Parlament

Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Einheit zum Thema „Was stiftet Einheit?“ in der Kirche Santa Maria dell`‘Anima in Rom

Eminenzen, Exzellenzen, liebe Annette Schavan, Herr Prälat,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
meine Damen und Herren,

Was stiftet Einheit?

Die Antwort auf diese Frage ist leider nicht so einfach, wie die schlichte Frage vermuten lässt. Sie ist jedenfalls komplizierter, als ich mir das auch selber vorgestellt hatte, als ich nicht nur der freundlichen Einladung aus Anlass des    25. Jahrestages der Deutschen Einheit nach Rom zu kommen, gerne entsprochen habe, sondern in einem Telefongespräch mit Annette Schavan, was man denn vielleicht als Thema ankündigen sollte, eher zufällig auf diesen Titel gestoßen bin und ohne größeres Nachdenken zugesagt habe, das für den heutigen Abend anzukündigen. Das war leichtsinnig. Denn inzwischen weiß ich, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Schon gar nicht abschließend. Aber ich will gerne den Versuch unternehmen, aus den Erfahrungen der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte ein paar Überlegungen vorzutragen und Hinweise abzuleiten, die uns vielleicht die Beantwortung der Frage erleichtern könnten, was Einheit stiftet.

Begonnen habe ich bei der Vorbereitung auf den heutigen Abend mit dem Nachdenken darüber, ob es gemeinsame Interessen sind, die Einheit stiften, oder eher gemeinsame Überzeugungen. Ob es Erfahrungen sind, die man selbst gemacht hat in der eigenen Biographie, oder ein Land gemacht hat in seiner Geschichte, oder Länder miteinander gemacht haben in ihrer Geschichte, die Einheit stiften, oder ob es - wenn überhaupt - nicht die Erfahrungen, sondern die Einsichten sind, die sich aus diesen Erfahrungen vielleicht ergeben: Die Einsicht in die Grenzen der eigenen Möglichkeiten, die Einsicht in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, wenn schon nicht der Einheit. Ich habe mich gefragt, ob Vertrauen Einheit stiftet, oder ob es nicht sogar vorkommen kann, dass Misstrauen und die Überwindung von Misstrauen zur Einheit beiträgt. Ob es Angst ist, die zur Einheit führt, oder Mut, der Angst überwindet, Einheit ermöglicht. Keine dieser Überlegungen hat mich rundum überzeugt. Für jeden dieser Annäherungen gibt es Beispiele - und vermutlich wird es vielen von Ihnen so gehen wie mir: keine dieser gerade genannten möglichen einheitsstiftenden Ursachen ist der sichere Weg zur Einheit.

Ich möchte das, was ich mit Blick auf die deutsche und europäische Geschichte angekündigt habe, zu Beginn mit drei historischen Beispielen illustrieren:

Heute auf den Tag genau vor 500 Jahren am 14. September 1515 fand die Schlacht bei Marignano (heute Melegnano) statt. Das ist ein Ort in der italienischen Lombardei, den hoffentlich alle Italiener kennen, die meisten Deutschen sicher nicht. Es war weder die erste noch die letzte, vermutlich auch nicht die bedeutendste Schlacht, die in der europäischen Geschichte ausgetragen wurde, aber was ich an genau dieser Schlacht aufschlussreich finde ist, dass das damals mit Italien gar nichts zu tun hatte, denn einen italienischen Nationalstaat gab es damals genauso wenig wie einen deutschen. Ausgekämpft wurde diese Schlacht zwischen den Schweizer Eidgenossen und den Franzosen, und am Ende wurde Mailand Frankreich zugeschlagen.

Nicht auf den Tag genau, aber auf das Jahr genau zweihundert Jahre ist es her, seit der Wiener Kongress zu Ende ging. Er war wiederum nicht der erste oder der letzte Versuch einer Ordnung Europas, und er fand statt nach den napoleonischen Kriegen, die wiederum nicht der erste nicht der letzte Versuch waren, Europa mit Gewalt zu verändern. Der deutsche Nationalstaat ist, wie Sie alle wissen, erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zustande gekommen, das mit den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress begonnen hatte. Und zustande gekommen ist der deutsche Nationalstaat nicht durch eine Vereinbarung mit unseren Nachbarn, sondern durch Kriege. Die hat man übrigens vornehm „Einheitskriege“ genannt oder „Einigungskriege“. Dass hier der Zweck die Mittel heiligen musste, ergibt sich schon aus der Terminologie schlüssig. Einmal gegen die Dänen, dann gegen die Österreicher und zum Schluss gegen die Franzosen, viele Tausend Tote und der deutsche Nationalstaat stand.

Mein drittes Datum ist wieder tagesgenau: heute auf den Tag genau, vor 57 Jahren, am 14. September 1958, hat die erste Begegnung von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle stattgefunden. Sie war der Anfang vom Ende der sogenannten Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, die nicht nur unsere beiden Länder jahrhundertelang mit Kriegen überzogen hat, sondern die jahrhundertelang eine Herausforderung für ein nicht vorhandenes Europa gewesen ist. Und das vierte Datum ist der 3. Oktober 1990, der Tag der Deutschen Einheit, auf dessen 25. Jahrestag wir in wenigen Wochen zurückblicken können.

25 Jahre, das ist im Kontext der europäischen Geschichte, die selbst bei vorsichtiger Betrachtung mindestens 2500 Jahre alt ist, ein scheinbar läppischer Zeitraum. Aber 25 Jahre sind in der Lebensspanne von Menschen ein außerordentlich langer Abschnitt. Und was mich im Zusammenhang mit diesem bevorstehenden Jubiläum besonders beeindruckt ist der häufig übersehene Umstand, dass in diesen 25 Jahren in Deutschland und Europa eine neue Generation herangewachsen ist, die in ihrer eigenen Biographie nie andere Verhältnisse kennengelernt hat, als die, die wir heute in Deutschland und Europa haben: Ein friedlich vereintes Land, mit mehr als 80 Millionen Einwohnern, darunter einem erstaunlich hohen und weiter wachsenden Anteil von Menschen, die in dieses Land eingewandert und zugewandert sind, mit einer stabilen gefestigten Demokratie, das mitten in einer zusammenwachsenden Europäischen Union liegt, die sich inzwischen aus 28 west-, mittel- und osteuropäischen Staaten zusammensetzt. Kein anderes Land in Europa hat mehr Grenzen als wir, und zum ersten Mal in der deutschen Geschichte befindet sich dieses Land im Frieden mit allen seinen Nachbarn. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dafür reichen dann offenkundig 25 Jahre, diesen Zustand für selbstverständlich zu halten, und wir machen uns viel zu selten klar, dass wir in einem absoluten Ausnahmezustand der deutschen und der europäischen Geschichte leben.

Im Bewusstsein all der Herausforderungen, vor denen wir stehen und über die wir sowohl heute Morgen im italienischen Parlament, als auch heute Nachmittag im Vatikan mit dem Kardinalstaatssekretär und dem stellvertretenden Außenminister diskutiert haben, sage ich: Glücklichere Verhältnisse, als wir heute haben, hatten wir in unserer Geschichte nie. Günstigere Voraussetzungen, mit den Problemen fertig zu werden, die es gibt, hatten frühere Generationen sicher nicht. Wenn wir Probleme nicht anpacken oder bei der Bewältigung offenkundiger Probleme versagen, dann mag uns dazu irgendeine Erklärung einfallen, aber dass wir sie nicht hätten lösen können, wird die am schwierigsten begründbare Erklärung sein.

Die deutsche Einheit war das Ergebnis einer historisch außergewöhnlichen Situation und ist dem glücklichen Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu verdanken, zu denen ganz sicher, nicht nur auch, sondern ganz wesentlich der Freiheitswille der Menschen gehörte, der sich jedenfalls nicht beliebig lange unterdrücken oder außer Kraft setzen lässt. Und es gehört im Übrigen zu den atemberaubenden Erfahrungen der damaligen Wochen und Monate, wie schnell das vitale Bedürfnis nach Freiheit mit dem Bedürfnis nach Einheit korrespondierte. Es waren buchstäblich nur drei Wochen der berühmten Montagsdemonstrationen, bis aus der Parole „Wir sind das Volk‘, wir sind für unsere eigenen Lebensverhältnisse, für unsere eigene Zukunft verantwortlich, die nächste Schlussfolgerung gesetzt wurde: “Wir sind ein Volk.„ Wir gehören zusammen. Wir wollen eins sein. Und wir lassen uns dieses Wollen, diesen Wunsch nicht von welchen Mächten auch immer auf Dauer verwehren. Die vielleicht spektakulärste Veränderung der Landkarte Europas, die es in den letzten Jahrzehnten wenn nicht Jahrhunderten gegeben hat, kam durch den denkwürdigen  Beschluss einer frei gewählten Volkskammer zustande, “dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten„. Einen vergleichbaren Vorgang   - Gebietsveränderungen nicht durch Anwendung militärischer Gewalt, sondern durch Beitrittserklärung zur Verfassung eines Nachbarstaates - kenne ich aus der europäischen Geschichte nicht. Dahinter ist ein unbändiger Wille erkennbar, der sich damals auf den Straßen buchstäblich Bahn brach, und dann in diesem ersten und letzten frei gewählten Parlament der Deutschen Demokratischen Republik artikuliert wurde. Gelegentlich muss man daran erinnern, wie ausgeschlossen uns auch genau diese Veränderung jahrzehntelang erschienen ist, wenn man die scheinbare Selbstverständlichkeit begreifen will, mit der wir das gleiche Ereignis heute betrachten. Das ist überhaupt, wie ich glaube, einer der größten Begabungen der Deutschen, Ereignisse, die man jahrzehntelang für völlig ausgeschlossen gehalten hatte, in dem Augenblick, in dem sie dennoch eingetreten sind, für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten.

Was stiftet Einheit?

Diese Deutsche Einheit wäre sicher nicht gestiftet worden ohne den Willen der Menschen, den Zustand der Trennung nicht länger ertragen zu wollen. Aber sie wäre auch nicht zustande gekommen, wenn diesem Freiheits- und Einheitsbedürfnis der Menschen nicht Jahre und Jahrzehnte vorher ein europäischer Prozess vorausgegangen wäre, in dem nach zwei Weltkriegen Erfahrungen der gemeinsamen Geschichte aufgearbeitet und daraus gewonnene Einsichten umgesetzt worden sind. Der europäische Integrationsprozess, den wir seit den 50ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einschließlich mancher Turbulenzen beobachten können, ist in seinem Kern zunächst einmal Ausdruck der Einsicht in die größte Krise, in der sich dieser Kontinent jemals befunden hat. Durch die Erfahrung zweier Weltkriege, die beide auf diesem Kontinent zwischen rivalisierenden Nationalstaaten ausgetragen worden sind. Und der daraus reichlich spät, aber für uns rechtzeitig gewonnenen Einsicht, dass die europäischen Staaten entweder eine gemeinsame Zukunft oder ihre Zukunft hinter sich haben. Das hat im übrigen Winston Churchill in seiner berühmten Rede an die Jugend Europas an der Universität Zürich schon im Jahre 1946 artikuliert mit seiner Aufforderung, wir müssen nach diesen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nun die “Vereinigten Staaten von Europa„ schaffen. Dass er an diesem Manöver Großbritannien nicht beteiligt sah, füge ich der Vollständigkeit halber hinzu - ein Missverständnis, das sich offenkundig bei allen seinen Amtsnachfolgern nahtlos fortgesetzt hat.

Zur Illustrierung der Frage, was Einheit stiftet und Einheit gefährdet, lohnt es, daran zu erinnern, dass der erste Versuch, in Europa Einheit zu stiften, nicht, wie heute regelmäßig vermutet wird, der gemeinsame Anspruch war, einen großen Markt zu schaffen, sondern der erste Versuch war, eine Verteidigungsgemeinschaft zu gründen. Konrad Adenauer hat übrigens das Scheitern des Projekts einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft für die größte politische Enttäuschung seines Lebens erklärt. Was damals beinahe folgerichtig gescheitert ist, war der äußerst ehrgeizige Versuch, gewissermaßen im Kern nationalstaatlicher Souveränität, der Landesverteidigung, europäische Einheit zu schaffen. Dieser Vertrag ist im Deutschen Bundestag ratifiziert worden, mit hohen Mehrheiten, wie alle anderen späteren europäischen Verträge auch. Und er ist in der Assemblée Nationale gescheitert. Beides ist, nachträglich betrachtet, plausibel. In Deutschland ist dieser Vertrag ratifiziert worden, weil die Deutschen schon deswegen kein Problem damit hatten, auf ihre staatliche Souveränität zu verzichten, weil es sie damals gar nicht gab, während die Franzosen spiegelbildlich gar nicht daran dachten, auf eine Souveränität zu verzichten, von der sie damals noch glaubten, dass sie sie besäßen. Und damit war das Projekt zu Ende, bevor es begonnen hatte.

Die römischen Verträge haben dann eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG, geschaffen. Das war ein offenkundig sich selbst erklärendes Projekt, das alle attraktiv fanden: große Märkte sind ergiebiger als kleine Märkte, alle haben damit größere Entwicklungsmöglichkeiten, sowohl die Kunden wie die Produzenten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat sich dann jahrzehntelang in einem erstaunlichen Prozess der Perfektionierung dieses Marktes bewährt, der immer grösser wurde, weil immer mehr Staaten es hoch spannend fanden, daran teilzuhaben. Nicht wenige davon einschließlich der inzwischen beteiligten Briten, mit der heimlichen oder ausdrücklichen Vorstellung, dass bitte mehr als ökonomische Integration auch nicht anzustreben sei.

Was stiftet Einheit?

Wenn man einen einheitlichen Markt will, muss man dafür wieder strukturelle Voraussetzungen schaffen. Man muss die Freiheit des Verkehrs, von Produkten und Gütern und Dienstleistungen, aber eben auch von Menschen garantieren, von Kapital allemal. Man muss gleiche, mindestens ähnliche Wettbewerbsbedingungen schaffen. Also hat man am Ende die Zuständigkeit für Wettbewerbsrecht aus den Nationalstaaten an die Europäische Gemeinschaft gegeben, die längst auch die Zuständigkeit für Handelsfragen von den Nationalstaaten übernommen hat. Und es lag natürlich in der Logik einer solchen Entwicklung, in einem großen Markt von über 500 Millionen Einwohnern das letzte große verbliebene Hindernis zu beseitigen, nämlich die unterschiedlichen Währungen, die die Effizienz eines gemeinsamen Marktes naturgemäß in nicht unerheblicher Weise beeinträchtigen. Deshalb war die Bereitschaft zu einer einheitlichen Währung relativ ausgeprägt. Die Bereitschaft, damit auch eine einheitliche Haushaltspolitik zu verwirklichen, eine einheitliche Steuerpolitik, einheitliche Wirtschaftsförderung, einheitliche Regionalpolitik, von einheitlicher Sozialpolitik gar nicht zu reden, ist bis heute hinter diesem Ehrgeiz weit zurück geblieben. Und wir stellen jetzt fest, dass Probleme, wenn man sie vertagt, sich nicht von selbst erledigen, sondern dass einen die vertagten Probleme wieder einholen. Die Turbulenzen, die wir im europäischen Währungsraum haben, sind die Folgen der Nichtvereinheitlichung von Rahmenbedingungen, die Voraussetzung für das Funktionieren einer gemeinsamen Währung sind. Deswegen haben wir heute Morgen bei einer Zusammenkunft der Präsidenten von vier Gründungsstaaten der Europäischen Union, Italien, Frankreich, Deutschland und Luxemburg, das im Augenblick den Vorsitz im Rat und damit in der Gemeinschaft führt, einen Appell formuliert, die Wirtschafts- und Währungsunion weiter zu entwickeln, was nur dann möglich ist, wenn man die politische Dimension dieses europäischen Projektes stärkt und der Versuchung tapfer widersteht, sie auf ökonomische Zweckmäßigkeitskalküle zu reduzieren.

Was stiftet Einheit?

Ich möchte gerade mit Blick auf den unmittelbaren Anlass unserer heutigen Veranstaltung, 25 Jahre deutsche Einheit, gerne festhalten, dass diese deutsche Einheit sicher nicht zustande gekommen wäre, wenn es nicht Jahrzehnte vorher einen europäischen Integrationsprozess gegeben hätte, in dem die gemeinsamen Erfahrungen einer ganz anderen europäischen Geschichte aufgearbeitet worden sind, Schlussfolgerungen aus einer hoffnungslosen Dauerrivalität von Nationalstaaten gezogen wurden und das wechselseitige Vertrauen gewachsen ist, das eine der Voraussetzungen dafür ist, Einheit möglich zu machen. Es gibt selten historische Prozesse, die nicht nur überhaupt miteinander verbunden sind, sondern die so unauflösbar kausal miteinander verbunden sind wie der europäische Einigungsprozess auf der einen Seite und die deutsche Einheit auf der anderen Seite. Ohne den europäischen Einigungsprozess hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben – jedenfalls nicht friedlich  - und ohne die deutsche Einheit hätte das geteilte Europa seine Einheit nicht zurückfinden können, denn dieses Europa war mitten durch Deutschland geteilt – Ergebnis eines Weltkrieges, der von Deutschland ausgegangen, mutwillig angezettelt worden war. Wir Deutsche haben deswegen noch mehr als irgend ein anderes Land in Europa Anlass, diese historischen Kausalitäten im Auge zu behalten, und wir haben besonders schlechte Argumente, uns vor der besonderen Verantwortung zu drücken, die uns als größtem Land innerhalb dieser Europäischen Union, und als dem Hauptbegünstigten des europäischen Einigungsprozesses in der Erwartung unserer Nachbarn zukommt. Das heißt natürlich nicht, dass Deutschland alle Problem, die es in Europa gibt, für alle anderen und schon gar alleine, lösen könnte. Aber dass Deutschland bei der Lösung von gemeinsamen Problemen nicht irgendeine Rolle hat, sondern eine besondere Rolle, das ergibt sich sowohl aus der Größe, der Lage, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der politischen Stabilität unseres Landes als auch aus den historischen Kontexten, denen wir diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und diese politische Stabilität ganz wesentlich verdanken.

Ich will ein drittes Jubiläum nennen, das noch nicht in diesem Jahr ansteht: In zwei Jahren werden wir wieder über Einheit reden, wenn wir uns erinnern an 500 Jahre Reformation. Davon verstehen viele hier in dieser Kirche mehr als ich und Kardinal Kasper vermutlich mehr als wir alle zusammen. Wenn wir über 500 Jahre Reformation reden, dann reden wir über ein bedeutendes historisches Ereignis, über ein herausragendes Ereignis der Kirchengeschichte, aber zweifellos auch ein herausragendes Ereignis der europäischen Geschichte, der Kulturgeschichte, und wir reden - aus der Perspektive eines engagierten Katholiken - über eine Epoche der Kirchengeschichte, in der eine grundlegende Reform dieser Kirche ganz ohne Zweifel notwendig und überfällig war, die nach den Zielen von Martin Luther und anderer Reformatoren weder zu einer Spaltung der Kirche führen sollte noch zu dieser Spaltung hätte führen müssen. Dass es zur Reform der Kirche damals nicht, schon gar nicht sofort, wohl aber sehr bald zur Spaltung der Kirche gekommen ist, hatte mindestens so sehr politische wie religiöse Gründe. Was damals in Europa stattgefunden hat und was wir mit Entsetzen heute in anderen Teilen der Welt beobachten, war die gnadenlose Instrumentalisierung religiöser Ziele für politische Zwecke. Und auch der Augsburger Religionsfrieden war ja eine Toleranzvereinbarung unter der merkwürden Voraussetzung, dass in ein und demselben Territorium ganz gewiss nicht unterschiedliche Konfessionen zugelassen werden. Das war im Übrigen für viele der damals zahlreichen Territorialfürsten eine willkommene und schamlos genutzte Gelegenheit, sich sowohl der Autorität des Papstes wie des deutschen Kaisers zu entziehen.  Cuius regio eius religio. Ob jemand katholisch blieb oder protestantisch wurde, hatte mit dem Glauben der Leute nichts zu tun, sondern mit politischen Rahmenbedingungen. Mindestens diese Probleme haben wir heute nicht. Niemand kann das Fortdauern der Kirchenspaltung auf diese unvorteilhaften politischen Rahmenbedingungen zurückführen. Also müssen wir uns heute als Christen mit der Frage beschäftigen ob, und wenn ja, welche Gründe es gibt, die nicht nur damals die Ereignisse verursacht haben, sondern die heute die Aufrechterhaltung der Trennung rechtfertigen. Für mich gibt es solche überzeugenden Gründe nicht. Noch einmal: Ich räume sofort ein, davon verstehen andere mehr als ich, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass hier der Ehrgeiz der Theologen eine größere Rolle spielt als der Einheitswille der Christen. Darauf gründe ich im Übrigen meine Zuversicht, dass die Einheit kommt. Weil am Ende der Heilige Geist noch stärker ist als die Theologen. Aber sie kommt möglicherweise später, als sie kommen könnte und nach meiner Überzeugung auch kommen muss, zumal ich, in der Welt des 21. Jahrhunderts mit der wiederum gnadenlosen Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke, dem religiösen Fanatismus und Fundamentalismus, die Aufrechterhaltung der Kirchenspaltung für den großen Anachronismus unserer Zeit halte: eine Situation, die buchstäblich aus der Zeit gefallen ist. Weil hier Strukturen aufrecht erhalten werden, die entstanden sind, weil es Probleme gab, die damals nicht gelöst werden konnten, von denen der allergrößte Teil inzwischen, wenn ich das richtig begriffen habe, gelöst ist, aber unter Aufrechterhaltung der Strukturen, die die Folgen der damaligen Ursachen sind. Das überzeugt mich nicht, das überzeugt mich weder als politisch denkenden Menschen noch als engagierten Christen und bringt mich an den Anfang meiner Überlegungen zurück.

Was stiftet Einheit?

Mit Blick auf die politische Geschichte unseres Landes, mit Blick auf die Geschichte Europas komme ich zu keiner schlüssigeren einzelnen Antwort als dieser: Mehr noch als alle Faktoren, die ich zu Beginn genannt habe, stiftet Einheit der Wille der Menschen, einig zu werden. Ohne diesen Willen entsteht Einheit nie. Allein mit diesem Willen wohl auch nicht. Aber selbst die Ansammlung aller anderen Faktoren wird nicht reichen, wenn wir nicht eins sein wollen. Und die biblische Aufforderung: “Seid einig„ gilt halt noch immer. Wir sollen einig sein, wir sind’s nicht und wir müssen uns die Frage gefallen lassen: Können wir nicht oder wollen wir nicht? 

Marginalspalte