Parlament

Vortrag auf der 68. Mitgliederversammlung des Landesverbandes der Volkshochschulen von NRW in Monheim am Rhein: „Vertrauensverlust der Parteien - Krise der parlamentarischen Demokratie?“

Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
liebe Frau Leidemann,
Herr Bürgermeister,
Herr Aengenvoort,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Landtag und den kommunalen Vertretungskörperschaften,
meine Damen und Herren!

Zu dem angekündigten Thema kann ich Ihnen eine Kurzfassung und auch eine etwas längere Version anbieten. Die Kurzfassung lautet:
1.     Ja, es gibt eine Krise. Ihr Kern ist ein massiver Vertrauensverlust.
2.     Es empfiehlt sich sehr, diese Krise ernst zu nehmen.
3.     Ernst nehmen heißt, die offensichtlichen Krisensymptome weder zu     banalisieren noch zu dramatisieren.

Ich will auch die etwas längere Version in gekürzter Fassung vortragen, um das, was ich in drei zugespitzten Bemerkungen formuliert habe, vielleicht noch etwas zu veranschaulichen. Ich beginne mit dem Hinweis auf zwei Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte, die beide an einem 1. Juli stattgefunden haben –
und an die man inzwischen ausdrücklich erinnern muss, weil sie ein längst für selbstverständlich gehaltener Teil einer veränderten Lebenswirklichkeit geworden sind. Heute auf den Tag genau vor 23 Jahren, am 1. Juli 1990, trat die Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der damals noch existierenden Deutschen Demokratischen Republik in Kraft. Sie war die Vorstufe für eine politische Einheit, die weniger als ein halbes Jahr später vollzogen werden sollte – und die noch ein halbes Jahr zuvor kaum jemand für möglich gehalten hätte. Heute vor 22 Jahren, also ein Jahr später, am 1. Juli 1991, löste sich der Warschauer Pakt auf, eines der beiden großen, waffenstarrenden Militärbündnisse, die sich in Europa – und nirgendwo unmittelbarer als in Deutschland – jahrzehntelang gegenüber gestanden hatten. Mit dem Sturz der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa und mit der Auflösung der Sowjetunion verlor der Warschauer Pakt nicht nur seine innere Legitimation, sondern auch seine Zweckbestimmung.

Wir leben heute in Deutschland unter – historisch betrachtet – außergewöhnlichen Verhältnissen. Wir leben in einem demokratischen Staat, rechtstaatlich verfasst, in dem regelmäßig Parlamente und Regierungen gewählt und abgewählt werden – so, wie es dem Mehrheitswillen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Das geteilte Land ist wieder vereint. Und zum ersten Mal überhaupt in der deutschen Geschichte leben wir in Frieden mit allen unseren Nachbarn. Glücklichere Zeiten gab es in der deutschen Geschichte nie. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, diesen Zustand für den Normalzustand zu halten. Zumindest denjenigen, die nach 1990 geboren sind, wird man das schwerlich vorhalten können. Sie haben nie andere Verhältnisse erlebt, als die, die wir heute – mit einer subjektiven Überzeugung – für eben diesen Normalzustand halten.

Wenn man die spektakuläre Veränderung – und die zweifellos spektakulärste Verbesserung der politischen Verhältnisse, die es in Deutschland jemals gab – als Folie für die Beschreibung der Stimmungen und der Befindlichkeit in unserem Lande nimmt, dann ist erstaunlich, dass wir uns nicht in einem Zustand dauerhafter Euphorie, jedenfalls stabiler Zufriedenheit, befinden. Aber das ist ohnehin eine nur schwer realisierbare, luxuriöse Lieblingsvorstellung, insbesondere von in Verantwortung befindlichen Zeitgenossen. Vielmehr scheinen wir uns auf einem – zumindest demoskopisch gemessen – Tiefstand des Ansehens öffentlicher Institutionen zu befinden: Weder Regierung noch Opposition, weder Parlamente noch Parteien befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Das ist eine freundliche Formulierung eines – in Zahlen gemessen – eher dramatischen Befundes.

Es gibt viel Kritik am Zustand unseres politischen Systems – manche berechtigt, manche nicht. Der besorgniserregendste Befund aller Untersuchungen aus der jüngeren Vergangenheit ist, dass genau das, was zum Funktionieren einer modernen, demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft am dringendsten notwendig ist, am stärksten verloren gegangen ist – nämlich Vertrauen. Dabei tröstet mich nicht, dass dieser Vertrauensverlust keineswegs exklusiv die politische Klasse betrifft. Zu den Ungenauigkeiten der Diskussion gehört auch der zutreffende Hinweis, wir hätten es mit einem dramatischen Vertrauensverlust gegenüber politischen Institutionen zu tun. Wir haben es nämlich mit einem dramatischen Vertrauensverlust gegenüber nahezu allen Institutionen zu tun. Das macht den Befund nicht besser! Mir fällt keine Institution in Deutschland ein – von Feuerwehr und ehrenamtlichen Katastrophenhelfern einmal abgesehen –, die sich eines uneingeschränkten Vertrauens erfreut: die Gewerkschaften, die Kirchen, der Sport, die Wirtschaft, von den Banken gar nicht zu reden! Wo immer wir hinschauen, finden wir einen massiven Vertrauensverlust vor. Mich tröstet es natürlich nicht, dass die Politik hier keineswegs exklusiv betroffen ist, schließlich ist damit genau der Bereich in besonderer Weise betroffen, der – wiederum nicht exklusiv – für die Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben kaum etwas anderes so sehr benötigt wie genau dieses Vertrauen.

Nun ist die Demokratie glücklicherweise kein System, das die Herbeiführung verbindlicher Entscheidungen auf Vertrauensvorschuss begründet. Vielmehr bindet sie Einfluss oder gar Macht an mehrere Voraussetzungen, weil sie sich zu einem prinzipiellen und unbegrenzten Vertrauen gegenüber Amts- oder Machtinhabern gerade nicht in der Lage sieht. Die erste Voraussetzung für die Übernahme einer solchen Macht- oder Amtsposition ist die Legitimation durch Wahlen. Eine andere Legitimation gibt es in der Demokratie nicht. Zweitens: Auch wenn dieser Nachweis geführt werden kann, wird damit das Amt nicht auf Lebenszeit vergeben, sondern für einen vergleichsweise eng befristeten Zeitraum. Und drittens: Selbst innerhalb dieses eng befristeten Zeitraums wird niemals jemandem alle Macht gleichzeitig übertragen. Sie muss sich stets durch andere, wiederum legitimierte Macht- und Einflussfaktoren kontrollieren und relativieren lassen.

Das ersetzt jedoch nicht das Vertrauen, das gerade demokratische Institutionen für die überzeugende Wahrnehmung ihrer Aufgaben zwingend brauchen. Wenn es also einen massiven Vertrauensverlust gibt, dann empfiehlt es sich sehr, ihn auch ernst zu nehmen, – umso mehr, als wir es hier nicht mit einer Momentaufnahme zu tun haben, sondern mit einem sich seit Jahren fortsetzenden Veränderungsprozess. Wir reden nicht über eine vorüberziehende Schlechtwetterfront, sondern über Wolken, die seit bemerkenswert langer Zeit stabil über dem System hängen und nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Funktionsbedingungen verdüstern.

Dass Demokratien nicht über alle Anfechtungen erhaben sind, dass sie scheitern können, dass sie ausbluten oder erodieren können, dafür gibt es zahlreiche Beispiele – besonders eindrucksvolle in unserer eigenen Geschichte: Der erste ernsthafte Versuch, in Deutschland Demokratie zu praktizieren, war mit der Auflösung der Weimarer Republik und mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus nach nur 14 Jahren zu Ende. Die Historiker sind sich darin einig, dass alle komplexen historischen Veränderungen vielfältige Ursachen haben. Die wichtigste einzelne Ursache aber war das mangelnde Engagement der Demokraten gegen diejenigen Fanatiker von rechts wie links, die mit diesem demokratischen System nichts oder wenig zu tun haben wollten. Und diejenigen, die nie ganz davon überzeugt waren, dass dieses politische System wirklich einem eigenen Gestaltungswillen und nicht einer Auflage der Siegermächte entsprach, hatten sich von diesem System innerlich relativ schnell verabschiedet. Sie waren nicht dagegen. Es war ihnen einfach nicht wichtig genug.

Wir – und damit meine ich diejenigen, die in Parlamenten, Parteien, Regierungen oder Verwaltungen politische Verantwortung ganz unmittelbar wahrzunehmen haben, aber auch all jene, die eine Verantwortung für das Funktionieren einer lebendigen Demokratie tragen – müssen uns damit auseinandersetzen, dass in der Politik kaum eine andere Aufgabe schwieriger zu lösen ist, als für eine Demokratie im Normalzustand Leidenschaft zu entwickeln. Eine funktionierende Demokratie ist eine eher langweilige als begeisternde, täglich ansteckende, Euphorie stiftende Veranstaltung. Darin liegt für mich auch eine von vielen möglichen Erklärungen, warum sich viele engagierte Bürgerrechtler der DDR nach dem Fall der Mauer so schnell wieder in zivile Tätigkeiten zurückgezogen haben. Es war zwar nicht genau der Zustand eingetreten, den sie haben wollten, aber zumindest so etwas ähnliches. Und der Normalzustand, in dem sich Deutschland seither befindet, der ist für das Entfachen großer Leidenschaften wenig geeignet. Da ist der Sturz von Diktaturen schon die spannendere Herausforderung. Wie also geht eine Demokratie, die im Ganzen offenkundig reibungslos funktioniert, mit dem Motivationsproblem eines Normalzustands um? – Das ist eine große Aufgabe für die Politik und für die politische Bildung.

Es gibt in Deutschland eine stabile, hohe, unangefochtene Zustimmung zur Demokratie als Staatsform, aber eine ständig abnehmende Zustimmung zu den Institutionen, die dieses System bedienen. Alle Umfragen der letzten 20 Jahre zeigen, dass die Zustimmung zur Demokratie als Staatsform stabil bei drei Viertel bis vier Fünftel aller Befragten liegt. Die Frage nach Alternativen zur Demokratie ist demoskopisch fast nicht messbar, so groß ist der Vorsprung in der Wahrnehmung des Systems Demokratie gegenüber anderen. Umso auffälliger ist aber auch die Diskrepanz zu den niedrigen Zustimmungsraten, die es für Regierungen wie für Parlamente und schon gar für politische Parteien gibt.

Auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt auf eine Zustimmungsquote für die Demokratie von mehr als 80 Prozent und einer Zustimmung zu politischen Parteien von etwa 16 Prozent. Seit geraumer Zeit hat sich in diesem Zusammenhang eine These festgesetzt, die ich zwar für verständlich, aber dennoch für falsch halte – nämlich, dass diese Entwicklung der Nachweis einer ausgeprägten Politikverdrossenheit sei. Man könnte mit mindestens ähnlicher Plausibilität aus dieser Diskrepanz einen bemerkenswerten Zuwachs an Urteilsvermögen schließen. Oder man könnte darin einen eindrucksvollen Nachweis des Erfolgs politischer Bildung erkennen – dass nämlich die gleichen Leute, die das politische System, so wie es konzipiert ist, für völlig unstreitig halten, sich dennoch weigern, jeden politischen Entscheidungsvorgang, jeden politischen Amtsträger, jede politische Institution gewissermaßen für generell gerechtfertigt zu erklären. Man könnte auch fragen: Ist es nicht ein Nachweis für politisches Urteilsvermögen, dass die große Mehrheit unserer Gesellschaft mit nahezu jedem konkreten politischen Vorgang mehrheitlich große Probleme hat und sich sogar konsequent weigert, irgendeiner Institution prinzipiell mehrheitlich Zustimmung zu signalisieren, ohne auf die Idee zu kommen, wegen dieses täglichen Frustes das gesamte System für marode und überholt zu erklären? Ich kann jedenfalls dieser Diskrepanz zwischen Systemakzeptanz und Politikkritik doch manches abgewinnen. Zudem halte ich es auch für die wichtigste Voraussetzung, um der Krise, die es zweifellos gibt, mit Erfolg zu begegnen.

Ich will noch einen dritten Aspekt aufgreifen: Zu den auffälligeren Veränderungen der jüngeren Entwicklung in Deutschland und Europa in den vergangenen 20 bis 25 Jahren gehört auch ein deutlich gewachsenes Partizipationsbedürfnis. Die Menschen wollen heute an den Entscheidungen, von denen sie betroffen sind, beteiligt sein. Und sie haben den Eindruck, dass dies nicht oder nicht in hinreichendem Maße geschieht. Ein Teil der kritischen Position gegenüber Regierungen, Parlamenten und Parteien liegt genau in diesem, wenn vielleicht nicht Alleinvertretungsanspruch, dann doch zumindest Rundum-Vertretungsanspruch dieser Institutionen begründet. Dem wird nun das ganz persönliche, subjektive Bedürfnis entgegensetzt, bei diesem oder jenem Thema mitwirken zu können. Das System aber bietet dies scheinbar oder tatsächlich nicht in der gewünschten Weise an. Und so haben wir folgerichtig seit geraumer Zeit eine Diskussion über repräsentative Demokratie auf der einen und plebiszitäre Partizipationsformen auf der anderen Seite. Nahezu jede denkbare Position auf der Skala wird in dieser Diskussion auch vertreten – von denen, die sagen: Fürchtet euch nicht, es bleibt alles, wie es ist, bis hin zu denen, die sagen: Jawohl, das System repräsentativer Demokratie hat sich verbraucht, es muss durch intelligente, im Einzelnen noch zu entwickelnde Formen partizipativer plebiszitärer Demokratie ersetzt werden. Ich halte weder die eine noch die andere Position für hinreichend durchdacht. Vielmehr glaube ich, dass die Suche nach Antworten zwischen diesen beiden Alternativen stattfinden muss. Aber dass wir danach suchen müssen, daran gibt es kein Zweifel.

Im Zusammenhang mit dem steigenden Partizipationsbedürfnis gibt es zwei interessante Phänomene, die auch keineswegs unbedeutend sind, wenn man sich ernsthaft um alternative Entscheidungsmechanismen bemühen muss. Zum einen ist es der Punkt, dass von einer großen Mehrheit eine stärkere persönliche Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen als wünschenswert oder gar notwendig angesehen wird. Im realen Geschehen aber besteht oft kein Interesse daran, an möglichst vielen oder gar allen Entscheidungen beteiligt zu sein, sondern nur an bestimmten. Hier handelt es sich dann auffällig häufig um Entscheidungen zur Verhinderung von Entscheidungen, nicht zu deren Herbeiführung – gegen Kernkraft, Gentechnologie, Bau von Flughäfen oder Kraftwerken, Schließung von Bädern oder Verlegung von Bahnhöfen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat vor zwei, drei Jahren zu diesem Aspekt eine Untersuchung vorgelegt, bei der es einen aufschlussreichen Befund gab. Es ging damals um die Diskussion über den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs. Drei Viertel der Befragten erklärten, dass sie sich – den Gegenstand selbst betreffend – persönlich für nicht besonders sachkundig hielten. Zugleich sagten von ihnen immer noch zwei Drittel, dass das keine Rolle spiele, man wolle trotzdem mitentscheiden. Das finde ich weder überraschend noch aufregend. Aufschlussreich finde ich, dass in der gleichen Untersuchung zwei Drittel der Befragten erklärten, dass politische Entscheidungen möglichst unabhängig von persönlichen Interessen getroffen werden sollen. Was nun ist der aufregende Befund? Es ist die Erkenntnis: Die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, steht und fällt mit dem persönlichen Interesse an einem Sachverhalt. Gleichzeitig aber erwarten die Menschen, dass die Politik von persönlichen Interessen möglichst frei sein muss. Wie bringt man das zusammen – schon gar als alternatives Politikmodell? In der wissenschaftlichen Literatur gibt es dafür inzwischen den schönen Begriff der „Vorgartendemokratie“. Die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren sei außerordentlich groß, wenn es sich um Themen im Umfeld des eigenen „Vorgartens“ handele. Aber eben auch umgekehrt: Alles, was außerhalb des eigenen „Vorgartens“ stattfindet, ist in der Regel nicht mehr Gegenstand des persönlichen Partizipationsinteresses.

Es gibt aber noch einen zweiten interessanten Befund: Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, zu der zweifellos auch die Demokratiegeschichte gehört, haben Menschen mehr ihrer Interessen durch Dritte vertreten lassen als heute. Der moderne Zeitgenosse lässt seine rechtlichen Interessen durch Anwälte vertreten, seine Arbeitsplatz- und Einkommensinteressen durch Gewerkschaften, seine Lebensrisiken durch Versicherungen, seine Geld- und Anlageninteressen durch Banken. Nur wenn es um Politik geht, dann sagt er: Das kann ich selbst am besten beurteilen. Politik kann ich selbst, für alles andere habe ich Spezialisten. Ich bastle nicht mehr selbst an meinem Auto – und schon gar nicht gehe ich mit meiner Gesundheit auf der Basis von Nachbarschaftsempfehlungen um.

Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt. Aber dieser, in immer mehr Sachverhalten durch Dritte vertretene Bürger möchte, wenn es um politische Sachverhalte geht, doch lieber selbst entscheiden. Das allerdings mit der wichtigen prinzipiellen Einschränkung: wenn es ihn selbst betrifft.

Auf der Basis einer solchen allgemeingesellschaftlichen Befindlichkeit müssen Parteien geradezu ein miserables Image haben, denn sie sind gewissermaßen das organisierte Gegenmodell. In den letzten 25 bis 30 Jahren hat die eine der beiden ehemals großen deutschen Volksparteien, die SPD, die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die andere, die CDU, etwa ein Drittel. Der ADAC beispielsweise hat in Deutschland zwölfmal so viele Mitglieder wie alle politischen Parteien zusammen. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, den Deutschen sind ihre Autos zwölfmal wichtiger sind als ihre Demokratie. Diese Gleichung geht natürlich nicht auf. Tatsache aber ist, wir stehen vor einer gewaltigen Gestaltungsaufgabe, die zweifellos den Status Quo nicht unter Denkmalschutz stellen darf. Denn die innere Legitimation einer demokratischen Ordnung hängt nicht allein vom Nachweis ihres formalen Funktionierens ab, sondern auch von ihrer öffentlichen Akzeptanz.

Wir erleben dieser Tage in Ägypten und Brasilien, was geschieht, wenn demokratisch gewählten Regierungen diese gefühlte Akzeptanz der Bevölkerung abhanden kommt. Es gibt hierfür keine Patentrezepte und auch keinen genialischen Befreiungsschlag, selbst, wenn man sich das erhofft. Trotz allem aber sind große Themen zu bewältigen. Dazu gehört beispielsweise das, was uns in der letzten Legislaturperiode sehr viel mehr befasst hat, als uns allen lieb war: die Dauerturbulenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, verbunden mit den Finanzierungskrisen in immer mehr Mitgliedstaaten. Das ist sicher kein Thema, das politische Begeisterung hervorruft – und auch den erhofften, genialischen Befreiungsschlag gibt es eben nicht.

Heribert Prantl, der Chefkommentator der Süddeutschen Zeitung, hat vor einiger Zeit einmal darauf hingewiesen, dass die öffentliche Lust auf eine alexandrinische, knotenzerhauende Politik eine undemokratische Lust sei und hinzugefügt: „… Ein Demokrat haut nicht schnell zu, sondern nestelt herum. Er lässt nicht die Fetzen fliegen, sondern versucht, die Knoten zu lösen.“ Das jedoch gelingt meistens nicht, denn in der Regel sind die Knoten zu dick – und oftmals ist auch unklar, welchen von vielen Knoten es denn genau zu durchtrennen gilt.

Hinzu kommt, dass in Zeiten der Globalisierung die Entscheidungsstrukturen, nicht nur die politischen, auch die ökonomischen und technologischen, immer stärker aus den vertrauten Regelsystemen der Nationalstaaten herauswachsen. Jedem Versuch, den vertrauten Kompetenzrahmen einzuhalten, steht der Verdacht mangelnder Problemadäquanz entgegen. Und jede Suche nach demokratisch legitimierten Verfahren außerhalb des Regelsystems stößt auf eine terra incognita – immer verbunden mit dem Hinweis, dass es der Europäischen Union an einer Legitimation fehle, die ihre Mitgliedsstaaten in den letzten Jahrhunderten jede für sich selbst aufgebaut und etabliert haben.

Hier wird allerdings  zweierlei übersehen: Erstens, die Europäische Union ist kein Staat. Sie ist eine Gemeinschaft von Staaten, die sich entschieden haben, immer mehr ihrer Zuständigkeiten auf diese Gemeinschaft zu übertragen, weil sie sich gemeinsam wirkungsvoller wahrnehmen lassen. Und zweitens gibt es keine internationale Organisation, die es hinsichtlich demokratischer Legitimation mit der Europäischen Union aufnehmen könnte. Nirgendwo sind wir außerhalb von Nationalstaaten – mit Blick auf demokratische Anforderungen an Legitimation, Gewaltenteilung, Kontrolle von politischer Macht – auch nur annähernd so weit gediehen wie innerhalb der Europäischen Union. Außerhalb Europas wird die Europäische Union interessanterweise als das einzig ernsthafte Modell der intelligenten Neuordnung von Nationalstaaten in Zeiten der Globalisierung debattiert. Bei uns ist die gleiche Versuchsanordnung eher unpopulär.

Es hilft nichts, wir müssen die Krise ernst nehmen. Darunter ist zu verstehen, dass die Krisensymptome weder banalisiert noch dramatisiert werden dürfen. Die Diskussion über die Krise der Demokratie ist genau so alt wie der Demokratiebegriff selbst. Ein Großteil der griechischen Philosophie wäre ohne diese Kritik wohl gar nicht entstanden. Und seither begleitet uns dieses Geschwisterpaar: die immer wieder veränderte Vorstellung von dem, was der Mindeststandard einer Demokratie sei, gepaart mit der regelmäßigen Kritik daran, dass das, was wir in der Realität vorfänden, sicher nicht ausreiche.

Es bleibt also eine dauernde Herausforderung für Politik und politische Bildung – beide haben ein gemeinsames Interesse, aber zwei sehr unterschiedliche Rollen: Das, was handelnde Politiker vortragen können und müssen, kann ihnen die politische Bildung weder abnehmen, noch muss sie es in jeden Falle mittragen. Umgekehrt kann die Politik als operatives Handlungsfeld sich nicht mit der intelligenten Beschreibung von Zusammenhängen begnügen. Sie muss Entscheidungen treffen. Und wenn es denn ein herausragendes typisches Merkmal von Entscheidungssituationen in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts gibt, dann ist es die Erfahrung, dass bei politischen Entscheidungen in einer Öffentlichkeit, die diesen Entscheidungen regelmäßig mit sich wechselseitig ausschließenden Erwartungen begegnet, das einzig sichere Ergebnis allgemeine Enttäuschung sein wird.

Unter diesen Bedingungen wünsche ich uns allen gemeinsam einen fröhlichen Bundestagswahlkampf 2013. Dem Ergebnis sehen wir mit der Gelassenheit von Demokraten entgegen und erfreuen uns dann gelegentlich an dem Umstand, dass genau das in Deutschland inzwischen selbstverständlich ist: Alle paar Jahre wird politisch neu sortiert – oder wie es George Bernard Shaw formuliert hat: „Die Demokratie ist das Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“.


Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

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