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Festvortrag zur Verleihung des Max-Weber-Preises des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln zum Thema „Mehr Moral durch mehr Markt oder mehr Staat? Welchen Beitrag kann die Politik leisten?“ am 18. Mai 2010 in Berlin, Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Sehr geehrter Herr Professor Hüther,
sehr geehrter Herr Tesch,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger,
meine Damen und Herren,

vor inzwischen mehr als einhundert Jahren hat Max Weber mit der ihm eigenen maßstabsetzenden Prägnanz die inneren Zusammenhänge zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus entdeckt und öffentlich dargestellt. Seitdem hat sich - freundlich formuliert - der Geist des Kapitalismus noch dynamischer entwickelt als die protestantische Ethik. Vom Glanz und Elend der Eigendynamik kapitalgesteuerter Wirtschaftsprozesse hat uns nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch der Auftakt des 21. Jahrhunderts manche anschaulichen Beispiele geliefert. Zu einer nüchternen Betrachtung gehört, dass es neben erstaunlichen Aufstiegen auch bemerkenswerte Abstürze gegeben hat, und dass Weltwirtschaftskrisen, tatsächliche und Beinahe-Zusammenbrüche von Finanz- und Gütermärkten nicht nur Statistiken ruiniert haben, sondern auch Biographien. Alleine deswegen lohnt es, eine Frage wiederzuentdecken, die in der Tat keineswegs neu ist, aber offensichtlich nicht überholt. Das wird allein mit der Vergabe von Preisen sicher auch nicht gelingen, aber die regelmäßige Ausschreibung und Vergabe von Preisen, die sich genau diesem Zusammenhang widmen, sind sicher ein wichtiger Beitrag dazu, eine Fragestellung ins öffentliche Bewusstsein zu heben und dort zu halten, für die wir heute mindestens soviel Bedarf haben wie für strategische ökonomische Erwägungen und Überlegungen: Gesinnung ist in der Tat keine ökonomische Kategorie, aber allein der Begriff „Wirtschaftsethik“ macht nur Sinn, wenn sich damit die Bereitschaft verbindet, ethisches Verhalten für eine nicht weniger relevante Kategorie zu halten als ökonomisches Kalkül - was zugegebenermaßen die Frage, wie man das eine mit dem anderen überzeugend verbinden kann, noch nicht beantwortet.

Deswegen möchte ich gleich zu Beginn herzlich dem Stifter für seine damalige Initiative danken und den Preisträgerinnen und Preisträgern zu ihrer später folgenden Auszeichnung herzlich gratulieren, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte um Verständnis dafür, dass ich dann nicht mehr da sein werde, da ich dringend zu einem weiteren auswärtigen Termin muss, den ich sonst nicht mehr erreiche.

Ob es so etwas wie Wirtschaftsethik überhaupt gibt, nicht nur geben soll, sondern auch geben kann, darüber haben sich schon manche klugen Leute bemerkenswerte Gedanken gemacht. Niklas Luhmann, beispielsweise, hat ausdrücklich seine Zweifel daran angemeldet, ob es so etwas wirklich geben könnte: „(…) meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheim halten müssen, dass sie gar nicht existieren.“

Nun könnte man unter dem Eindruck aktueller Entwicklungen hinzufügen, dass der Glaube an die Existenz der englischen Küche inzwischen weiter verbreitet ist als die Gewissheit vom Wirken der Staatsräson und schon gar der Verfügbarkeit von Wirtschaftsethik, was allerdings die Relevanz dieser Bemühungen nur unterstreicht.

Ich habe vor einigen Wochen ein Positionspapier des Präsidiums des Bundesverbandes der Deutschen Arbeitgeberverbände in die Hand bekommen mit dem Titel „Wirtschaft mit Werten - Für alle ein Gewinn“. In diesem Positionspapier findet sich der beachtliche Hinweis, Ethik und Ökonomie seien keine erst mühsam zu überbrückenden Gegensätze, verbunden mit dem noch bemerkenswerteren Hinweis: „Gutes Wirtschaften setzt sich zusammen aus ethisch und ökonomisch richtigem Handeln.“

Sie werden, meine verehrten Damen und Herren, vermutlich noch niemandem getroffen haben, der diesem hoffnungslos richtigen Satz widersprechen wollte. Nun werden Sie zugleich meine Vermutung teilen, dass damit immer noch nicht die Frage beantwortet ist,  was denn eigentlich ethisch und ökonomisch richtiges Handeln ist. Mit anderen Worten: es fällt uns allen entschieden leichter, das hier beschriebene Spannungsverhältnis auf der Ebene von Abstraktionen schlüssig zu beantworten als in der Realität konkreter, täglicher Aufgabenstellungen und Entscheidungssituationen.

Wir machen ganz sicher nicht erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts die wiederholte Erfahrung, dass auch in stabilen demokratischen und funktionierenden marktwirtschaftlichen Systemen Fehlentwicklungen und Fehlleistungen möglich sind und dass sie sogar in den höchsten Rängen von Politik und Wirtschaft tatsächlich stattfinden. Daran ist nichts zu beschönigen. Es lässt sich aber immerhin ergänzen, dass es unter den bisher bekannten politischen wie ökonomischen Systemen keine ausgewiesenen Alternativen gibt, die schneller und wirkungsvoller als Demokratie und Marktwirtschaft Fehlentwicklungen und Fehlleistungen offenbaren und Veränderungen erzwingen.

Helmut Schmidt hat immer wieder darauf hingewiesen, der Markt selber könne weder soziale Sicherheit schaffen noch steuerliche Gerechtigkeit gewährleisten. Und erzeuge auch weder kollektiven noch individuellen Anstand. Immerhin: Die Fähigkeit der beiden Systeme Demokratie und Markt, Transparenz zu erzwingen, Irrtürmer zu korrigieren und falsche Entwicklungen abzustellen, ist im Angesicht konkreter Fehlentwicklungen natürlich kein hinreichender Trost, aber gleichwohl ein keineswegs bedeutungsloses Merkmal für die Leistungsfähigkeit von Ordnungssystemen.

Der Umgang mit moralischen Ansprüchen im Verhältnis zu kodifizierten politischen und ökonomischen Systemen ist in diesem Zusammenhang eine besonders delikate Herausforderung. Ich persönlich bin - wie der bedeutende Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning - der Überzeugung, dass man diejenigen politischen und ökonomischen Systeme allen anderen Varianten vorziehen sollte, die mit den geringsten Ansprüchen an die individuelle Moral auskommen. Diese auf den ersten Blick verblüffende Auskunft, die man schon gar bei einem Theologen für einen Anflug von Zynismus halten könnte, ist bei genauerem Hinsehen sehr gut durchdacht. Ein System, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, das nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten hohe moralische Ansprüche an ihr eigenes Verhalten und natürlich vor allem an das Verhalten anderer stellt, funktioniert in der Regel überhaupt nicht. Denn es belohnt diejenigen, die sich dem erwarteten Moralkodex nicht beugen und nur den eigenen Vorteil verfolgen, was - wie wir wissen - nicht nur eine theoretische Spekulation ist. Dies ist ganz offenkundig kein erfundenes, sondern ein reales Problem und auch deshalb will ich meine Skepsis gegenüber gesetzlichen Regelungen moralischer Ansprüche ausdrücklich zu Protokoll geben. Eine Gesellschaft, die moralische Ansprüche kodifizieren muss, und die in gesetzliche Verpflichtungen umsetzen muss, was sie an sozialem Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, hat schon verloren. Diese Schlacht kann auf dem Feld der Gesetzgebung sicher nicht gewonnen werden. Allerdings: so wenig, wie Gesetze moralische Standards und ethische Verhaltensmuster substituieren können, so wenig kann umgekehrt das Regelsystem einer Gesellschaft alleine auf die freiwillige Akzeptanz der Gesellschaftsmitglieder begründet sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir insbesondere nach den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit dringenden Anlass haben, darüber nachzudenken, ob das Maß an moralischen Standards und Verhaltensmustern, ohne das Verfassungsinstitutionen wie Wirtschaftsunternehmen zwar nicht notwendigerweise ihre Funktionsfähigkeit, ganz sicher aber ihre Glaubwürdigkeit riskieren, in unserer Gesellschaft hinreichend gesichert ist. 

Ich möchte dazu ein paar wenige Bemerkungen machen, beginnend mit dem Thema Gleichheit und Ungleichheit in unserer Gesellschaft: Offenkundig handelt es sich hier um zwei sich heftig im Wege stehende Orientierungen, ganz besonders in modernen Gesellschaften, die sich normativ durch den für unantastbar erklärten Gleichheitsgrundsatz und statistisch durch ein wachsendes Maß an Ungleichheit auszeichnen. Wie gehen moderne Gesellschaften mit diesem Spannungsverhältnis um? Ich persönlich glaube nicht, dass es ein generelles Bedürfnis der Menschen nach Gleichheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse gibt. Oder, anders formuliert: ich habe den Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit der gerade erwähnten statistischen Ungleichheiten im Prinzip relativ gut zurande kommen. Und als leichtfertige Verschärfung will ich hinzufügen, dass die Menschheit völlig anders und vermutlich nicht besser aussähe, wenn es nicht die Erfahrung der Ungleichheit mit ihren stimulierenden Wirkungen einschließlich der Frustrationserfahrungen gäbe. Ungleichheit, meine Damen und Herren, wird aber immer dann ein Problem - schon gar im Kontext einer demokratisch verfassten, marktwirtschaftlich geregelten Ordnung -, wenn es keinen plausiblen, erkennbaren Zusammenhang zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen und Vermögen gibt, wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter Leistung oder bei nachgewiesenen Fehlleistungen die Bezahlungen oder Abfindungen besonders üppig ausfallen.

Die zunehmend aus dem Lot geratenen Einkommensproportionen in unserer Gesellschaft sind ein objektiv großes Problem, das nach meiner festen Überzeugung das Selbstverständnis dieser Gesellschaft in zunehmendem Maße strapaziert. Das Verhältnis der Vorstandsgehälter zu den Einkommen der übrigen Beschäftigten desselben Unternehmens hat sich bei uns in den vergangenen Jahren in erstaunlicher Weise verselbständigt. In Deutschland ist das Verhältnis des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens zwischen Vorstand und Mitarbeitern der DAX-30-Unternehmen in den vergangenen zwanzig Jahren vom 14fachen auf das jetzt knapp 50fache gestiegen. Dabei verteilt sich dieser Anstieg keineswegs kontinuierlich über die genannte Zeit, sondern ist vor allem seit Mitte der 90er Jahre deutlich festzustellen.

Nach einer im März dieses Jahres veröffentlichten Studie sind die Gehälter der Vorstandsmitglieder selbst gegenüber der zweithöchsten Hierarchieebene des gleichen Unternehmens durchschnittlich um das 20fache höher. Das sind - ich rede hier für niemanden außer für mich -absurde Einkommensrelationen, die im globalen Maßstab übrigens zum Teil noch frappierender sind. Der Vorstandsvorsitzende einer großen amerikanischen Kaufhauskette hat vor einigen Jahren nachweislich der eigenen Unternehmensbilanz das rund 900-fache des Durchschnittseinkommens der Beschäftigten seines Unternehmens „verdient“ - bekommen, wollte ich sagen.

Selbst als überzeugter Anhänger des Prinzips der Ungleichheit kann ich dafür keine überzeugende Begründung finden. Die Leistungsdifferenzen in unserer Gesellschaft sind bei weitem nicht so groß wie die Einkommens- und Vermögensdifferenzen. Wenn aber das Leistungsprinzip auf diese Weise zunehmend und scheinbar systematisch konterkariert wird, wenn zwischen Leistung und Entlohnung entweder kein Zusammenhang mehr besteht oder er jedenfalls immer weniger erkennbar, immer weniger nachvollziehbar wird, dann steht die Legitimation dieser Ordnung zur Debatte.

Auch mit den Boni von Investmentbankern, die mit vernünftigen Leistungsprämien, die aus gutem Grunde in vielen Unternehmen längst gang und gäbe sind, nur noch eine sehr entfernte Ähnlichkeit haben, habe ich meine Probleme. In der Regel verdienen Investmentbanker ein ordentliches Gehalt, das deutlich über dem durchschnittlichen Einkommen vergleichbarer Tätigkeiten liegt. Mit dem Einsatz von Geldern, die ihnen nicht gehören, erzielen sie im Erfolgsfall fürstliche Honorare und werden bei gescheiterten Geschäften von Bürgschaften und Einlagen der Steuerzahler unterstützt, die selber weder von den Einkommen noch von den Prämien auch nur träumen können, die im Misserferfolgsfall von der Gesellschaft im ganzen abgedeckt werden müssen, um nach dem staatlich verhinderten Kollaps - unbelehrt und scheinbar unberührt - ihre finanziellen Wetten wieder aufzunehmen, die sie sich wieder mit neuen Boni vergüten lassen.

Wenn irgend jemand von ihnen meint, das sei unangenehm, werde diese Ordnung aber nicht im Kern aus den Angeln heben, dann halte ich das für einen unbegründeten fröhlichen Optimismus: Dies erodiert die Wirtschaftsordnung. Jedenfalls eine Wirtschaftsordnung, die sich seit mehr als 60 Jahren eben nicht als eine kapitalistische Wirtschaftsordnung versteht, sondern als eine, die die Prinzipien des Wettbewerbs mit sozialstaatlichen Rahmenbedingungen auch deshalb versehen hat, weil sie neben ökonomischen Kalkülen ein Mindestmaß von gesellschaftlichen, sozialen Erwartungen und Verpflichtungen zum Bestandteil dieser Organisations- und Wirtschaftsordnung machen will.

Ich habe vor einigen Wochen mit großem Interesse von einer Studie der Universität Zürich gelesen, die bei der Analyse von Unternehmen und den Einkommensstrukturen von Vorstandsmitgliedern zu dem Ergebnis kam, dass zwischen den wirtschaftlichen Erfolgen dieser Unternehmen und der Höhe der ausgeschütteten Boni und Aktienoptionen überhaupt kein statistisch signifikanter Zusammenhang zu finden war.

Zwei Drittel der Bevölkerung hier in Deutschland empfinden die Verteilung von Einkommen und Vermögen inzwischen als hoch ungerecht. Dagegen lässt sich einwenden, dass das immer schon so war - das ist nicht ganz falsch, trifft dennoch nicht die Lage, denn in den letzten Jahren ist der Anteil der Skeptiker gegenüber der Einkommens- und Vermögensverteilung signifikant gestiegen. Vor wenigen Jahren lag der Anteil der Skeptiker noch ungefähr bei der Hälfte, inzwischen liegt er bei gut zwei Drittel. Ich könnte ihnen das jetzt auch aufgeschlüsselt nach den Anhängern unterschiedlicher politischer Parteien vortragen, trage ihnen aber nur den Saldo vor: Der geringste Anteil der Skeptiker findet sich unter den FDP-Wählern, da liegt er bei 65 Prozent.

Also machen wir uns mal nichts vor: Wir haben in dieser Frage eine virtuell verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit in der deutschen Bevölkerung, was die Einschätzung der Akzeptanz der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland betrifft. Und da ich heute ausdrücklich nicht als Ökonom rede, will ich mir noch einen zweiten Hinweis erlauben, bei dem mir als mindestens angelerntem Ökonomen die einschlägigen Kalküle zwar hinreichend vertraut sind, mir aber die direkten und indirekten wirtschaftspolitischen und gesellschaftspolitischen Folgen gleichwohl schwer akzeptabel erscheinen. Warenterminbörsen für Rohstoffe - ein konkretes Beispiel:  Jedes Jahr werden weltweit zwischen etwa drei und rund vier Millionen Tonnen Kakao produziert und verbraucht. Da stehen Angebot und Nachfrage Jahr für Jahr in einem - im Großen und Ganzen - erstaunlich ausgeglichenen Verhältnis zueinander. Es wird ziemlich genauso viel produziert wie auch nachgefragt wird. In der jüngsten Zeit ist der Kakaopreis so hoch gewesen wie in den letzten dreißig Jahren nicht mehr. Das hat mit der Angebots- und Nachfragesituation des Produktes überhaupt nichts zu tun, wohl aber mit der Spekulation mit diesem Rohstoff. Es werden nämlich jährlich etwa 60 Millionen Tonnen Kakao, das ist etwa das 20fache der Jahresproduktion, über Terminkontrakte gehandelt. Dass da gute Geschäfte gemacht werden, daran habe ich keinen Zweifel, dass das eine Errungenschaft unserer Zivilisation sei, bestreite ich ausdrücklich. Zumal zwischen den Profiten derer, die sich für die Begünstigten dieser Wettgeschäfte halten dürfen, und den Einkommens- und Vermögensverhältnissen derjenigen, die zu den Herstellern des Produkts gehören, das Gegenstand von Wettgeschäften ist, so dramatische Missverhältnisse bestehen, dass ich das jedenfalls als überzeugter Anhänger einer sozialen Marktwirtschaft nicht vertreten kann.

Wir haben - Herr Professor Hüther hat das ja auch in seiner Begrüßung angedeutet - in den vergangenen Jahren besonders dramatische Erfahrungen auf den Weltfinanzmärkten gemacht, die sich in einer so atemberaubenden Art und Weise von den Gütermärkten entfernt haben, dass wir hilfsweise schon durch den erstaunlichen Begriff „Realwirtschaft“ die Unterscheidung zwischen realen und virtuellen Prozessen wieder in den Blick genommen haben. Die meisten von ihnen kennen die einschlägigen Relationen. In den letzten gut 25 Jahren - Anfang/Mitte der 80er Jahre - hat sich das Volumen der täglichen Finanztransaktionen auf den Weltfinanzmärkten rund verfünfzigfacht. Ihr Umfang macht heute mehr als das 20-fache der täglichen Finanztransaktionen im Anlagekapital aus. Das, was auf den internationalen Finanzmärkten über die Jahre hinweg stattfindet, ist - wiederum zugespitzt formuliert - nicht Wertschöpfung, sondern Simulation von Wertschöpfung, die so lange hält, wie die Einbildung stabil bleibt. Das ist ökonomisch virtuos, hoch akrobatisch, aber ethisch grenzwertig. Zumal die Chancen und Risiken ja natürlich nicht und offenkundig nicht gleichmäßig, schon gar nicht gerecht verteilt sind, sondern sich zunehmend auf die heimliche Erwartung gründen, dass, je größer die Risiken dieser Geschäfte werden, desto unvermeidlicher der Staat am Ende als Bürge für gescheiterte Geschäfte eintreten muss.

Der dramatische Höhepunkt der Eigendynamik dieser Entwicklung war vor anderthalb Jahren erreicht, als die internationalen Finanzmärkte zu kollabieren drohten, weil sich alle Banken weltweit wechselseitig ihr Misstrauen ausgesprochen hatten. Und als letzter denkbarer Rettungsanker wurde die Institution wiederentdeckt, die nach Auffassung der gleichen Branchen nun seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, die letzte verbliebene Hürde für das ultimative Maß an ökonomischer Effizienz sein sollte, nämlich der Staat. Seitdem gibt es eine Reihe von neuen Ansichten, übrigens auch von neuen Versuchungen. Zu den neuen und hoffentlich stabilen Einsichten gehört, dass der Höhepunkt, der Gipfelpunkt der ökonomischen Leistungsfähigkeit offenkundig nicht dann erreicht ist, wenn es den Staat nur noch als nostalgischen Erinnerungsposten an frühere Epochen der Wirtschaftsgeschichte gibt, sondern, dass Märkte ganz offensichtlich genauso ihre belastbaren, durchsetzbaren Regeln brauchen wie andere Sozialsysteme auch. Zu den neuen Versuchungen gehört, dass beim einen oder anderen die Vorstellung sich verselbständigt, am besten übernehme der Staat gleich auch die Organisation der Gütermärkte und stelle selber wieder Autos und Oberhemden und elektronische Geräte oder was auch immer her, jedenfalls dann, wenn sie in privatwirtschaftlicher Trägerschaft und hier, und dort in Turbulenzen geraten.

Wir befinden uns im Augenblick mitten in einer Woche, in der wir zu unserer eigenen Überraschung einmal wieder über ein staatlich und auf europäischer Ebene vereinbartes Paket von Hilfsmaßnahmen beraten und entscheiden müssen, von dem wir uns noch vor einer Woche oder 14 Tagen kaum hätten vorstellen mögen, dass uns allein eine solche Fragestellung erreichen könnte. Und ich habe keine Illusion darüber, dass ein immer geringerer Teil der deutschen Öffentlichkeit begreift, warum - wenn sich die Probleme auf diese Weise akkumulieren - ein Wochenende reicht, um Hilfspakete von 750 Mrd. Euro zu vereinbaren, aber anderthalb Jahre nicht ausreichen, um die Einsichten umzusetzen, die wir beim ersten drohenden Kollaps gemeinsam als unverzichtbare Konsequenzen der verselbständigten Finanzmärkte formuliert haben. Ich will hinzufügen: Ohne die Umsetzung dieser Einsicht sind die Rettungspakete in der Sache auch gar nicht zu verantworten, denn sie vertagen ja das Problem nur, das sie durch die Zusage der Mittel allein ganz offenkundig nicht lösen können. In diesem Zusammenhang nur nachrichtlich der Hinweis, dass die Hedgefonds und andere spekulativ orientierte Kapitalgeschäfte weltweit im Augenblick ein Anlagevolumen bewegen, das sich in der Größenordnung etwa von 2,6 Billionen Dollar beläuft. Das ist ziemlich genau die Größenordnung unseres jährlichen Sozialprodukts. Zu glauben, wir könnten mit Wochenendaktionen des Auslobens von Steuergeldern dieser Spekulation wirksam entgegentreten, halte ich für eine fröhliche Illusion. Wir werden dem mit Erfolg nur entgegentreten, wenn wir uns darüber verständigen, was wir für zulässige Geschäfte halten und was eben nicht. Und da fallen mir eine Reihe von Geschäften ein, die ich für unanständig halte und deswegen für unzulässig und die ich nach meinem Verständnis einer sozialen Marktwirtschaft gesetzlich untersagen möchte. Selbst wenn ich solche Geschäfte ökonomisch spannend fände, fühlte ich mich zu dieser Konsequenz auch deswegen verpflichtet, weil wir die Folgen der Verselbständigung dieser Systeme doch offenkundig nicht anders beherrschen können und weder vor uns selbst noch vor nachfolgenden Generationen die absehbaren Folgen solcher Versäumnisse vertreten können.

Von Ludwig Erhard, von dem immerhin noch einige wissen, dass es ihn einmal gegeben hat, und der nicht gänzlich zu unrecht für den Vater unseres sogenannten „Wirtschaftswunders“ gehalten wird, jedenfalls der „sozialen Marktwirtschaft, ohne die es dieses vermeintliche Wunder sicher nicht gegeben hätte, stammt der bedenkenswerte Satz “Freiheit, die sozialökonomisch oder politisch nicht in ein umfassendes Ordnungssystem eingespannt und damit gebändigt ist, oder auch Freiheit, die um keine moralische Bindung weiß, wird immer im Chaotischen entarten„. Ohne die Bereitschaft des längst abgeschriebenen Staates zur Intervention in kollabierende Finanzmärkte hätten wir in den vergangenen Monaten erstaunliche neue Aufschlüsse zur Chaostheorie gewinnen können.

Lassen sie mich zum Schluss nach Max Weber zu Beginn einen anderen bedeutenden zeitgenössischen Philosophen zitieren: Peter Sloterdijk hat in seinem Buch “Im Weltinnenraum des Kapitals„ folgenden interessanten und denkwürdigen Satz geschrieben: “Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern dass das Geld um die Erde läuft.„ Er hat, meine Damen und Herren, nicht von der Hauptsache, sondern von der Haupttatsache gesprochen und aus gutem Grund das eine vom anderen getrennt. Meine Empfehlung ist, diese Unterscheidung dringend im Auge zu behalten.

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