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Rede zum 50. Jubiläum der Otto Brenner Stiftung (OBS) in Frankfurt am 26.11.2022

[Es gilt das gesprochene Wort.]


Sehr geehrter Herr Hofmann, 
Sehr geehrter Herr Legrand, 
Sehr geehrte Frau Pinkall, 
sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

erst einmal: Herzlichen Glückwunsch zu 50 Jahren Otto Brenner-Stiftung. 

Heute spreche ich zu Ihnen nicht nur als Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sondern auch als überzeugte Gewerkschafterin. 
Es freut mich sehr, mit Ihnen und Euch auf 50 Jahre Otto Brenner Stiftung zurück zu blicken.
Auf eine Geschichte, an deren Anfang ein zu frühes Ende stand. Und eine zukunftsweisende Entscheidung. 

Am 15. April 1972 starb Otto Brenner, mit nur 64 Jahren. Statt ihm mit „Kranz- und Blumenspenden“ zu gedenken, wählte man einen weitsichtigeren Weg: 

Die Gründung der Otto Brenner Stiftung. 
Als Wissenschaftsstiftung der IG Metall trägt sie sein Vermächtnis in die Zukunft. 
Seit einem halben Jahrhundert. 

Auf der Trauerfeier sprach auch Bundeskanzler Willy Brandt. Er würdigte Otto Brenner als einen „der großen Gewerkschaftsführer unseres Landes“. Zitat Ende.

Das war Otto Brenner zweifelsohne: 
„Sein Name ist mit allen wichtigen politischen und sozialen Kämpfen der Nachkriegszeit verbunden.“ Zitat Ende

So beschrieb es Werner Thönessen, sein langjähriger Pressechef.

Brenner war ein visionärer Demokrat. 
Ein sozialer Demokrat, der als Jugendlicher den Aufbruch in die Republik von Weimar erlebte. 

Der Zeuge wurde, wie diese junge Republik immer weiter aus dem Gleichgewicht kam – erschüttert durch Krisen, zerrissen durch innere Konflikte. 
Und wie sie schließlich in den Abgrund der NS-Diktatur und des Krieges taumelte. 
Zwei Jahre zwangen ihn die Nationalsozialisten in Haft.

Diese Erfahrungen machten Otto Brenner zu einem entschlossenen Streiter für den demokratischen Neuanfang in der Bonner Republik. 

20 Jahre stand er an der Spitze der IG-Metall, der mitgliederstärksten Einzelgewerkschaft im DGB. 

Für Otto Brenner war Demokratie immer mehr als ein „formales Prinzip“. 
Er sah sie als „reale Kraft, die mehr und mehr alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen muss“. Zitat Ende. 

Das hieß für ihn, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu verbessern.  

Für Otto Brenner war politische Teilhabe nur auf Basis sozialer Teilhabe möglich. 
Der Mensch sollte nicht „Spielball“ der herrschenden Kräfte sein. 
Sondern selbst „handelnde Kraft“ werden, 
die Zukunft in die eigenen Hände nehmen. 

Er sollte frei sein und mitbestimmen – in allen Bereichen des Lebens.
Sehr geehrte Damen und Herren, 

in den vergangenen fünf Jahrzehnten hat sich die Otto Brenner-Stiftung dem Ziel gewidmet, diese Vision in Ehren zu halten: 
Die Vision einer umfassenden Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Immer gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch damit knüpfte die Stiftung unmittelbar an das Vorbild Otto Brenners an. 

In seinem „Brain Trust“ versammelte Brenner einen ausgesuchten Kreis von Fachleuten – gewissermaßen seine gewerkschaftseigene Ideenschmiede. 

Konsequent pflegte er den engen Kontakt mit führenden Köpfen der Wissenschaft. 
Damals wie heute keine Selbstverständlichkeit.

Der Sozialwissenschaftler Eugen Kogon schrieb in einer Festschrift zu Brenners 60. Geburtstag im Jahr 1967 über uns Abgeordnete:  
„Die allermeisten von ihnen sind zur Zeit nichts als Pragmatiker von Ereignis zu Ereignis, von Zustand zu Zustand.“ Zitat Ende.

Offenbar gab es auch damals den Wunsch nach Entscheiderinnen und Entscheidern, die sich nicht nur von den Umständen der Zeit treiben lassen. 
Nach einer Politik, die in langen Bahnen denkt. 
Nach Politikerinnen und Politkern mit einem offenen Ohr für die wissenschaftliche Debatte. 
Schon damals zeigte sich: Je komplexer die Herausforderungen, umso mehr brauchen wir die Expertise und den Rat der Wissenschaft. 
Otto Brenner wusste das früh.

Vorauszudenken war für ihn essentiell.   
In Mitbestimmungsfragen. 
Beim Thema Automation und den Folgen technischer Neuerungen für die Arbeitswelt. 
In Fragen der Kernenergie. 
Und auch beim Konflikt zwischen Wirtschaft und Umwelt. So fragte Brenner in einem Grundsatzreferat:
„Aber muss auf diese Weise produziert werden? Hat es Sinn, die unablässige Vermehrung des Reichtums damit zu bezahlen, dass wir im Wohlstandsmüll versinken und in einer verseuchten Welt leben müssen?“ Zitat Ende.
Das Zitat stammt aus dem Jahr 1971. 

Also noch bevor der Club of Rome – im Folgejahr – seinen Bericht zu den Grenzen des Wachstums vorstellte. 

Ich erinnere daran auch deshalb, weil wir im Kampf gegen den Klimawandel zu langsam vorankommen. 
Im Pariser Klimaabkommen haben wir uns auf das 1,5 Grad Ziel verständigt. 
Aktuell steuern wir auf eine Erderwärmung von mehr als 2 Grad zu. 

Die Folgen wären verheerend. 
Was sie bedeuten, bekommen wir gerade erst zu spüren. 
Wir dürfen den Klimawandel nicht ausblenden. 
Auch nicht angesichts des Ukrainekriegs und seiner Folgen. Wir müssen den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft jetzt nach Kräften vorantreiben. Sonst schaffen wir es nicht mehr, die Lebensgrundlagen unserer Zivilisation zu bewahren. 
Es ist höchste Zeit!

Sehr geehrte Damen und Herren, 

Otto Brenner war auf der Höhe der Zeit– und manchmal ihr weit voraus. 
Genau wie die nach ihm benannte Stiftung. 

Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, als es um die Fortentwicklung des Arbeitsrechts ging. 
Auch nach der Wiedervereinigung leistete  die Stiftung Pionierarbeit. Sie legte einen Schwerpunkt auf das Zusammenwachsen der Lebens- und Arbeitswelten von Ost und West. 

Ihre Studien veränderten den Blick auf die Beschäftigten in den – damals neuen – Bundesländern. 
Über die 2008 gegründete „Stiftung neue Länder“ unterstützt sie zum Beispiel junge Menschen, Migrantinnen und Migranten oder Langzeitarbeitslose bei Ausbildung und Arbeitssuche. 

Junge Menschen brauchen Perspektiven. 
Sie müssen ihre Talente entfalten können 
und die Chance erhalten, durch Bildung und Arbeit aufzusteigen. 
Das ist auch im Interesse unserer Gesellschaft. Vor allem wenn es darum geht, Umbrüche zu bewältigen und Transformation zu gestalten.

Umwälzungen, wie sie auch unsere östlichen Nachbarn in der Nachwendezeit durchlebt haben.
Die Otto Brenner Stiftung hat diese Transformation aktiv unterstützt. 
Gerade mit ihren Mittelosteuropa-Konferenzen bot sie ein wichtiges Forum für den Austausch. 

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn ist. 

Er führt uns schmerzhaft vor Augen, dass wir besser auf unsere Nachbarn hätten hören sollen. 
Angesichts der Krisen unserer Zeit, brauchen wir die internationale Solidarität der Demokratinnen und Demokraten. 

Ob es um unsere internationale Sicherheitsordnung geht oder um die Neuausrichtung der Weltwirtschaft. 
Um ein stabiles Klima und intakte Ökosysteme – mit einer lebendigen Artenvielfalt. 
Oder den Kampf gegen Hunger und Armut.

Wohin Entsolidarisierung führt, konnten wir in den 1990er Jahre sehen. 
Einer Zeit, in der sich die Fallstricke der Globalisierung zeigten. 
Einer Zeit im Zeichen von Neoliberalismus und Deregulierung.
Für die Gewerkschaften waren das keine einfachen Jahre. 
Diese Jahre haben den Sozialstaat – und auch die Sozialdemokratie – verändert. 
Viele Fragen ergeben sich aus den gesellschaftspolitischen Weichenstellungen von damals. Bis hin zur Bürgergeld-Diskussion.

Die Otto Brenner Stiftung hat diese Entwicklungen kritisch begleitet, Schieflagen angeprangert und mit ihren Mitteln dagegengehalten. Sie war immer eine wichtige Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs. 

Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt sozial und demokratisch zu gestalten. Das war Otto Brenner ein zentrales Anliegen. 
Nach wie vor sind die Teilhabechancen in unserer Gesellschaft ungleich verteilt. Von den globalen Ungerechtigkeiten ganz zu schweigen. 

Nach wie vor entscheiden Bildungshintergrund und soziale Herkunft zu stark darüber, wie gut Menschen sich in unserer Demokratie politisch einbringen können. 

Das dürfen wir nicht hinnehmen. 

Teilhabe ist in einer Demokratie ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger. 
Und noch mehr als das: erst eine breite Teilhabe macht eine Demokratie stark und lebendig. 

Eine Demokratie braucht ihre Bürgerinnen und Bürger. 
Als Demokratinnen und Demokraten ist es deshalb unsere Pflicht, möglichst allen gleiche Chancen zu bieten, dieses Recht auch wahrnehmen zu können. 

Nach wie vor gilt betriebliche Mitbestimmung vielen Arbeitgebern als Störfaktor, bestenfalls als notwendiges Übel. 

Dabei ist sie ein Erfolgsfaktor – für unsere Betriebe aber auch für unsere Demokratie als Ganzes. 

Für eine soziale Demokratie zu kämpfen, heißt immer auch für Mitbestimmung zu streiten! 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
seit Ende der 1990er widmete sich die Stiftung verstärkt auch einer anderen Gefahr für unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft: 
Der Bedrohung von rechts außen. 

Seit 1990 hat rechtsextreme Gewalt in Deutschland eine dreistellige Zahl von Todesopfern gefordert. 

Elf Jahre ist es her, dass sich der NSU selbst enttarnte. 
Vor dreißig Jahren brannte das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. 

Mölln, Solingen, Halle, Hanau – vier Ortsnamen, die für viele weiterer Hassverbrechen stehen.

Allein im vergangenen Jahr verzeichneten die Behörden mehr als 20.000 rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten.

Jedes dieser Verbrechen muss uns zutiefst beschämen.

Die dahinter steckenden Ideologien – Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus – findet sich keineswegs nur an den gesellschaftlichen Rändern. 

Das haben nicht zuletzt Studien deutlich gemacht, die unter Beteiligung der Otto Brenner-Stiftung entstanden sind. 

Wie die Leipziger Autoritarismus-Studien. 
Die neueste Studie ist diesen Monat erschienen. Sie verweist auch auf positive Entwicklungen:
Ich zitiere: „Der ‚harte Kern‘ antidemokratischer Milieus wurde kleiner, die Zahlen belegen eine starke Abnahme des Personenkreises mit geschlossen rechtsextremem Weltbild, insbesondere in Ostdeutschland.“ Zitat Ende. 

Grund zur Entwarnung ist das keinesfalls: Ausländerfeindliche Aussagen treffen in Westdeutschland bei jedem zehnten Menschen auf Zustimmung.  
Im Osten – bei steigender Tendenz – sogar bei jedem Dritten.
Auch dieses düstere Bild zeigt die Studie. 
Hinzu kommt: Führende Köpfe der extremen Rechten versuchen seit Jahren, ihren Einfluss auf Kultur und Zivilgesellschaft auszubauen. 

Wir müssen wachsam bleiben. 
Und nach Kräften dagegen halten. 
Das Grundversprechen unserer Verfassung gilt:  Die Würde des Menschen ist unantastbar! 
Jede und jeder muss sich bei uns sicher und respektiert fühlen können. 

Menschenfeindliche, rassistische oder antisemitische Äußerungen sind nie legitim! 

Sie haben auf Straßen und Schulhöfen nichts zu suchen, 
nicht in Zeitungskolumnen und Internetforen. 
Und auch nicht im Deutschen Bundestag.
Wir müssen wachsam bleiben, Zivilcourage an den Tag legen und fördern. Wir müssen unsere Demokratie verteidigen.

Die Otto Brenner Stiftung trägt dazu noch in einer weiteren Form bei: 
Sie hat ein Auge darauf, wie sich die demokratische Öffentlichkeit und insbesondere der Journalismus verändern. 

Die Sphäre politischer Diskussion ist zersplittert. Sie zerfällt in immer kleinteiligere Teilöffentlichkeiten, zerstritten im Kampf um Aufmerksamkeit und Zustimmung, 
um Reichweite und Marktanteile. 

Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, umso mehr prägt sie auch unseren Blick auf das Politische. 

Um angesichts der verschärften Konkurrenz zu bestehen, passt sich die Politik den Gesetzen des Marktes an. 

Ich bin überzeugt, dass Parlamente und Abgeordnete gut daran tun, verständlich zu kommunizieren und Empathie zu zeigen. 

Es ist mir wichtig, dass wir uns nicht hinter Bürokratendeutsch und Fachterminologie verschanzen. 

Gleichzeitig müssen wir deutlich machen: Politik ist kein Unterhaltungsformat, Parlamentarismus keine Show. 

Am Ende geht es um Inhalte, komplexe Abwägungen und sorgfältig zu begründende Entscheidungen. 

Mir ist es wichtig, dass das auch im Deutschen Bundestag immer wieder deutlich wird.
Wenn wir zu leichtfertig vereinfachen, 
leidet die Substanz unserer Demokratie.

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute Abend werden zum 18. Mal die Otto-Brenner-Preise verliehen. 
Ich bedauere sehr, später nicht mit dabei sein zu können, wenn die Auszeichnungen vergeben werden.

Zugleich freut es mich zu sehen, dass die Jury auch in diesem Jahr hervorragende Beispiele für kritischen Journalismus auszeichnet. 

Den Preisträgerinnen und Preisträgern schon an dieser Stelle herzlichen Glückwunsch!

Hinter dem Preis steht einer der berühmtesten Leitsätze Otto Brenners, formuliert 1968:
„Nicht Ruhe, nicht Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit ist erste Bürgerpflicht, sondern Kritik und ständige demokratische Wachsamkeit.“ Zitat Ende. 

Damals kämpfte Otto Brenner an der Spitze seiner Gewerkschaft gegen die Notstandsgesetze. Er lehnte sie aufgrund seiner Erfahrungen als Verfolgter des NS-Regimes aufs Schärfste ab. 

Seinerzeit hatte die Bonner Republik gerade erst zaghaft – und gegen Widerstände – begonnen, die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur aufzuarbeiten. 

Umso wichtiger war es, kritisch auf die Entwicklung der Demokratie in den Institutionen von Staat und Gesellschaft zu blicken. 

Heute herrscht an öffentlicher Kritik gegenüber der Politik und den Parlamenten eigentlich kein Mangel. 
Aber natürlich braucht die Demokratie auch weiterhin kritische und engagierte Bürgerinnen und Bürger.

Es gehört zu den großen Stärken der Demokratie, dass sie fähig ist zu lernen. 
Sie wächst an Kritik und Selbstkritik – gerade im Parlament.

Auch der Deutsche Bundestag muss weiterhin bereit sein, dazu zu lernen. 
Als Abgeordnete  müssen wir uns gegenüber neuen Perspektiven aufgeschlossen zeigen und neue Instrumente erproben. 

Während aktuell eine Vielzahl von Transformationsprozessen parallel ablaufen, müssen wir unsere Demokratie zukunftsfest machen.  
Dafür brauchen wir Wissenschaft, Stiftungen und – nicht zuletzt – Gewerkschaften. 

Die Otto Brenner Stiftung war unserer Demokratie immer eine wichtige Begleiterin. 
Ich danke allen, die daran in den vergangenen fünf Jahrzehnten Anteil hatten. 
Für ihre Arbeit und für Ihr Engagement. 

Ich gratuliere Ihnen nochmals sehr herzlich zu diesem besonderen Jubiläum. 

Und wünsche Ihnen auch für die nächsten 50 Jahre: Viel Erfolg und alles Gute!
 

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