09.11.2021 | Parlament

Statement zum ersten Bericht - Bundespressekonferenz

Eine Frau sitz in einem Raum und spricht zu den Zuhörern.

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke zum Ersten Bericht an den Deutschen Bundestag bei der Bundespressekonferenz. (© picture alliance dpa/Britta Pedersen)

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute vor 32 Jahren fiel die Berliner Mauer. Der Jahrestag des Mauerfalls ist ein Tag des Glücks und ein Tag der Dankbarkeit.

Mir ist es wichtig, dass wir gerade an einem solchen Tag auch die Menschen nicht aus dem Blick verlieren, die in der DDR für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft haben. Viele von ihnen wurden zu Opfern des Regimes. Sie mussten Zersetzungsmaßnahmen, Haft oder berufliche Benachteiligung erdulden. Diese Einschnitte in das persönliche Leben hinterlassen bei den Opfern und ihren Familien tiefe Spuren. Viele Opfer politischer Repression kämpfen bis heute mit den schwerwiegenden Folgen des Erlebten.

Für mich gehören die Freude über den Mauerfall und die Deutsche Einheit und das Gedenken an die Opfer eng zusammen.

Ich habe mich als SED-Opferbeauftragte daher ganz bewusst entschieden am heutigen Tag, dem 9. November, dem Deutschen Bundestag meinen ersten Bericht vorzulegen. Ich möchte ganz bewusst diesen frühen Zeitpunkt in dieser neuen Wahlperiode nutzen, um den neuen Bundestag für die Lage der SED-Opfer zu sensibilisieren.

Seit meinem Amtsantritt am 17. Juni habe ich mich mit vielen Opfern getroffen. Sie haben mir von ihren Erlebnissen in der DDR und ihrer heutigen Lage berichtet. Die Schicksale dieser Menschen, die unter der Diktatur gelitten haben, bewegen mich tief. Ich habe viele Opferverbände, Initiativen, Beratungsstellen, Gedenkstätten, Archive, Forschungsinstitute und Einrichtungen wie die Bundesstiftung Aufarbeitung besucht, all diejenigen, die den Opfern helfen und sich für sie einsetzen.

Besonders wichtig war mir in letzten fünf Monaten der Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern. Die sechs Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in den ostdeutschen Ländern engagieren sich seit Jahrzehnten für die Anliegen der Opfer. Auf diese gewachsene Kompetenz konnte ich ab dem ersten Tag aufbauen.

Ebenso habe ich Gespräche geführt mit Mitgliedern des Bundestages, der Landesparlamente, mit Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, mit Ministerinnen und Ministern. Ebenso natürlich auch mit den Mitarbeitern in den für Opferangelegenheiten zuständigen Ministerien und Behörden. Immer dann, wenn wir tiefer ins Gespräch gekommen sind, habe ich meist Empathie und Verständnis für die Anliegen der Opfer erlebt.

Als ich das Amt der SED-Opferbeauftragten vor rund fünf Monaten angetreten habe, wurde ich von einem Journalisten gefragt: Frau Zupke, mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, braucht es denn wirklich noch ein solches Amt? Gibt es denn ernsthaft nach all den Jahren noch für die Opfer irgendetwas aufzuarbeiten? Nach meinen Erfahrungen der zurückliegenden Monate muss ich deutlich sagen: Ja.

Die heutige Lage in der sich viele Opfer der SED-Diktatur befinden, kann und darf uns nicht zufriedenstellen. In den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten wurde viel für die Betroffenen erreicht. Ich denke dabei besonders an die Rehabilitierungsmöglichkeiten und an die Opfer-Rente. Dafür bin ich, wie auch die Opferverbände, dankbar! Trotz all dem Erreichten, dürfen wir uns nicht täuschen lassen. In vielen Bereichen bestehen weiterhin Defizite.

Mein gesetzlicher Auftrag ist es, unter anderem als Ombudsperson für die Anliegen der SED-Opfer zu wirken und den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung zu beraten. Mit meinem heutigen Bericht gehe ich einen ersten Schritt und mache dem Parlament erste konkrete Vorschläge, wie wir die Lage der SED-Opfer nachhaltig verbessern können.

Für mich ist dieses Thema keine Frage von Ost oder West, oder von jung oder alt. Mein Anspruch ist es, dass wir den Opfern der SED-Diktatur helfen und gleichzeitig eine Brücke zu jüngeren Generationen schlagen. Gerade die Auseinandersetzung mit den Schicksalen der Opfer, kann uns als Gesellschaft dabei helfen, den besonderen Wert unserer Freiheit und unserer Demokratie zu erkennen.

Ich möchte die heutige Bundespressekonferenz dafür nutzen, um ihnen die wichtigsten Punkte meines Berichtes näher vorzustellen. Als einen meiner ersten Termine nach Amtsantritt besuchte ich im August den Frauenkongress der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft in Stollberg, unweit des berüchtigten, früheren Frauenzuchthauses Hoheneck. Am Rande des Kongresses berichtete mir eine Frau, wie sie nach ihrer menschenunwürdigen Haft in Hoheneck schließlich freigekauft wurde. Endlich frei, studierte sie Zahnmedizin und arbeitete viele Jahre erfolgreich als Kieferorthopädin mit eigener Praxis in Bayern. Über das was sie erlebt hatte, sprach sie mit niemanden. Vor ein paar Jahren holten sie die Erlebnisse von Hoheneck wieder ein: Schlafstörungen, Angstzustände, körperliche Leiden. All das wurde zu Begleitern ihres täglichen Lebens. In der Folge musste sie ihre Praxis aufgeben. Zu den körperlichen und seelischen Leiden kamen schließlich Schulden hinzu. Bis heute bemüht sie sich um die Anerkennung ihrer gesundheitlichen Folgeschäden. Bis heute ohne Erfolg.

Mit diesem Problem steht sie nicht allein. Im Durchschnitt scheitern aktuell neun von zehn Betroffenen bei der Anerkennung ihrer gesundheitlichen Schäden. Sie scheitern daran, dass sie als Betroffene den Behörden nachweisen müssen, dass eine jetzige Erkrankung auf damalige Haft, auf Zersetzung oder beispielsweise den Aufenthalt in einem Jugendwerkhof und den damit verbundenen Zwangsmaßnahmen zurückzuführen sind. Ohne den Beweis dieses Zusammenhangs erhalten sie keinen Zugang zu dringend benötigter Unterstützung.

Mit diesem Zustand können und dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Wir müssen die Verfahren zur Anerkennung von Gesundheitsschäden endlich stärker im Sinne der Betroffenen gestalten. Hierfür schlage ich in meinem Bericht dem Deutschen Bundestag konkrete Schritte vor. Gerade in den Fällen, die so eindeutig sind, wie beispielsweise bei den ehemaligen politischen Häftlingen oder denjenigen, die in Jugendwerkhöfen untergebracht waren, braucht es aus meiner Sicht und der vieler Fachleute keine umfangreichen Begutachtungen.

So wie es anderer Stelle schon möglich ist, sollten auch hier der Nachweis des Gesundheitsschadens und der Nachweis der erlittenen Repression für eine Anerkennung ausreichen. Gleichzeitig brauchen wir Veränderungen im Begutachtungswesen. Wir brauchen bundeseinheitliche Festlegungen über die Qualifikation der Gutachterinnen und Gutachter. Diese müssen endlich verpflichtend in Fragen der gesundheitlichen Folgen von SED-Unrecht geschult sein.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist für mich die soziale Lage der Opfer. Im letzten Jahr hat die Brandenburger Landesbeauftragte hierzu eine umfangreiche Studie für das Land Brandenburg vorgelegt. Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend. Fast jeder zweite Betroffene von SED-Unrecht lebt heute an der Grenze der Armutsgefährdung.

Für mich ist klar: Niemand der im SED-Unrechtsstaat für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft hat, sollte heute, in unserer demokratischen Gesellschaft, ins Abseits geraten. In meinen Bericht schlage ich daher dem Bundestag konkrete Veränderungen vor, mit denen wir insbesondere auch die Betroffenen von beruflicher Benachteiligung heute besser unterstützen können.

Zwei Punkte sind mir dabei besonders wichtig:

Erstens:

Ich werbe dafür, dass der Zugang zu den Leistungen auch bei kürzeren Verfolgungszeiten ermöglicht wird. In den letzten Monaten habe ich viele Menschen kennengelernt, die nach mehrmonatigen Arbeitsplatzverlust oder zwei, drei Monaten in Haft beruflich nicht mehr richtig auf die Beine gekommen sind. Oder ich denke an diejenigen, deren schulische und berufliche Laufbahn z.B. durch einen Aufenthalt im Jugendwerkhof nachhaltig zerstört wurde. Drei Jahre Verfolgungszeit, wie es das Gesetz aktuell vorsieht, sind zu lang. Hier brauchen wir eine Veränderung, die den tatsächlichen Auswirkungen der Unrechtserfahrung stärker gerecht wird!

Zweitens:

Es darf keine Absenkungen der Leistungen für die Opfer bei Renteneintritt geben. Aktuell wird beim Eintritt in die Rente die sogenannte Ausgleichsleistung von 240 auf 180 € abgesenkt. Diese Regelung ist besonders fatal. Viele Betroffene wurden am Studium oder an der Ausbildung gehindert. Sie haben daher meist sowieso nur Anspruch auf eine niedrige Rente. Verzichten wir daher auf die Absenkung bei Renteneintritt. Sorgen wir vielmehr dafür, dass die Opfer gerade im Alter mehr Unterstützung erhalten.

In Berlin, Brandenburg und Sachsen können Betroffene von SED-Unrecht, die sich in einer wirtschaftlichen Notlage befinden, Unterstützung aus dem Härtefallfonds des jeweiligen Landes erhalten. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig dieses Instrument ist, um schnell und unbürokratisch zu helfen. Viele Verfolgte des SED-Regimes sind aber zu DDR-Zeiten oder nach der Wiedervereinigung von Ost- nach West-Deutschland gezogen. Diesen Betroffenen bleibt der Zugang zu Unterstützung aus den Härtefallfonds verwehrt. Um das zu ändern, hat der Bundestag vor Jahren die Bundesregierung gebeten, die Möglichkeit der Einrichtung eines bundesweiten Härtefallfonds zu prüfen. Leider hat die Bundesregierung in der letzten Wahlperiode dem Bundestag kein Prüfergebnis für einen solchen, bundesweiten Fonds vorgelegt.
Ich werbe daher entschieden dafür, dass wir einen bundesweiten Härtefallfonds einrichten. Über 30 Jahre nach der Deutschen Einheit sollte nicht der damalige oder heutige Wohnort über den Zugang zu Unterstützung entscheiden.

Eines habe ich in meinen ersten fünf Monaten im Amt ganz deutlich gemerkt: In der Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht kommt der Forschung eine Schlüsselrolle zu. Ohne fundierte Forschungsergebnisse ist es häufig schwer, die notwendigen Unterstützungen für die Opfer durchzusetzen. In den letzten Jahren wurden durch eine Förderung des Bundesforschungsministeriums Forschungsverbünde zum SED-Unrecht eingerichtet. Diese Forschungsverbünde haben die Erforschung der SED-Diktatur wesentlich gestärkt. Aber: Die Forschungsverbünde sind zeitlich befristet. Ihre Finanzierung läuft schon im kommenden Jahr aus.

Wegen der Corona-Pandemie waren aber im letzten Jahr viele Archive geschlossen. Daher werden wichtige Teile der Forschung im kommenden Jahr, wenn die Förderung ausläuft, noch nicht abgeschlossen sein. Ich werbe daher für eine Verlängerung der Arbeit der Verbünde. Gleichzeitig braucht es aber auch für die Forschung zum SED-Unrecht eine langfristige, ja dauerhafte Perspektive. Der Bundestag hat in 2019 beschlossen, die Forschung über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa zu stärken. Das Parlament beauftragte die Bundesregierung, die Schaffung eines eigenen Forschungszentrums für dieses Thema zu prüfen. Auch hier legte die Bundesregierung dem Bundestag bis heute kein Prüfergebnis vor.
Diese Prüfung sollte aus meiner Sicht nun zügig angegangen werden. Es muss nicht immer ein Forschungszentrum in Berlin sein. Die Forschungsverbünde haben aus meiner Sicht eindrucksvoll gezeigt, wie durch die Vernetzung von Universitäten, Archiven, Gedenkstätten ja sogar Opferverbänden ein Ansatz verfolgt werden kann, der direkt in Bildung und Beratungspraxis wirkt.

In der letzten Woche wurde der Startschuss für das neue Forschungsnetzwerk zu Erforschung von gesundheitlichen Langzeitfolgen von SED-Unrecht gegeben. Dieses Projekt ist für die Betroffenen besonders wichtig! Aber es ist auf nur drei Jahre begrenzt. Ich werbe daher dafür, dass wir auch bei diesem Thema langfristig die Forschung sichern.

Als SED-Opferbeauftragte ist es mir wichtig, dass insbesondere jüngere Menschen mehr über die Schicksale der Opfer erfahren. Als Brücke zu kommenden Generationen brauchen wir die historischen Orte und mehr digitale Vermittlungsformate. Um dies zu leisten, werbe ich dafür, dass wir das Gedenkstättenkonzept des Bundes modernisieren! Um nur ein Beispiel zu nennen:

Bis heute fehlt es an einem national bedeutsamen Ort, der den Widerstand der Frauen in der DDR würdigt und an die Schicksale der weiblichen politischen Häftlinge erinnert. Das was diesen Frauen angetan wurde, wie die Trennung von ihren Kindern, wirkt bis heute in den Familien nach. Um diese Leerstelle auf nationaler Ebene zu schließen, werbe ich dafür, dass die Gedenkstätte Frauenzuchthaus Hoheneck in die institutionelle Förderung des Bundes aufgenommen wird. 

Vor zwei Jahren hat der Bundestag die Einrichtung eines Mahnmals für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft beschlossen. Für die Opfer war dies ein wichtiges Signal. Ich würde mir wünschen, dass wir am. 17. Juni 2023, dem 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR, hier im Berliner Regierungsviertel, gemeinsam den Grundstein für das Mahnmal legen.

Vielen Dank!

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