlich keine besondere Erwähnung. Erwähnt werden sollte vielleicht aber doch, dass nirgendwo sonst und nie zuvor ein Teil eines Landes einem anderen Teil in einer vergleichbaren Weise geholfen hat. Und da wir heute über 60 Jahresperspektiven reden, erlaube ich mir den Hinweis, dass der berühmte Marschallplan, der für den wirtschaftlichen Aufbau Westdeutschland, wie wir alle wissen, nicht nur eine große politische Geste war, sondern auch wirtschaftlich eine unverzichtbare Hilfe, in umgerechneten Größenordnungen nur einen Bruchteil der Transferleistungen darstellt, die wir im Solidarpakt zwischen West und Ost über einen Zwanzigjahreszeitraum zur Verfügung gestellt haben. Und jede Investition ist eine Investition in die gemeinsame Zukunft.

Wenn ich deswegen auch und gerade natürlich aus Anlass unserer Jahrestage am 3. Oktober immer wieder empfehle, häufiger die mutmachenden Erfolgsgeschichten zu erzählen, statt nur und vornehmlich die unbestreitbaren Lasten zu beklagen, dann ist das nicht der Tagesbefehl zum Glücklichsein, wie gerne eingewandt wird, es ist vielmehr der Hinweis auf die Wirklichkeit. Die echten und die vermeintlichen Fehler im Einigungsprozess sind oft genug vorgetragen worden, die Erfolge, um die uns im übrigen unsere Nachbarn beneiden, werden dagegen nur selten wahrgenommen.

Ich habe keine Zweifel daran, dass es damals Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters ähnlich gegangen sein wird, wie es mir heute jede Woche geht, wenn ausländische Staatsgäste in Berlin zu Besuch sind. Es ist nur eine Frage von wenigen Minuten, bis sie sich selbst gemüßigt fühlen, uns zu der grandiosen Aufbauleistung zu gratulieren, die in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit stattgefunden hat, nicht selten mit der ausdrücklichen ergänzenden Bemerkung, außer den Deutschen hätte das niemand so hinbekommen.

Die Deutsche Einheit als Erfolgsgeschichte zu sehen heißt keineswegs blind für die noch immer zu bewältigende Probleme zu sein. Dabei sollten wir uns aber stärker als das gelegentlich in der Berichterstattung zu erkennen ist, bewusst machen, das wir hier über Hinterlassenschaften der Teilung reden und nicht über Folgen der Deutschen Einheit. Die Neigung, Ursache und Wirkung miteinander zu verwechseln, hat inzwischen ein bemerkenswertes Maß an Virtuosität erreicht. Der eine oder andere von Ihnen mag sich daran erinnern, dass der Volksmund der DDR über die deprimierenden Zustände vieler Städten noch zu Zeiten der Teilung mit dem berühmten Spruch gespottet hat „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Die aufwendige Wiederherstellung wertvoller alter Bausubtanzen und die Wiedergeburt ganzer historischer Stadtquartiere ist ein grandioser Gewinn der deutschen Einheit. Der Anteil der neuen Länder an den schönsten deutschen Städten ist weit größer als ihr Anteil an der Bevölkerung an der Fläche des wiedervereinigten Deutschland. Auf dem damals völlig verseuchten Uranabbaugebiet Wismut in Thüringen z. B. hat inzwischen eine Bundesgartenschau stattgefunden. Zugegeben, nicht überall blühen die Landschaften so eindrucksvoll, aber manche Veränderungen sind zweifellos spektakulär.

Der erzielte Fortschritt wird erst deutlich, wenn man die Entwicklung in den neuen Bundesländern vergleicht mit der Entwicklung, die osteuropäischen Nachbarländer bei vergleichbarer politischer und wirtschaftlicher Ausgangslage im gleichen Zeitraum gemacht haben. Dort trügt aber der westliche Lebensstandard als unmittelbarer Vergleichsmaßstab nicht in gleicher Weise den Blick für die in der Zwischenzeit erreichten Fortschritte. Unsere Probleme möchten die meisten anderen gerne haben. Die deutlich höhere Wirtschaftskraft, auch und gerade in den neuen Bundesländern, die inzwischen beispielhafte Infrastruktur, die Kaufkraft und das Niveau der Sozialleistungen auch. Aber wie immer im Leben: noch größer als die Fortschritte sind die Erwartungen. Sie kommen nicht zuletzt in der unablässig gestellten Frage nach der „Vollendung der inneren Einheit“ zum Ausdruck. Zu Recht wird darauf die Gegenfrage gestellt, was das denn sein soll, vollendete Einheit. Ost und West alles einheitlich? Alles ein Herz und eine Seele? Diese Vorstellung ist genauso unhistorisch wie naiv. Nichts ist so gut, als das es nicht noch verbesserungsfähig wäre, aber Einheit heißt eben nicht Einheitlichkeit.

Zu den wenigen, wie mir scheint richtigen und insofern auch gelungenen Veränderungen des Grundgesetzes in diesem Zeitraum der letzten 60 Jahre gehört die Neufassung des Artikels 72 unseres Grundgesetzes, bei der der Deutsche Bundestag und der Bundesrat, also der Verfassungsgesetzgeber die Formulierung „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ durch die Formulierung „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ersetzt hat. Damit wurde nicht nur gegenüber bloßem Erhalt und Sicherung in der Gegenwart ein in die Zukunft weisender dynamischer Prozess reklamiert, es wurde auch zu Recht die Erwartung von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse relativiert. Einheitlichkeit gibt es nicht. Weder im Osten noch im Westen und natürlich auch nicht zwischen ihnen. Und ernsthaft betrachtet wollen wir sie auch gar nicht. Es gibt sie übrigens auch nicht zwischen öffentlichem Dienst und privater Wirtschaft, zwischen Angestellten und Beamten. Es geht um Gleichwertigkeit, nicht um Einheitlichkeit.

Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, kennen das Bonmot, man habe im Osten geträumt, ins Paradies zu kommen und sei in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Als Nordrhein-Westfale habe ich diesen Einwand und diesen Unterschied bis heute nicht begriffen, da es sich ja wenn überhaupt nur um eine Variante der gleichen Adresse handeln kann. Aber im übrigen gilt für mich der weise Satz, dass sich das Paradies in der Regel erst dann als Paradies zu erkennen gibt, wenn wir daraus vertrieben wurden. Man kann das auch anders formulieren. Henry Kissinger, einer der langjährigen Freunde und Weggefährten von Hans-Dietrich Genscher, hat einmal gesagt: „Was uns Ereignisse bedeuten, was uns Dinge und insbesondere Personen wirklich wert sind, erkennt man am besten, wenn man sich einen Augenblick lang fragt, wie viel sie einem wohl bedeuten würden, wenn sie nicht mehr da wären“. Deswegen empfiehlt sich auch und gerade mit Blick auf die Entwicklungen unserer 60-jährigen, nun seit 20 Jahren gemeinsamen deutschen Geschichte dieser Blick auf Errungenschaften und sicher auch noch vorhandene Defizite.

Nach aktuellen Umfragen haben zwei Drittel der Menschen in den neuen Bundesländern eher positive und weniger als 20 Prozent eher negative Erinnerungen an die DDR. Das finden manche hochgradig besorgniserregend, ich finde das außerordentlich einleuchtend. Schließlich geht es dabei auch um die eigene Biografie und die Erinnerung an das eigene Leben unter gründlich anderen Lebensumständen. Zugleich sagen mehr als 70 Prozent der Ostdeutschen ebenso klar, dass sie Verhältnisse wie in der DDR auf keinen Fall zurück haben wollen. Auch dieser Befund zeigt: Das Urteilsvermögen der Leute ist nicht weniger ausgeprägt als ihr Erinnerungsvermögen.

Die Ostdeutschen, die allermeisten jedenfalls, wissen nur zu gut, was sie sich damals erkämpft haben: Dem Ruf nach Einheit - „Wir sind ein Volk“ - ging der selbstbewusste Satz voraus „Wir sind das Volk“. Zusammen war dies der Ruf nach Recht und Freiheit für alle Deutschen. Unsere tagespolitischen Auseinandersetzungen um die Lösung noch ausstehender ökonomischer und sozialer Aufgaben sollte den Blick auf diese Antriebskräfte sowohl der Verfassungsväter und -mütter 1948/49 wie der Gestalter der großen Veränderungen in Deutschland und Europa, in Ost und in West 1989/90 nicht verstellen.

Die rechtsstaatliche Ordnung der westdeutschen Demokratie übte eine solche Faszination aus, dass Tausende in den Jahren der Trennung buchstäblich ihr Leben aufs Spiel setzen, um die diktatorischen Grenzen zu überwinden und Freiheit zu erreichen. Weil Tausende seit der Teilung wegliefen - insgesamt mehr als 2,5 Millionen Menschen - wurde 1961 die Mauer gebaut, und weil 1989 Tausende wegliefen, musste die Mauer schließlich wieder geöffnet werden. Wohin sind sie nach der Maueröffnung gelaufen? In den Westen oder nach Deutschland? Peter Bender, einer der deutschen Journalisten, die sich mit Fragen der innerdeutschen Befindlichkeit besonders lange und besonders intensiv auseinandergesetzt hat, hat zu dieser, wie ich glaube intelligenten Frage folgende kluge Bemerkung gemacht: „Wären sie auch gelaufen“, fragt er, „wenn hinter der Westgrenze der DDR Frankreich gelegen hätte? Sehr wahrscheinlich“ - vermutet er - „nur wenige. Wären sie auch gelaufen, wenn die Bundesrepublik Deutschland ärmer gewesen wäre als die DDR und ebenso unfrei? Sehr wahrscheinlich nicht. Sie liefen und übersiedelten in immer größerer Zahl und entschieden sich mehrheitlich später für eine Vereinigung mit dieser Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassungsordnung, weil sich der Westen in deutscher Gestalt darbot und Deutschland in westlicher Verfassung.“ Mit anderen Worten: Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Einigkeit und Recht und Freiheit mehr bedeutet haben als ein unverbindliches Lippenbekenntnis, so haben die Deutschen zwischen Oder und Elbe diese Zweifel ausgeräumt.

Das, was die Ostdeutschen 1989 als Voraussetzung für die deutsche Einheit mit großem Mut und der Bereitschaft zum persönlichen Opfer vollbrachten, war eine politische Revolution für das Recht und für die Freiheit. Dies gilt es gegenüber der allzu einfachen, beinahe niedlichen Version von der „Wende“ immer wieder zu betonen. Es gibt manches, über das es vertieft nachzudenken ganz sicher lohnen würde, und über das gemeinsam nachzudenken ich in diesem Jubiläumsjahr auch dringend empfehle, auch wenn das nicht alles im Rahmen eines Festvortrages bei dieser Arbeitstagung möglich ist. Dazu gehört auch die Erinnerungskultur dieses Landes im Allgemeinen und ihr Umgang in der Aufarbeitung von Verbrechen, insbesondere von staatlich organisierten Verbrechen in Zeiten der einen wie der anderen deutschen Diktatur. Und in diesem Zusammenhang ist die Frage natürlich erlaubt und wie ich glaube auch unvermeidlich, ob wir uns im wiedervereinigten Deutschland nicht vergleichsweise zu wenig mit den Opfern und zu lange mit den Tätern beschäftigt haben. Der Eindruck ist nicht gänzlich unberechtigt auch unter Berücksichtigung inzwischen in Kraft getretener Opferrenten, dass das „Neue Deutschland“, die demokratische Republik gegenüber den Opfern des Unrechts weniger Großzügigkeit aufgebracht hat als gegenüber den Tätern.

Unbestritten ist, die Revolution von 1989 brachte mit dem Überwinden der Diktatur einen einzigartigen nachhaltigen Fortschritt: das Menschenrecht auf Freiheit. Diese Bilanz entzieht sich jeder Frage nach der Höhe oder der Aufrechenbarkeit der Kosten. Deshalb kann und sollte die Erinnerung an die Motive wie die Erfolge dieser großen Veränderung, die Erinnerung an die Gründung dieses Staates durch die Entwicklung einer neuen Verfassungsordnung und die Vollendung einer Verfassungsordnung in einem gemeinsamen demokratischen Staat das Bewusstsein für den Wert der Freiheit stärken.

Dass es dafür noch manchen Bedarf gibt, auch und gerade mit Blick auf die Kenntnisse und die Orientierungsfähigkeit der nachwachsenden Generation in diesem Lande, dafür bekommen wir in regelmäßigen Abständen erschreckende Belege vorgetragen. Wenn nach einer aktuellen Studie der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands heute fünf Prozent der deutschen Gymnasiasten Walter Ulbricht für einen oppositionellen Liedermacher halten und mehr als sieben Prozent in Erich Honecker den zweiten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sehen, dann ist das eben bei weitem nicht so komisch wie es sich anhört. Und gerade in diesen Tagen habe ich von einer Studie in Nordrhein-Westfalen Kenntnis erhalten, nach der nur 29 Prozent der befragten Schüler dieses großen Bundeslandes das Jahr des Mauerbaus kennen, jeder fünfte Befragte in Nordrhein-Westfalen hält Ludwig Erhardt für einen DDR-Politiker und nach Einschätzung von 50 Prozent aller Befragten war das DDR-Regime demokratisch legitimiert.

In der Einigkeit über Leitprinzipien Recht und Freiheit, im Konsens über den freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat, liegt der eigentliche Kern der viel beschworenen „inneren Einheit“ Deutschlands. „Vollendet“ muss und kann sie nicht sein. Aber sie ist Wirklichkeit geworden. Dies allein ist mehr, als ganze Generationen gehofft oder geglaubt haben. Es gehört überhaupt zu den merkwürdigen Begabungen der Deutschen, dass sie Ereignisse und Entwicklungen, die sie jahrzehntelang für völlig ausgeschlossen gehalten haben, in dem Augenblick, wo sie gleichwohl Wirklichkeit geworden sind, für eine schiere Selbstverständlichkeit halten.

Einheit muss wachsen. Sich vereinen, heißt teilen lernen. Dieses scheinbare Paradoxon hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 3. Oktober dem vereinten Land auf den Weg gegeben, und es hat sicher nichts von seiner Bedeutung verloren.

Die Politik kann für diese Aufgabenstellung nicht alleine die notwendigen Voraussetzungen schaffen, aber sie selber aktiv daran mitwirken. Das inzwischen vom Deutschen Bundestag beschlossene Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin, vermutlich mit einer Parallele in Leipzig, ist ein wichtiger Beitrag, der längst überfällig ist. Wir haben aus gutem Grund insbesondere in der Hauptstadt zahlreiche auffällige Stätten der Erinnerung an die Verbrechen zweier Diktaturen in Deutschland. Es gibt keinen vernünftigen Grund, nicht auch in ähnlich demonstrativer Weise der Freiheits- und Einheitsgeschichte der Deutschen zu gedenken. Sie ist für das Selbstverständnis und für das Selbstbewusstsein unseres Landes gewiss nicht weniger wichtig. Und ich hoffe, dass wir selbst unter Berücksichtigung europäischer Ausschreibungsbestimmungen bis zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer und der Wiederherstellung der deutschen Einheit ein angemessenes Denkmal sollten errichtet haben können.

Im übrigen gilt für die Errichtung dieses Denkmals ähnliches wie für die damalige denkwürdige Diskussion über die Errichtung des Holocaust-Mahnmals: die Debatte darüber, warum überhaupt und in welcher Weise dieses Denkmal gebraucht werde und ausgerechnet mitten in der Hauptstadt Platz finden müsse, diese Debatte ist mindestens so wichtig wie das Denkmal selbst.

Insofern erwarte ich mir von dieser Entscheidung und der damit verbundenen Debatte eine Ermunterung und eine Ermutigung, über den Wert von Einigkeit und Recht und Freiheit heute nachzudenken. Nicht zuletzt Ausdruck eines über wirtschaftliche Konjunkturen und über Moden hinweg tragenden aufgeklärten Patriotismus, zu dem die Deutschen nicht mehr und nicht weniger berechtigt sind, als alle unsere Nachbarländer auch - und inzwischen auch in der Lage, wie in einer von vielen wiederum nicht für möglich gehaltenen, ansteckend fröhlichen Form während der Fußballweltmeisterschaft vor zwei Jahren im eigenen Land bewiesen.

Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, ganz zum Schluss einige wenige Sätze aus einem besonders lesenswerten Essay einer ganz jungen deutschen Autorin vortragen, die, wie ich finde völlig zu Recht inzwischen eine beachtliche Reputation gewonnen hat, Juli Zeh. Sie hat vor einiger Zeit in einem Aufsatz unter dem Titel „Anleitung zum Selbstverständnis“ folgendes zu Papier gebracht.

„Wenn ich etwas über das Wesen des deutschen Patriotismus lernen will, fahre ich weg, und zwar ins Ausland.“ Und sie schildert dann, wie sie in Gesprächen mit Gleichaltrigen aus west- wie osteuropäischen Ländern ein völlig anderes Verhältnis zu ihrem eigenen Land und seinen tatsächlichen und eingebildeten großen und im Maßstab auf einmal ganz anders sich darstellenden Problemen gewinnt. Und sie fügt dann aus diesen eigenen Erfahrungen hinzu: „Unsere herausragende deutsche Fähigkeit besteht darin, alles einigermaßen richtig zu machen und dabei alles richtig grauenvoll zu finden.“ Das ist nicht schlecht beobachtet. Übrigens einschließlich des Hinweises, die deutsche Neigung zu übertriebener Selbstkritik sei niemals Ausdruck einer angeborenen Bescheidenheit gewesen, sondern eher „eine subtile Variante der Überheblichkeit“. Als Resümee aus ihren eigenen Erfahrungen, mit sich selbst und ihren Gesprächen mit Gleichaltrigen der letzen Jahre, schlägt sie vor, was ich mir gerne zu Eigen mache. „Wie wäre es also“, schreibt sie, „wenn wir das Wesen eines positiven deutschen Patriotismus in zwei Schritten definierten. Erstens hören wir einfach auf, uns selbst und unser Land permanent unerträglich zu finden, denn das kam gemessen an den Realitäten schon immer einer Undankbarkeit von unappetitlichen Ausmaßen gleich. Und dabei verzichten wir zweitens auf die Idee, dass wenn wir schon nicht schlechter, dann aber gewiss besser sind als alle anderen.“

Das ist, wie ich finde, eine famose Empfehlung zum Gleichgewicht. Und es ist, wie ich finde, auch eine wunderschöne Empfehlung zu einer souveränen inneren Orientierung mit Blick auf das eigene Verhältnis zum eigenen Land. Einem Land, das nicht nur in seiner Verfassung angekündigt, sondern seiner tatsächlichen Entwicklung möglich gemacht hat, dass wir Einigkeit und Recht und Freiheit in gleicher Weise genießen dürfen.

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