02.03.2024 | Parlament

Impulsvortrag von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Frauenempfang zum Internationalen Frauentag 2024 in Wesel

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin 

sehr geehrte Frau Lenneps,

sehr geehrte Damen, 

am Freitag ist Internationaler Frauentag. Ich freue mich, dass Sie in Wesel der Zeit voraus sind und wir heute schon vorfeiern können.  

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin, 

Sie feiern im Oktober ein Jubiläum: Vor 20 Jahren wählten die Menschen in Wesel sie als erste Frau in dieses Amt.  Drei Mal wurden Sie wiedergewählt. 

Eine starke Bilanz!

Und: Sie haben drei stellvertretende Bürgermeisterinnen. 

Im Präsidium des Deutschen Bundestages sind wir Frauen klar in der Mehrheit mit 5 zu 1. 

Sie toppen das noch. 

Respekt! 

In Ihrer Rede haben Sie es eben sehr zutreffend beschrieben: Es war – und ist - ein weiter Weg für uns Frauen. 

Viele Vorgängerinnen haben unsere heutigen Chancen mühsam erkämpft.

Ich denke oft und mit Dankbarkeit an diese Wegbereiterinnen, ohne die wir heute nicht hier wären.  

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Trümmerfrauen unser Land im Wortsinne wieder aufgebaut. 

Und auch am Aufbau unserer Demokratie hatten Frauen prägenden Anteil. 

Gerade heute ist mir wichtig, unserer Vorkämpferinnen zu gedenken. 

Es war etwa Elisabeth Selbert, die unnachgiebig für den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz gekämpft hat. 

In diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Deutscher Bundestag.

Im Sommer gibt der Bundestag ein Buch über die weiblichen Abgeordneten des 1. Bundestages heraus: „Der nächste Redner ist eine Dame…“ lautet der Titel.

Diese Frauen machten damals weniger als ein Zehntel der Abgeordneten aus. Viele von ihnen sind heute vergessen. Dabei verdienen sie es, dass wir uns an sie erinnern. 

Die 68-jährige Helene Weber etwa hatte schon in der Weimarer Republik ihre Stimme erhoben. 

Aenne Brauksiepe war während des Krieges erwachsen geworden und wollte die neue Republik mitgestalten. 

Und dann waren da Jeannette Wolff oder Grete Thiele, deren Familien unter den Nationalsozialisten gelitten hatten. 

Sie hatten Verfolgung, Folter und Lagerhaft erlebt. 

Jetzt wollten sie dafür sorgen, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. 

Was diese Frauen trotz ihrer Unterschiede einte: 

Sie kämpften leidenschaftlich, um im männerdominierten Bonner Plenum gehört und ernst genommen zu werden.

Sie haben Geschichte und Politik gestaltet. 

Liebe Frauen, 

im vergangenen Jahr haben Sie hier den Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ gezeigt. 

Und Sie hatten mit Christa Nickels eine Hauptdarstellerin des Films und der Bonner Republik zu Gast. 

Ein starker Film mit starken Frauen zu einem starken Jubiläum: „20 Jahre Frauenempfang im Ratssaal“

Wer den Film noch nicht gesehen hat: Holen Sie es nach!

Im Film berichten Frauen aus allen Parteien über ihre Erfahrungen in der Bonner Politik. 

Diese Berichte sind erschreckend. 

Und manche kommen einem heute noch schrecklich vertraut vor.

Der Film hat mich erschüttert. 

Und zugleich haben mich diese unerschrockenen Frauen inspiriert. 

Inspiriert, nicht lange zu zögern, 

wenn ich als Frau ein spannendes Jobangebot bekomme. 

Inspiriert, nicht an mir zu zweifeln, sondern selbstbewusst „JA“ zu sagen.

Zum Amt der Bundestagspräsidentin etwa.

Liebe Frauen, 

wir sind ja unter uns, daher verrate ich Ihnen: Nach meinem „JA“ konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. 

Nach 2,5 Jahren im Amt sage ich aber: Alles beherrschbar. Wir Frauen sind zum Glück stresserprobt. 

In meiner Antrittsrede muss ich trotzdem betonen, dass ich erst die 3. Frau in diesem Amt bin – nach Annemarie Renger und Rita Süßmuth, denen ich besonders viel verdanke.   

Als der Deutsche Bundestag 1972 zum ersten Mal eine Bundestagspräsidentin wählte, war das in der deutschen Sprache gar nicht vorgesehen. 

Das Plenarprotokoll notierte: „Amtsübernahme durch den Präsidenten, Frau Renger.“ 

Wer heute die Sitzungsleiterin mit „Frau Präsident“ anredet, bekommt einen Ordnungsruf.  Etwas Fortschritt haben wir erreicht.

Heute haben wir eine Frauenquote bei Aufsichtsräten oder ein Entgelttransparenzgesetz. 

Auch in dieser Wahlperiode sind wir schon einige Schritte vorangekommen. 

Zum Beispiel mit der Streichung von Paragraph 219a oder den Plänen für eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik. 

Als Chefin der Bundestagsverwaltung kann ich auch einen kleinen Beitrag leisten: Deshalb haben wir Frauen in Führungspositionen gestärkt (4 von 6 AL, UAL-Bereich von 20 auf aktuell 33 Prozent erhöht), ich habe die „Charta der Vielfalt“ unterzeichnet und in 11 Tagen erhält der Bundestag das Zertifikat des Audits „berufundfamilie“. 

Liebe Frauen, 

am Ziel der echten Gleichstellung sind wir aber natürlich noch lange nicht! 

Das Weltwirtschaftsforum hat 2023 gemessen, dass wir erst 2145 global die Gleichstellung erreichen - wenn es in diesem Tempo weitergeht. 

Das bedeutet: noch über 120 Jahre!

Kein Mädchen, das heute auf die Welt kommt, wird das erleben.

Wir müssen diesen Prozess beschleunigen.

Wir müssen uns einsetzen für echte Gleichstellung von Frau und Mann - auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

Wo hapert es bei uns in Deutschland? 

Im Laufe eines Frauenlebens tun sich verschiedene Hindernisse auf. 

Die größte Hürde auf dem Weg zu echter Gleichstellung steckt vielleicht in den Köpfen. 

Männlichen wie weiblichen. 

Das fängt schon in der Kita an: 

Der Erzieher ist immer noch der Exot. Auch das ist ein kleiner Grund, warum deutschlandweit rund 384.000 Kita-Plätze fehlen: Wo Erzieher und Erzieherinnen fehlen, können eben keine Kinder betreut werden.

In der Schule werden noch immer bestimmte Fachrichtungen als typisch weiblich und männlich wahrgenommen - trotz wichtiger Initiativen wie Girls-Day und Boys-Day.

In der 4. Klasse haben Jungen in den MINT-Fächern bereits einen Leistungsvorsprung von 15 Wochen. 

Das Interesse der Mädchen wird nicht genügend gefördert, sie fühlen sich vom Unterricht zu wenig angesprochen. 

Am Ende der Grundschule ist diese Lücke kaum noch aufzuholen.

Ein Frauenproblem? Nein! 

Ein Problem für die Gesellschaft insgesamt. 

Nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen. 

Angesichts des Fachkräftemangels können wir es uns schlicht nicht leisten, auf ihre Talente zu verzichten. 

Die fehlenden Kita-Plätze sind ein großes Problem für viele Eltern, die gerne Beide arbeiten möchten. 

In der Regel sind es dann die Frauen, die notgedrungen zuhause bleiben oder auf Teilzeitlösungen umsteigen.

Das wird kaum honoriert, noch nicht einmal richtig wahrgenommen: Im Väterreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sagen nur 10% der Mütter, dass die Väter die Hälfte der Kinderbetreuung übernehmen. 

Und jetzt raten Sie mal, wie viele Väter das für sich reklamieren! 

Die Antwort: 25%! 

Noch immer wird private Care-Arbeit, nicht ausreichend anerkannt, ob für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige. 

Und meist kümmern sich die Frauen. 

Noch immer wird die Arbeit in sozialen Berufen - in Kitas, Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen - nicht ausreichend wertgeschätzt und vor allem: Nicht ausreichend bezahlt!

 Es ist sicher kein Zufall, dass vor allem Frauen in diesen Branchen arbeiten. 

Der Equal-Pay-Day war im Jahr meines Bundestags-Einzugs 2009 am 20. März. 

15 Jahre später ist er immerhin vor dem Frauentag – am Mittwoch, den 6. März. 

Allerdings auch nur, weil 2024 ein Schaltjahr ist. 

Sonst wäre er wie 2022 und 2023 am 7. März – eine stabil-schlechte Stagnation.  

Und das wiederum führt dazu, dass noch immer vor allem Frauen unter Altersarmut leiden. 

Im Alter haben Frauen knapp 30% weniger Geld zur Verfügung als Männer. 

Liebe Frauen, 

echte Gleichstellung bedeutet auch: Gleiche Teilhabe an der Macht – in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und allen anderen Bereichen. 

Doch noch immer dringen Frauen zu selten in Spitzenpositionen durch. 

Sie stoßen an gläserne Decken.

Beispielsweise an den Universitäten: Gut die Hälfte der Studierenden ist weiblich. 

Etwas mehr als die Hälfte der Absolventen sind Frauen. Aber nur 28% der Professorenstellen werden mit einer Frau besetzt. 

Zu oft werden die eben aufgezählten Probleme als „Frauenprobleme“ oder gar individuelle Probleme abgetan. 

Es sind nicht nur die Frauen, die auf diese Weise ausgebremst werden. 

Es ist unsere Gesellschaft als Ganzes.

Um das zu ändern, müssen Frauen angemessen repräsentiert und beteiligt werden.

Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Erst 27,9 % der Weltbevölkerung werden von einem weiblichen Staatsoberhaupt vertreten. 

Nur 22,9% der Parlamentsmitglieder weltweit sind Frauen. 

Dass der Wert so niedrig ist, liegt auch an uns: Nur 35,33% unserer Abgeordneten sind weiblich. 

Der Deutsche Bundestag muss aufholen, mehr als 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts. 

Bei der Wahl von Annemarie Renger 1972 waren es knapp 6 Prozent. 

In den 80er- und 90er-Jahren ist der Frauenanteil auf immerhin ein Drittel angewachsen. 

Aber seit gut 20 Jahren tut sich nichts mehr. 

Der Fortschritt ist leider kein Selbstläufer. 

Ich bin davon überzeugt: 

Wir erreichen die Parität nicht durch Abwarten. 

Wir müssen uns aktiv dafür einsetzen. 

Weg von freiwilligen Quoten, 

hin zum verbindlichen Fifty-fifty.

In Thüringen und Brandenburg hatte der Gesetzgeber Quoten auf Landesebene beschlossen.

Doch die Landesverfassungsgerichte haben diese Gesetze für verfassungswidrig erklärt. 

Diese Gesetze schränkten die Freiheit der Parteien zu sehr ein, so heißt es unter anderem in den Begründungen. 

Ich hoffe weiter, dass wir eine verfassungsgemäße Lösung und parlamentarische Mehrheiten für Parität finden. 

Bis es so weit ist, bleibt es übrigens jeder Partei überlassen, ihre Listenplätze freiwillig abwechselnd an Frauen und an Männer zu geben. 

Liebe Frauen, 

es reicht nicht, dass einzelne Frauen Spitzenämter bekleiden. 

Wir müssen die Strukturen verändern. 

Den politischen Betrieb frauengerecht machen.

Parteien und Parlamente müssen dafür sorgen, dass mehr Frauen Zugang in die Politik finden. 

Lange Sitzungstage, viele Reisen, späte Abstimmungen erschweren es, Amt und Familie gut zu vereinbaren. 

Das wird immer noch eher als ein Problem für Frauen und weniger als ein Problem für Männer angesehen.

 Viele von Ihnen kennen sicher das Phänomen: 

Wie oft wurden Sie bei der Arbeit gefragt, ob Ihre Kinder gut versorgt sind?

Und wie oft Ihr Mann? 

Hinzu kommt eine männliche geprägte politische Kultur. 

Die Kommunikation, die formellen wie informellen Spielregeln, die Netzwerke sind noch zu stark männlich dominiert. 

Deswegen ist es auch so wichtig, 

dass wir Frauen uns stärker vernetzen. Wie heute hier auf Ihrem Empfang, der auch deshalb sehr wichtig ist! 

Wir müssen uns gegenseitig stärken! 

Das zeigen übrigens auch die Erfahrungen im Internet. 

Politikerinnen werden im Netz deutlich mehr angefeindet als ihre männlichen Kollegen. 

Das geht von Hasskommentaren über Cybermobbing und Cyberstalking bis hin zu Vergewaltigungsfantasien und Morddrohungen. 

Gerade für Politikerinnen auf kommunaler Ebene ist das eine enorme Belastung. 

Sie haben keinen Personenschutz wie ich als Bundestagspräsidentin.  

Vielleicht hat dieser Hass auch die eine oder andere hier im Raum schon davon abgehalten, sich einzubringen.

Meist steht dahinter schlicht die Sorge um die Sicherheit der eigenen Familie!

Und das könnte ich auch gut nachvollziehen. 

Trotzdem muss klar sein: Unser Land braucht Frauen wie Sie! 

Es gibt allen Grund, die Stimme zu erheben. 

Gerade heute! 

Liebe Frauen,  

auch hier in Wesel sind kürzlich rund 5.000 Menschen auf die Straße gegangen, um für Demokratie, Freiheit und Toleranz zu demonstrieren.

Sicher waren viele von Ihnen mit dabei.

Ich fahre gleich im Anschluss weiter, um heute in meiner Heimatstadt bei „Duisburg ist echt bunt“ zu sprechen. 

Die Feinde unserer Demokratie habe auch unsere modere Gesellschaftspolitik im Visier. 

Wir dürfen ihnen und ihren reaktionären Rollenbildern nicht das Feld überlassen. 

Wir müssen für unsere Werte einstehen: Ob in der Familie, im Gespräch mit den Nachbarn oder im Verein. 

Ich weiß, dass solche Gespräche unangenehm sein können. 

Und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass daran auch Freundschaften zerbrechen können. 

Einige Menschen haben sich komplett abgeriegelt, wollen von der Welt da draußen nichts mehr wissen. 

Andere finden scheinbaren Frieden in einfachen Antworten. 

Die Pandemie, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die steigenden Lebenshaltungskosten – all das verunsichert. 

Doch auf komplizierte Weltlagen gab es noch nie einfache Antworten.

Wir ringen um richtige Lösungen, auch wenn es anstrengend ist. Und tun das auf dem Fundament unserer Grundrechte – wie dem Recht auf Gleichberechtigung.

Liebe Frauen, 

wir sollten herausragende Frauen stärker würdigen. Nicht nur am Frauentag.

Deswegen finde ich es gut, dass Sie in Wesel an Ida Tacke-Noddack erinnern.

Eine Entdeckerin chemischer Elemente, mehrmals für den Nobelpreis nominiert  – und das vor 100 Jahren! 

Gut, dass Sie hier in Wesel ein Denkmal für sie aufgestellt, eine Straße und eine Schule nach ihr benannt haben.

Liebe Frauen, 

meiner Generation fehlten oft die Vorbilder. 

Eine Bundespräsidentin hatten wir zwar noch nicht, aber eine Bundeskanzlerin, eine Bundesratspräsidentin und viele andere starke, sichtbare Frauen.   

Wir müssen uns unserer Vorbildfunktion bewusst sein. 

Ich möchte jungen Frauen und Mädchen Mut machen. Natürlich auch Ihnen hier und heute im Ratssaal.

Mut, sich einzubringen. 

Mut, dem eigenen Urteil und der eigenen Stärke zu vertrauen. 

Und auch den Mut, sich treu zu bleiben. 

Lassen wir uns nicht von stereotypen Frauenbildern kleinhalten!

Wir brauchen die Mutigen und die Sorgfältigen,

die Wissbegierigen und die Kreativen, 

die Frechen und die Nachdenklichen, 

die Sensiblen und die Hartnäckigen. 

Junge Frauen und Mädchen wissen heute besser: 

Sie können alles erreichen, was sie wollen.

Zusammen sollten wir sie in diesem Wissen immer wieder bestärken!

Vielen Dank!

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