Rede zur Gedenkveranstaltung 60. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 im Deutschen Bundestag
Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Vizepräsident des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!
Es ging um nichts weniger als um die Freiheit, damals vor 60 Jahren in der DDR. „Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!“, dieser Ruf der Bauarbeiter von der Stalinallee in Ostberlin ist der Kern der Botschaft des Aufstandes, der unter der schlichten Bezeichnung „17. Juni“ in die Geschichte einging. Die historischen Fotoaufnahmen, die zu Beginn der Protestaktionen gemacht wurden, zeigen fröhliche Gesichter voller Hoffnung, fast Unbeschwertheit. Sie erinnern an ein Zitat von Vaclav Havel: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.
Damals ist es nicht gut ausgegangen. Der 17. Juni 1953 ist blutig verlaufen. Die Machthaber des Arbeiter- und Bauernstaates, die keine in freien Wahlen erworbene Legitimation besaßen, wollten nicht hören, was die Menschen ihnen zu sagen hatten. Sie haben die Stimme der Freiheit mit sowjetischen Panzern und Gewalt zum Schweigen gebracht.
Heute gedenken wir der mutigen Frauen und Männer, die damals der Staatsgewalt zum Opfer fielen, die ihr Leben ließen oder nach der Zerschlagung des Aufstandes verhaftet und zu langen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt, die verleumdet, kriminalisiert oder sozial benachteiligt wurden. Wir denken heute auch an jene, die keinen anderen Ausweg sahen, als ihre Heimat, ihre Familien, ihre Freunde zu verlassen und in den Westen zu fliehen. Bis zum Bau der Mauer 1961 stimmten so rund 2,7 Millionen Menschen mit den Füßen
ab. Man nannte es „Republikflucht“, und das war in einer angeblich demokratischen Republik ein Straftatbestand.
Dieser 17. Juni gehört zweifellos zu den Schlüsseldaten der jüngeren deutschen Geschichte, auch wenn er in seiner vollen gesamtdeutschen und europäischen Bedeutung noch immer nicht angemessen wahrgenommen wird. Er war der Beginn einer Reihe von Aufständen, in Budapest, Prag, Warschau, deren gewaltsame Niederschlagung Grundlage eines historischen Triumphes wurde. Die Ostdeutschen haben mit ihrem Mut ein stolzes Kapitel in der nicht allzu reichen Geschichte der Aufstands- und Freiheitsbewegungen unseres Volkes geschrieben. Die Geschichte des 17. Juni zeigt aber auch: Freiheitskämpfe verdienen nicht erst dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern dann, wenn sie stattfinden. Deshalb sind unsere Gedanken und unsere Solidarität heute auch bei denen, die in diesen Tagen und Stunden dabei sind, für ihre Freiheit zu kämpfen, in Syrien, im Iran oder in Weißrussland, um nur einige Länder zu nennen.
Natürlich verfolgen wir die Ereignisse und Entwicklungen in der Türkei mit großer Aufmerksamkeit und besonderen Erwartungen, einem Land, das Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führt. Im Übrigen müssen wir uns gelegentlich auch selbst kritische Fragen zu unserem Umgang mit Andersdenkenden, Minderheiten und Demonstranten stellen, jedenfalls gefallen lassen.
Auf den Zusammenhang zwischen der Volkserhebung 1953, den späteren Aufständen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen und dem Fall der Mauer 1989 sowie der Wiedervereinigung unseres Landes wurde schon oft hingewiesen. Bezeichnenderweise war dieser Zusammenhang den Menschen in der DDR, die 1989 die friedliche Revolution vollbracht haben, kaum bewusst, was nicht zuletzt ein Ergebnis insoweit erfolgreicher staatlicher Propaganda war. Dass dieser Zusammenhang aber besteht, belegt die unfreiwillig komische Frage des damaligen Staatssicherheitsministers Erich Mielke im August 1989: „Bricht morgen der 17. Juni aus?“ Der 17. Juni ist 1989 nicht ausgebrochen, weil die Panzer damals gottlob in den Kasernen geblieben sind. Im Sommer und Herbst 1989 wurde aber vollendet, was 1953 mit dem Ruf des Volkes nach Freiheit
begann.
Während die DDR-Propaganda den 17. Juni zum faschistischen Putschversuch herabwürdigte und tabuisierte, beschloss der Bundestag schon wenige Wochen nach dem Aufstand, den 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit zum Gedenktag zu erheben. Wie unterschiedlich der Umgang mit dem 17. Juni im Osten und im Westen war, hat Erhard Eppler auf eine treffende Weise einmal so zusammengefasst: Die Westdeutschen haben zwar gefeiert, aber nichts riskiert. Die Ostdeutschen haben etwas riskiert, aber nichts gefeiert.
Bald 25 Jahre nach der Einheit gelingt es uns heute hoffentlich besser, den 17. Juni aus gemeinsamer Perspektive zu betrachten und zusammen zu feiern, dass die Menschen im Osten damals etwas riskiert haben. Deshalb ist der 17. Juni ein herausragendes Datum unserer Geschichte, ein Tag, der, um auf Vaclav Havel zurückzukommen, damals zwar nicht gut ausging, aber gleichwohl Sinn hatte und seine Wirkung später entfaltet hat.
Was sagt uns dieses Datum heute? Welchen Sinn hat dieser Tag für uns, die wir die Freiheiten einer Demokratie als selbstverständlich empfinden? Es ist gut, dass wir die Demokratie als Normalzustand empfinden, weil das zeigt, dass Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaat für uns normal, also die Norm sind. Aber sie
sind eben nicht selbstverständlich.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie wissen und sagen auch immer öffentlich, dass das so ist. Sie haben den Aufstand vom 17. Juni 1953 als 13-Jähriger persönlich miterlebt und ihn als ein „elektrisierendes Erlebnis“
beschrieben.
Was es damals bedeutete, einer Diktatur ausgeliefert zu sein, haben Sie und Ihre Familie persönlich bitter erfahren müssen. Auch deswegen können Sie über das große Thema Freiheit so überzeugend reden. Wir freuen uns, dass Sie heute aus diesem Anlass zu uns sprechen. Sie haben das Wort.