Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert im Parlament von Albanien am 22. April 2016
Sehr geehrter Herr Präsident, Herr Ministerpräsident, liebe Kolleginnen und Kollegen des Parlamentes, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
es ist eine große Freude für mich, wieder einmal in Albanien zu sein, und eine besondere Ehre, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Das ist schon mein vierter Besuch in Albanien in meiner Amtszeit als Parlamentspräsident. Allein aus dieser Häufigkeit und Regelmäßigkeit meiner Besuche können Sie nicht nur ein ausgeprägtes persönliches Interesse an Ihrem Land, seiner Geschichte, seiner Kultur und seinen Traditionen erkennen, sondern dies ist natürlich auch Ausdruck von intensiven Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, zu denen erfreulicherweise in den letzten Jahren auch immer intensivere Beziehungen zwischen unseren beiden Parlamenten gehören. Ich freue mich, dass es tatsächlich gelungen ist, was wir uns vor einigen Jahren vorgenommen hatten, die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen unseren Parlamenten, zwischen Ausschüssen, zwischen unterschiedlichen Gremien zu entwickeln und zu intensivieren. Ich habe keinen Zweifel, dass das auch in Zukunft weiter der Fall sein wird. Möglich geworden ist diese Entwicklung durch die Veränderung in Albanien, die mit den ersten freien Wahlen vor 25 Jahren begonnen hat - deswegen ist die Erinnerung an diese Wahlen vor 25 Jahren eine gute Gelegenheit, sich auch gemeinsam der Prinzipien zu vergewissern, die das Verhältnis unserer Länder zueinander prägen sollen und ganz sicher das Verhältnis unserer beiden Parlamente zueinander bestimmen müssen.
25 Jahre, das ist - gemessen an der Landesgeschichte Albaniens oder an der europäischen Geschichte - natürlich eine sehr kurze Zeitspanne. Aber 25 Jahre, das ist gemessen an der Demokratiegeschichte Europas nun wiederum eine vergleichsweise lange Zeitspanne. Deswegen möchte ich gerne diese Gelegenheit, heute einige Anmerkungen zu den Beziehungen zwischen unseren beiden Länder und unseren beiden Parlamenten machen zu können, mit einem Hinweis auf die deutsche Demokratiegeschichte beginnen.
Der erste Versuch in Deutschland, eine Demokratie zu etablieren, ist nach ganzen 13 Jahren gescheitert. Die sogenannte Weimarer Demokratie, nach dem 1. Weltkrieg errichtet und mit einer bemerkenswerten Verfassung verbunden, was die geschriebenen Regeln dieser Verfassung betrifft, hat nicht einmal das Volljährigkeitsalter erreicht. Unter Historikern ist heute unstreitig, dass unter den vielen Gründen, die zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie beigetragen haben, der wahrscheinlich wichtigste einzelne Grund das mangelnde Engagement der Demokraten war. Die erste deutsche Demokratie ist daran gescheitert, dass sie zu viele Gegner und zu wenige Verteidiger hatte und dass diejenigen, die für diesen Staat, für diese Demokratie verantwortlich waren, die Rivalität untereinander für wichtiger gehalten haben als die Sicherung demokratischer Strukturen für das ganze Land. An dieser auf Dauer gesetzten Rivalität, an der Unfähigkeit zum Konsens, an der Verweigerung des Kompromisses ist nicht nur eine Demokratie gescheitert, was tragisch genug ist, sondern sie ist damit die Voraussetzung für das entsetzlichste Regime geworden, das nicht nur auf deutschem Boden je bestanden, sondern in Europa jemals existiert hat.
Es gibt inzwischen auch in Deutschland niemanden mehr, der persönliche Erfahrungen, biographische Erfahrungen an diese Zeit hat, aber die traumatische Erfahrung des Scheiterns einer deutschen Demokratie und ihrer entsetzlichen Folgen, ist tatsächlich in den genetischen Code unseres Landes und unseres Volkes eingegangen. Daraus ist nicht nur ein anderes Verfassungsverständnis gewachsen, sondern ein anderes Verständnis vom notwendigen Umgang von Demokraten miteinander. Und ein anderes Verständnis von der notwendigen Balance zwischen Konkurrenz und Konsens, zwischen Konflikt und Kompromiss, zwischen Interessen und Überzeugungen.
Wir haben schlimme Erfahrungen gemacht, was passiert, wenn Interessen, die immer legitim sind, für noch wichtiger gehalten werden als die Grundsätze, auf denen ein Land in seiner Verfassung die eigenen Verhältnisse begründet hat. Wir haben lernen müssen, aber glücklicherweise verstanden, dass die Bereitschaft zum Kompromiss die unverzichtbare Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit eines demokratischen Systems ist. Das ist übrigens auch in Deutschland heute nach wie vor nicht immer ein alltägliches Vergnügen: selbstverständlich stehen auch hier miteinander konkurrierende Parteien und Gruppierungen ständig unter der Erwartung ihrer Anhänger und ihrer Wähler, eine möglichst „klare Kante“, eine möglichst unmissverständliche Position zu beziehen. Und es ist ja auch eine ganz natürliche Bewegungskraft des politischen Systems, dass die jeweilige Minderheit zur Mehrheit werden möchte und mit der Mehrheit dann die Gestaltungsmöglichkeiten, die Voraussetzung für die Umsetzung eigener Überlegungen und Überzeugungen ist.
Gerade weil wir in Deutschland möglicherweise exemplarische Erwartungen gemacht haben, die nach der einen wie nach der anderen Seite extremer gewesen sind als in vielen anderen europäischen Ländern, richtet sich auch die verständliche besondere Aufmerksamkeit vor allem von sogenannten Transformationsstaaten auf Erfahrungen, die wir gemacht haben, von denen man hofft, sie vielleicht auch für die eigenen Veränderungsabsichten nutzen zu können. Ich nutze jedenfalls immer jede Gelegenheit, zuhause wie im Ausland darauf aufmerksam zu machen, dass das, was eine Demokratie qualifiziert, nicht die Geltung des Mehrheitsprinzips ist, sondern das Vorhandensein von Minderheitsrechten. Dass Mehrheiten sich am Ende durchsetzen, ist eine vergleichsweise banale Tatsache. Das, was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist der Umstand, dass Mehrheiten nicht beschließen können, was sie wollen, sondern dass es unentziehbare Minderheitenrechte gibt und dass Voraussetzung für den notwendigen Wechsel der Respekt für diese jeweiligen Ansprüche und ihre Begrenzungen ist. Das bleibt ein schwieriges Unterfangen, weil sie sich im Übrigen natürlich leichter als Postulat formulieren, denn in einem konkreten politischen Alltagsgeschäft umsetzen lassen. Aber gerade solche Ereignisse wie die Erinnerung an 25 Jahre parlamentarische Demokratie in Albanien und in manchen anderen der Länder, die sich damals auf den Weg nach Europa gemacht haben, sind auch ein besonders guter Anlass, sich solcher gemeinsamer Überzeugungen zu erinnern.
Ich möchte Ihnen meinen Respekt sagen zu manchen bemerkenswerten Entwicklungen und Veränderungen hier in Albanien, die in den vergangenen Jahren stattgefunden haben. Mich beeindruckt beispielsweise sehr, dass es hier in Albanien im Verhältnis der Religionen und der Konfessionen untereinander ein beachtlich höheres Maß an Toleranz und wechselseitigem Verständnis gibt, als ich das in manch anderen europäischen Ländern beobachte - und sie sehen mir hoffentlich den ganz subjektiven Eindruck nach, dass ich gelegentlich den Eindruck habe, dass im Verhältnis der politischen Gruppierungen untereinander diese Toleranz nicht ganz so ausgeprägt ist, wie das mit Blick auf die Religionsgemeinschaften in ihrem Land zu beobachten ist.
Das, was hier in den vergangenen Jahren stattgefunden hat, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, auch in immer stärkeren Maße an europäischen Institutionen und Entwicklungen teilzuhaben. Das hat schon 1991 mit der Aufnahme in die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, begonnen. Es hat sich 1995 mit der Mitgliedschaft im Europarat fortgesetzt und im Jahr 2009 mit der Mitgliedschaft in der NATO einen ersten Höhepunkt und demonstrativen Ausdruck gefunden. 2014 hat es dann schließlich den Kandidatenstatus für die Europäische Union gegeben, womit nicht nur ihr Land zum Ausdruck bringt, dass es dieser europäischen Staatengemeinschaft angehören will, sondern umgekehrt auch die Europäischen Union unmissverständlich ihre Bereitschaft erklärt hat, Albanien zu einem Mitglied dieser Gemeinschaft zu machen. An dieser wechselseitigen Absicht ist nach meinem Eindruck kein Zweifel erlaubt, weder aus der Sicht und Perspektive ihres Landes noch aus der Perspektive der Gemeinschaft, aber ein Tag wie heute ist auch eine gute Gelegenheit, sich daran zu erinnern, dass dies kein Automatismus, sondern eine wechselseitige Absicht ist, deren Verwirklichung an Voraussetzungen geknüpft ist, die geschaffen werden müssen. Da Sie wissen, welche Erwartungen und welche Voraussetzungen bestehen, muss ich sie hier nicht vortragen. Es wird hier wie in vergleichbaren Fällen früher auch regelmäßige sogenannte Fortschritts-und Entwicklungsberichte der Europäischen Kommission geben, die den gegenwärtigen Mitgliedsstaaten die Gelegenheit geben, einen Eindruck von der tatsächlichen Umsetzung dieser Entwicklung zu gewinnen, und Sie wissen wie ich, dass es da noch eine beachtliche Wegstrecke zu gehen gilt und dass die Umsetzung einer Justizreform, die die Unabhängigkeit der Justiz auch und gerade gegenüber den politischen Instanzen sicherstellt – sicherstellt, nicht ankündigt - eine dieser nichtverhandelbaren Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist.
Und ich will Ihnen im Übrigen – weil ich in meiner Amtszeit manche Beitrittsverhandlungen und dann auch vollzogene Beitritte und deren Folgen miterlebt habe – eine tiefsitzende Frustration nicht vorenthalten, von der ich mir fest vorgenommen habe, sie nie wieder stattfinden zu lassen. Dass nämlich irgendwann ein Zustand bei Beitrittsverhandlungen erreicht ist, wo das verständliche Drängeln des Beitrittskandidaten, die Mitgliedschaft nun tatsächlich zu vollziehen, in einem gewissen Konflikt mit einem Rest an noch nicht erledigten Aufgaben steht, die dann aber mit dem ausdrücklichen Hinweis versehen werden, diese und jene noch ausstehende Reform lasse sich als Mitglied innerhalb der Europäischen Union sehr viel eher realisieren, als ohne Mitglied zu sein. Wir haben diesen Versuch unternommen - er ist eindrucksvoll gescheitert, und wir wissen inzwischen, was wir damals geahnt haben: Dass Reformen, die vor der Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht zustande kommen, warum auch immer, nach Erreichen der Mitgliedschaft auch nicht zustande kommen, schon gar nicht leichter zustande kommen. Und für Albanien gilt im Übrigen wie für manche andere Länder auch: Die Europäische Union befindet sich in einer nicht ganz einfachen Situation. Es ist eine Staatengemeinschaft und kein Staat, deren eigene Entwicklung wiederum auf der Kompromissfähigkeit und Konsensfähigkeit von 28 selbständigen Staaten beruht und bei der insofern das Interesse zur Erweiterung um weitere Mitglieder eher begrenzt als stark ausgeprägt ist. Das macht die Ansprüche eher größer als kleiner für weitere Mitgliedstaaten. Ich ganz persönlich sehe überhaupt nur eine sehr, sehr begrenzte Zahl von Ländern, die ich mir in überschaubarer Zukunft überhaupt als Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft vorstellen kann. Albanien ist eines der wenigen Länder, die ich mir unter diesem Gesichtspunkt vorstelle, von dem ich mir sehr wünsche, dass in einem möglichst zügigen, aber auch konsequenten Reformprozess nun das Abarbeiten der vereinbarten Voraussetzungen beginnt, die Grundlage für Beitrittsverhandlungen und am Ende dann hoffentlich für den Beitritt in der Europäischen Gemeinschaft sind, womit dann noch einmal die ohnehin besonders engen ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen zwischen unseren Ländern eine ganz neue Perspektive und Dimension gewinnen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, es gibt im nächsten Jahr aus deutscher Sicht ein etwas unangenehmes Jubiläum, das aber auch an ein weiteres gemeinsames Interesse unserer beiden Länder erinnert: das in beiden Ländern ausgeprägte Interesse am Fußball. Im nächsten Jahr – 2017 – jährt sich zum 50sten Mal eines der denkwürdigsten Spiele, das die deutsche Fußballnationalmannschaft jemals absolviert hat und das in der deutschen Sportgeschichte als die „Schmach von Tirana“ verzeichnet ist. Damals, 1967, ist zum ersten und zum einzigen Mal eine deutsche Fußballnationalmannschaft auf ihrem Weg in eine Fußballeuropameisterschaft gescheitert, ausgerechnet an Albanien. Umso ermutigender ist der Umstand, dass in diesem Jahr bei einer Fußballeuropameisterschaft nicht nur glücklicherweise auch die deutsche Mannschaft vertreten ist, sondern zum ersten Mal auch Albanien im Turnier vertreten ist. Sie werden nach den traumatischen Erfahrungen von damals Verständnis haben, dass ich mir eine Begegnung mit Ihrer Mannschaft wenn eben möglich erst im Finale vorstellen möchte. Jedenfalls nehme ich den Umstand, dass wir uns auf den Fußballplätzen in Frankreich in wenigen Wochen im sportlichen Wettkampf begegnen werden, als besonders gutes Indiz für die Perspektiven der Zusammenarbeit auf möglichst vielen Feldern in den nächsten Jahren. Deshalb danke ich Ihnen, Herr Präsident, noch einmal herzlich für Ihre freundliche Einladung, und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, für Ihr Interesse. Ich freue mich auf viele weitere Begegnungen hier in Albanien oder in Deutschland, seien sie in Berlin herzlich willkommen.