10.11.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Tode des ehemaligen MdB und MdEP Werner Schulz am 9. November 2022

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern verstarb das frühere langjährige Mitglied des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments Werner Schulz im Alter von 72 Jahren. Wir trauern mit seiner Witwe Monika Schulz und seinen Angehörigen. Wir sind tief bestürzt über diesen großen Verlust. Sein Tod kam plötzlich und viel zu früh.

Der DDR-Bürgerrechtler und spätere Grünenpolitiker verstarb während einer Veranstaltung im Schloss Bellevue mit dem Titel „Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen“. Ausgerechnet am 9. November endete sein Leben. Werner Schulz hatte sich dafür eingesetzt, dieses Datum, das auch der Tag des Mauerfalls ist, zum Nationalfeiertag unseres wiedervereinigten Landes zu machen.

Werner Schulz stand für seine Überzeugungen ein. Aufrichtig und mutig. Oft unbequem und gegen den Strom. Mit scharfer Zunge und klarem Blick. Und immer der freiheitlichen Demokratie verpflichtet.

Für seinen jahrzehntelangen Einsatz für die Demokratie und für die Opposition in Russland wurde er im Juni mit dem Deutschen Nationalpreis geehrt. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sagte in seiner Laudatio über Werner Schulz - ich zitiere -:

Sein Leben hat ihn gelehrt, dass unsere Ängste nicht das letzte Wort haben dürfen, wenn wir tun, was wir tun müssen.

1968, als Panzer den Prager Frühling niederwalzten, war Werner Schulz gerade 18 Jahre alt. Um in der DDR studieren zu dürfen, musste er seine Sympathien für den Prager Frühling verleugnen. Schriftlich. Er unterzeichnete eine Resolution, die den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen befürwortete.

Dieses Handeln gegen die eigene Überzeugung prägte ihn. Er vergaß es nie. Diesen Schmerz wollte er nicht noch einmal erleben. Er wollte seinen Werten und der Wahrheit verpflichtet handeln.

Dieser Anspruch führte ihn in die Opposition. Seit den 1970er-Jahren engagierte er sich in der kirchlichen Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung. Sein Name wird mit der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung unseres Landes verknüpft bleiben. Seit 1982 engagierte er sich im Pankower Friedenskreis - dem ersten unabhängigen Friedenskreis unter dem Dach der Kirche.

1989 kritisierte er offen die gefälschten Kommunalwahlen und wurde Mitbegründer des Neuen Forums, das er sechsmal am Zentralen Runden Tisch der DDR vertrat. Während des Wiedervereinigungsprozesses setzte er sich für eine neue Verfassung nach Artikel 146 Grundgesetz ein.

Werner Schulz war Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR und des ersten Bundestags, der aus gesamtdeutschen Wahlen hervorging. In diesem Bundestag war er Sprecher der acht ostdeutschen bündnisgrünen Abgeordneten. Er war Mitbegründer von Bündnis 90 als Partei und ein Motor der Vereinigung mit den westdeutschen Grünen 1993.

Als Bundestagsabgeordneter und später als Abgeordneter des Europäischen Parlaments erhob er immer wieder und frühzeitig die Stimme für Freiheit und Demokratie. Manche seiner Positionen - wie zu Militärinterventionen in Bosnien oder zu Waffenlieferungen an die Ukraine - fanden erst später Zustimmung.

Er vergaß nie die Unterstützung der westdeutschen Grünen für die demokratische Opposition in der DDR vor 1989. Als er 2006 in Sankt Petersburg die Journalistin Anna Politkowskaja kennenlernte und von ihr über die Repressionen in Russland erfuhr, erinnerte er sich an diese Hilfe und unterstützte seitdem die russische Opposition.

Früher als andere, früher als die meisten von uns, sah er Putins Gefährlichkeit und Skrupellosigkeit sehr klar. Als Putin 2001 hier im Deutschen Bundestag sprach, verließ er vorzeitig das Plenum. Schon vor Jahren kritisierte er, dass die westliche Staatengemeinschaft Russlands aggressivem Imperialismus entschieden Einhalt hätte gebieten müssen und die Ukraine stärker schützen müsste.

Im Frühjahr sagte Werner Schulz in einem Interview:

Zur Demokratie gehört Zivilcourage, sich nicht zu verbiegen und sich nicht anzubiedern.

Seine Haltung und seine Unabhängigkeit machten ihn - über Parteigrenzen hinweg - zu einem hochgeschätzten Politiker und Menschen.

Dieser mutige und aufrichtige Kämpfer für die freiheitliche Demokratie wird unserem Land fehlen.

Ich möchte Sie nun bitten, sich für eine Schweigeminute als Zeichen unserer Dankbarkeit und unserer Trauer um Werner Schulz von den Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

- Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

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