Parlament

Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert für den Großen Zapfenstreich anläßlich des 60. Jahrestages der Bundeswehrgründung

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Frau Bundesministerin, liebe amtierende und ehemalige Mitglieder des Bundestages, der Bundesregierung, des Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichts, Exzellenzen, Soldatinnen und Soldaten, verehrte Gäste. Morgen, am 12. November feiert die Bundeswehr den 60. Jahrestag ihrer Gründung. Heute, am 11. November, erinnern viele unserer Nachbarn an das Ende des Ersten Weltkrieges. Beide Daten haben mehr miteinander zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist.

Die vorangegangenen beiden Weltkriege mit maßgeblicher deutscher Beteiligung waren der Erfahrungshintergrund, vor dem vor 60 Jahren die Bundeswehr gegründet wurde. Am 12. November 1955 erhielten die ersten 101 Freiwilligen ihre Ernennungsurkunden als Soldaten. Die Zeremonie in einer Fahrzeughalle der Ermekeilkaserne in Bonn war denkbar bescheiden, der Leitgedanke des ersten Verteidigungsministers Theodor Blank an die Adresse der entstehenden Streitkräfte hingegen besonders anspruchsvoll – nichts weniger als, Zitat: „aus den Trümmern des Alten wirklich etwas Neues wachsen zu lassen, das unserer veränderten sozialen, politischen und geistigen Situation gerecht wird.“ Dieser Anspruch, meine Damen und Herren, der die Bundeswehr durch die folgenden Jahrzehnte begleiten sollte,  korrespondierte mit dem nicht zufällig gewählten Datum der schlichten Zeremonie: Es war der 200. Geburtstag des preußischen Militärreformers General Gerhard von Scharnhorst, der in seiner Zeit den Geist und die Strukturen des Militärs geradezu revolutionär verändert und geprägt hatte. Seine Grundsätze – Freiheit des Denkens, eigenständiges und unabhängiges Urteil, Förderung des Gemeinsinns – sollten sehr viel später auch die Grundsätze der neuen Streitkräfte sein, die des „Staatsbürgers in Uniform“, der nach dem Leitbild der „Inneren Führung“ seinen Dienst leistet. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung hatten die Streitkräfte noch keinen Namen. Konrad Adenauer sprach beim ersten Truppenbesuch im Januar 1956 die Versammelten noch als „Soldaten der neuen Streitkräfte“ an. Von der Bundeswehr war erstmals offiziell die Rede in dem am 1. April 1956 in Kraft getretenen „Soldatengesetz“.

Der Begriff selbst hat einen interessanten parlamentarischen Hintergrund – vorgeschlagen vom Bundestagsabgeordneten Hasso von Manteuffel, geht er auf einen anderen Parlamentarier zurück – den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Daniel Friedrich Gottlob Teichert. Er hatte 1848 empfohlen, der geplanten Volkswehr, die aus den vereinigten Bürgerwehren einzelner Staaten des Deutschen Bundes gebildet werden sollte, den Namen „Bundeswehr“ zu geben. 1848!

Meine Damen und Herren, der Bundeswehrgründung ging vor 60 Jahren eine politisch und gesellschaftlich äußerst emotional geführte Kontroverse um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland voraus. Die Verteidigungsministerin hat zurecht daran erinnert. Wer die damaligen Debatten im Bundestag nachschlägt, kann sowohl den Ernst wie die Leidenschaft dieser Auseinandersetzungen nachvollziehen. Im Ergebnis ist die Bundeswehr als Bündnisarmee mitten im Kalten Krieg entstanden: Ohne die damaligen innerdeutschen und internationalen politischen Verhältnisse wäre es zum Aufbau der Bundeswehr gar nicht erst gekommen und ohne die historischen Erfahrungen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hätte es die einmalige Konstruktion dieser Bundeswehr auch nicht gegeben.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee – und das nicht erst seit dem berühmten Out-of-Area-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994. Aber in dieser höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung findet sich zum ersten Mal in einem relevanten Rechtsdokument dieser Begriff, der die besondere Verbindung des Bundestages zur Armee und die besondere Abhängigkeit der Armee von parlamentarischen Entscheidungen manifestiert. Es gibt kein zweites Beispiel weltweit, in dem die Verankerung einer Armee im demokratischen Staat in einer solchen Weise parlamentarisch festgeschrieben und legitimiert ist. Denn in Deutschland entscheidet der Bundestag darüber, ob überhaupt, und wenn ja, wie viele Soldaten, an welchem Platz der Welt, welchen Auftrag wahrzunehmen haben. Keine einzige dieser Fragen kann in Deutschland von der Regierung abschließend beantwortet werden.

Umgekehrt kann das Parlament ohne Antrag der Bundesregierung auch keinen Militäreinsatz veranlassen. Und auch hier haben wir wieder eine der beachtlichen Balancen unserer Verfassung und unserer Verfassungswirklichkeit von Einflüssen und Verantwortlichkeiten. Und es ist natürlich nicht nur ein formaler Unterschied, ob Beschlüsse, die buchstäblich über Leben und Tod entscheiden können, allein von einer Regierung getroffen werden oder die breite demokratische Legitimation eines Parlaments und damit der Vertretung des Volkes haben, in der alle relevanten politischen Gruppierungen mit ihren jeweiligen Lebenserfahrungen und Einschätzungen zu Wort kommen.

Dass die Bundeswehr ihren 60. Geburtstag an diesem historischen Ort feiert, vor dem Reichstagsgebäude, hier, wo das wichtigste politische Forum unserer Nation tagt, ist Ausdruck dieser tiefen – ebenso beispiellosen wie beispielhaften – Verbundenheit von Bundeswehr und Bundestag. Der hohe Stellenwert unserer Streitkräfte und der Sicherheitspolitik im Deutschen Bundestag lässt sich schon daran ermessen, dass der Verteidigungsausschuss zu den wenigen Ausschüssen mit Verfassungsrang gehört. Auch das Amt des Wehrbeauftragten zeigt, wie wichtig das Thema für die Legislative ist. Der statistische Blick in unsere Tagesordnungen ist im Übrigen aufschlussreich: Die Bundeswehr war alleine seit 1990, also in den letzten 25 Jahren, Gegenstand von mehr als 400 parlamentarischen Anträgen, 110 Gesetzesvorlagen und nicht weniger als 39 Regierungserklärungen.

Meine Damen und Herren,

die Aufgaben und Strukturen unserer Armee haben sich seit ihrer Gründung tiefgreifend verändert. Wie nur wenige andere Institutionen stand sie vor der beinahe permanenten Aufgabe, ihren Auftrag den politischen Rahmenbedingungen anzupassen und immer wieder weiterzuentwickeln: „Aus den Trümmern des Alten Neues wachsen zu lassen.“ Reformprozesse waren und sind bei der Bundeswehr fast der Regelfall. Und die Bundeswehr stellt sich diesen Herausforderungen mit hoher Professionalität, mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein und der notwendigen Besonnenheit.

Den wohl größten Einschnitt stellte auch für die Bundeswehr die deutsche Einheit vor 25 Jahren dar. Es war ein außergewöhnlicher Kraftakt, den die Bundeswehr als gesamtdeutsche Armee auf dem Weg zur „Armee der Einheit“ stemmen musste. Dafür gab es naturgemäß kein Drehbuch. Dass es aber gelungen ist, eine komplette, hochgerüstete Armee der früheren DDR beinahe geräuschlos aufzulösen und Teile in die Bundeswehr zu integrieren – und dies bei Anwesenheit von zigtausenden Soldaten einer im eigenen Land stationierten Besatzungsarmee – das ist in der Geschichte beispiellos. Die Bundeswehr hat die innere Einheit am schnellsten vollzogen und ist damit ein leuchtendes wie ermutigendes Beispiel für die ganze Gesellschaft.

Nach der Aussetzung der Wehrpflicht befindet sich die Bundeswehr inmitten der größten Reform seit ihrer Gründung – einer Reform, die notwendig ist, um die Streitkräfte zukunftsfähig zu halten. Gerade die Auslandseinsätze haben nicht nur neue Aufgaben für unsere Soldatinnen und Soldaten mit sich gebracht, sondern stellen auch die Bundeswehr insgesamt vor neue Herausforderungen. Seit 1992 befindet sich die Bundeswehr ununterbrochen im Auslandseinsatz und stellt in der NATO wie in der Europäischen Union inzwischen mit die größten Truppenkontingente. Daran lässt sich im Übrigen auch erkennen, wie sich die Rolle des wiedervereinigten Deutschland in der Welt in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Unser Land stellt sich der gewachsenen Verantwortung, die die internationale Gemeinschaft von uns erwartet. Dass wir Verantwortung übernehmen, wenn es sein muss auch militärisch, ist einer der Lehren aus unserer Geschichte. Wir sind uns bewusst: Freiheit ist ein Zustand, der nur solange Bestand hat, wie diejenigen, die ihn für eine Errungenschaft halten, dafür zu kämpfen bereit sind.

Mehr als 380.000 Soldatinnen und Soldaten sind bisher an Auslandseinsätzen beteiligt gewesen, viele davon mehrfach. Dabei haben 116 Soldatinnen und Soldaten ihr Leben verloren – und in den sechs Jahrzehnten sind insgesamt rund 3.200 militärische und zivile Angehörige der Bundeswehr in der Ausübung ihrer Dienstplichten gestorben. Wir werden ihnen ein ehrendes Gedenken bewahren. Die Gedenkstätte im „Wald der Erinnerung“ bei Potsdam und das Ehrenmal im Bendlerblock sind ein wichtiger und richtiger Ausdruck der Anerkennung der Gesellschaft für die Bundeswehr.

Besondere Anerkennung verdient der Beitrag der Bundeswehr zur Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise. Bislang sind schon nicht weniger als 6000 Soldaten an mehr als 80 Standorten dauerhaft zur Versorgung, Verteilung und Unterbringung von Flüchtlingen eingesetzt, rund 500 von ihnen sind zur Unterstützung anderer Behörden mit der Registrierung und Erfassung der Neuankömmlinge betraut. Mehrere hundert weitere Soldaten stehen als „helfende Hände“ ständig in Reserve, um den Städten und Landkreisen kurzfristig beim Aufbau neuer Flüchtlingsunterkünfte zu helfen. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern übersteigt längst alle Dimensionen, die bislang aus der Katastrophenhilfe, etwa bei Überflutungen oder nach Stürmen, bekannt waren. Im Augenblick sind in Auslandseinsätzen nur halb so viele Soldaten gebunden wie in der Flüchtlingshilfe im Inland.

Meine Damen und Herren,

die Bundeswehr dient Deutschland und unserer demokratischen Ordnung seit 60 Jahren in vorbildlicher Weise. Daher nutze ich gerne diesen Anlass, Ihnen, Frau Bundesministerin der Verteidigung, stellvertretend auch für alle Ihre Vorgänger im Amt, den Dank und den Respekt des Deutschen Bundestages für diese stolze Erfolgsgeschichte zum Ausdruck zu bringen. Und ich schließe in diesen Dank alle Soldatinnen und Soldaten ein, von denen viele ihr ganzes Berufsleben dieser Aufgabe gewidmet haben. Einbeziehen will ich an dieser Stelle auch alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in einer besonderen Weise dieser unser Bundeswehr angenommen haben. Denn der Begriff „Parlamentsarmee“ ist mehr als eine Floskel, er macht vielmehr deutlich: Das Parlament kann sich auf die Bundeswehr- und die Soldatinnen und Soldaten können sich auf ihr Parlament verlassen. Wir haben unterschiedliche Aufträge und eine gemeinsame Verantwortung. Wir wollen und wir werden sie auch in Zukunft gemeinsam wahrnehmen.

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