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Rede zur Eröffnung der Ausstellung „The Holocaust against the Roma and Sinti and present day racism in Europe“ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors

Lieber Herr Nachama,
sehr geehrter, lieber Herr Rose,
Frau Rosenberg,
Herr Prof. Steinbach,
meine Damen und Herren,
verehrte Gäste,

heute auf den Tag genau vor 40 Jahren, am 19. Oktober 1972, erhielt Heinrich Böll als erster Autor der Bundesrepublik Deutschland den Literaturnobelpreis. Er starb im Juli 1985 und wurde zum Erstaunen eines großen Teils der deutschen Öffentlichkeit auf seinen eigenen Wunsch zur Musik von Sinti und Roma zu Grabe getragen. Für Heinrich Böll war das Engagement für die Schwachen, das Eintreten für Benachteiligte, in ihren Rechten Eingeschränkte oder Gefährdete, gegen soziale Missstände, insbesondere aber das Engagement gegen Vergessen und Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte, ein prägender Teil seiner Literatur. Er hat damit nicht immer überall nur Begeisterungsstürme erzeugt, um es zurückhaltend zu formulieren, aber er hat damit ganz offenkundig einen nachhaltigen Beitrag für die Entwicklung des Selbstverständnisses dieser neuen Republik und ihren Umgang mit ihrer eigenen Geschichte geleistet.

„Alles Geschriebene ist gegen den Tod angeschrieben“, hat Heinrich Böll einmal formuliert und damit zum Ausdruck gebracht, dass es der Literatur immerhin gelingt, im Gedächtnis eines Landes und manchmal im Gedächtnis der Menschheit zu bewahren, was in den Realitäten des wirklichen Lebens verloren gegangen ist. Aber ganz sicher wäre Heinrich Böll der Letzte gewesen, der es für ausreichend gehalten hätte, dies für die herausragende Aufgabe der Literatur zu halten, ihr gewissermaßen die Planstelle für Bewahrung von Erinnerung und das Anschreiben gegen Vergessen zuzuweisen als Entlastung für eine Gesellschaft, die sich damit ungern auseinandersetzt.

Wir eröffnen heute gemeinsam eine Ausstellung, die an die Jahrhunderte alte Geschichte der Roma und Sinti in Europa und Deutschland erinnert und insbesondere an eine im Verhältnis zu dieser Zeitspanne außergewöhnlich kurze und beispiellose Zeit, die durch das organisierte Bemühen um systematische Vernichtung dieses Teils der deutschen und der europäischen Gesellschaft gekennzeichnet war.

1982, also 10 Jahre nach dem Ereignis, das ich gerade mit Blick auf den heutigen Tag in Erinnerung gerufen habe, ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet worden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, nicht nur die wenigen verbliebenen und die wenigen nach Deutschland zurückkehrenden Sinti und Roma mit einem Sprachrohr zu versehen, ihnen die Möglichkeit einer Vertretung gemeinsamer Anliegen und Interessen zu geben, sondern auch einen konkreten praktischen Beitrag zur Dokumentation des Lebens von Sinti und Roma bei uns und in anderen Ländern Europas zu leisten, was in besonderer Weise durch das Dokumentationszentrum zum Ausdruck kommt, das 1997 in Heidelberg errichtet werden konnte.

Bei der Eröffnung dieser eindrucksvollen Dokumentationsstelle hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner Festrede ausdrücklich festgehalten: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns und mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise, vom Kleinkind bis zum Greis, ermordet.“
Es ist leider nicht übertrieben, vom „vergessenen Holocaust“ zu sprechen, und deswegen war es geradezu überfällig, dass wir mit der Einladung an Zoni Weisz im vergangenen Jahr, die Rede zur jährlichen Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27. Januar zu halten, auch als Verfassungsorgan Deutscher Bundestag einen demonstrativen Beitrag zur Verdeutlichung dieser oft übersehenen Völkermordgeschichte geleistet haben.
Und ein bisschen finde ich es – obwohl es einem schwerfällt, im Zusammenhang mit solchen Themen und solchen Ereignissen den Begriff überhaupt in den Mund zu nehmen – tatsächlich ermutigend, dass es Gründe für die Annahme gibt, dass die damalige Rede von Zoni Weisz eine Wirkung gehabt und behalten hat, die weit über den Tag hinaus gegangen ist und die zur Erweiterung des Bewusstseins, zur Erweiterung der Kenntnisnahme einer deutschen und europäischen Bevölkerung beigetragen hat, die zweifellos überfällig war.

Als das Dokumentationszentrum in Heidelberg errichtet wurde, war der Beschluss zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma bereits gefasst. Nach zwanzigjähriger Planung und Bauphase können wir das Denkmal am nächsten Mittwoch endlich der Öffentlichkeit übergeben. Ich finde es gut, richtig und notwendig, dass dieses Ereignis in der nächsten Woche begleitet wird von einer Serie von Veranstaltungen, die nicht nur den historischen Kontext des Verbrechens zum Gegenstand haben, sondern ebenso den Stellenwert, das Leben und die Lebensumstände von Sinti und Roma in Deutschland und in Europa. Und die Ausstellung, die hier dankenswerter Weise in der „Topographie des Terrors“ gezeigt werden kann, trägt zur Vermittlung dieser Zusammenhänge bei.


Dass das Zustandekommen dieser Ausstellung neben Mitteln der europäischen Kommission, aus Mitteln des Auswärtigen Amtes, des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, liebenswürdigerweise auch der Böll-Stiftung und weiteren deutschen Stellen gefördert wird, versteht sich fast von selbst.

Dass die Ausstellung jedoch ausschließlich in englischer Sprache diese Ereignisse vermittelt, finde ich nicht sehr überzeugend, um nicht zu sagen ärgerlich. Der zutreffende Hinweis, die Ausstellung solle insbesondere auch im Ausland gezeigt werden, macht erklärlich, warum die Texte auch in Englisch verfügbar sein müssen. Dass sie ausschließlich in Englisch verfügbar sind, finde ich unpassend. Nach meinem Verständnis sind die national-sozialistischen Rassegesetze in deutscher Sprache verfasst worden. Und die Vernichtungskommandos sind in deutscher Sprache über die Kasernenhöfe und Konzentrationslager gebellt worden.

Es bleibt mehr als ein kleiner Wermutstropfen in einer ansonsten natürlich wichtigen und richtigen Initiative. Wenn ich das richtig aus den Unterlagen ersehen habe, gibt es immerhin die Möglichkeit, über Audio-Guides ergänzende Informationen für die hier in Berlin hoffentlich zahlreichen Besucher zugänglich zu machen. Aber nochmal: Gerade der Eindruck, den wir mit dieser Ausstellung auch an dritten Plätzen vermitteln, wäre noch überzeugender gewesen, wenn nicht, warum auch immer, die sprachliche Verharmlosung entstanden wäre, als die mir jedenfalls diese Verkürzung auf die englische Übersetzung vorkommt.

„Die Sprache“, um am Schluss noch einmal Heinrich Böll zu zitieren, „Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein. Wir wissen, dass ein Gespräch, dass ein heimlich weitergereichtes Gedicht kostbarer sein kann als Brot.“

Ja, das ist wahr. Aber ersetzen können Gedichte Brote eben nicht. Und Literatur kann das Gedächtnis an Menschen aufrecht erhalten, aber nicht Leben retten. Das bleibt eine Aufgabe, der sich jede Gesellschaft, ganz besonders, aber keineswegs nur die politisch Verantwortlichen, immer wieder neu stellen müssen. Und kein anderes Land in der Welt hat mehr Anlass, sich dieser Verpflichtung immer wieder neu zu vergewissern, als wir Deutsche.

Deswegen danke ich all denjenigen, die diese Initiative zu dieser Ausstellung und zu diesem mehrtägigen Begleitprogramm ergriffen haben. Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und bedanke mich bei all denjenigen, die sich nicht nur heute, sondern auch weit über das heutige Ereignis und über die Eröffnung des Denkmals in der nächsten Woche hinaus, um die Vermittlung dieses Anliegens bemühen.

Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

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