„Viele SED-Opfer leben bis heute in Not“ - Interview
Die SED-Opferbeauftragte im Interview mit der Super Illu, vom 25. November 2021.
Sie sind seit Sommer 2021 Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Um wen und was kümmern Sie sich?
Evelyn Zupke: Viele der Menschen, die in der DDR für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft haben, haben zur DDR-Zeit harte Repression erfahren. Sie mussten Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit, politische Haft oder berufliche Benachteiligung erdulden. Diese Einschnitte in das persönliche Leben haben bei den Opfern und ihren Familien tiefe Spuren hinterlassen. Viele kämpfen bis heute mit den schwerwiegenden Folgen des Erlebten. Wir sind diesen Menschen auch deswegen in besonderem Maße verpflichtet, weil sie oft durch ihren Einsatz für die Freiheit ins Visier politischer Verfolgung gerieten. Sie sind deswegen nicht nur Opfer, sondern auch Helden, die durch ihren Mut dazu beigetragen haben, dass die SED-Diktatur endete, die Mauer fiel und wir heute in einer freiheitlichen Demokratie leben können. Deswegen sind wir ihnen zu Dank und Anerkennung verpflichtet.
Es gab seit dem Ende der DDR eine ganze Reihe von Hilfsmaßnahmen für von der SED politisch Verfolgte. Haftentschädigungen, Anrechnung von politischen Verfolgungszeiten auf die Rente, Berufsschadensausgleich. Was gibt es da heute noch zu tun?
Zupke: In den letzten 30 Jahren wurde viel erreicht. Die heutige Lage, in der sich viele SED-Opfer befinden, darf uns aber nicht zufriedenstellen. In vielen Bereichen bestehen bis heute Defizite. Viele SED-Opfer leben immer noch in wirtschaftlicher Not, fast jeder Zweite ist armutsgefährdet. Hier müssen wir insbesondere die Hilfe für Betroffene von beruflicher Benachteiligung verbessern. Damit sie heute einen finanziellen Ausgleich für ihren beruflichen Schaden erhalten, müssen sie aktuell mindestens drei Jahre Verfolgungszeit nachweisen. Es gibt auch viele Menschen, die an den Folgen kurzzeitiger politischer Verfolgung bis heute leiden. Zum Beispiel wenn jemand aus politischen Gründen seinen Studienplatz oder seinen Arbeitsplatz verloren hat. Das Regime war bekanntlich sehr intolerant gegenüber Andersdenkenden. Einen lebenslang nachwirkenden Berufsschaden konnte schon erleiden, wer im Staatsbürgerkundeunterricht die „falschen Fragen“ stellte und deswegen trotz guter Leistungen kein Abitur machen durfte. Viele Opfer tun sich außerdem schwer, den ihnen entstandenen Schaden zu beweisen, wenn es um gesundheitliche Folgeschäden geht. Nur einer von zehn Antragstellern bekommt hier bisher eine Anerkennung. Darunter sind zum Beispiel Menschen, die in Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen schweres Unrecht erlebten. Viele wurden dort körperlich und manchmal auch sexuell misshandelt, mussten unter Bedingungen aufwachsen, die ihnen wenig Chancen boten. Viele der Einweisungen in solche Einrichtungen waren in Wahrheit politisch motiviert, mit dem Ziel, andersdenkende Jugendliche zu brechen. Einige Gutachter, die heute über solche Fälle entscheiden, beweisen hier oft wenig Kenntnisse über die damaligen Verhältnisse und wenig Feingefühl. Ich fordere, dass diese Verwaltungs-Verfahren für Opfer von SED-Repressionen einfacher werden. Außerdem sollte es endlich einen bundesweiten Härtefallfonds geben, bei dem bereits anerkannte Opfer, die heute in sozialer Not leben, einmalige Hilfen in besonderen Lebenssituationen beantragen können. Aktuell gibt es solche Härtefallfonds nur in drei Bundesländern: in Berlin, Sachsen und demnächst in Thüringen. Opfer von SED-Unrecht gibt es aber bundesweit – auch in den westlichen Bundesländern, wohin viele einst politische Verfolgte zur DDR-Zeit oder später übergesiedelt sind.
Sie waren Ende der 80er-Jahre als junge Frau bei Bürgerrechtler-Gruppen aktiv. Fühlen Sie sich selbst als Opfer?
Zupke: Ich habe mich unter anderem 1989 engagiert, als es darum ging, den systematischen Wahlbetrug aufzudecken. Und war auch oft bei Demos. Für den Fall, dass wir verhaftet werden, hatte ich Freunden eine Vollmacht gegeben, sich um mein Kind zu kümmern. Aber ich hatte Glück, saß nie länger als ein paar Stunden in Haft. Uns ist auch deshalb nichts mehr passiert, weil das Regime dann so schnell zu Ende ging. Ich freute mich über die neue Freiheit, die neuen Chancen, die Demokratie. Besonders für unsere damals junge Generation war die friedliche Revolution ein großes Glück. Als Opfer fühle ich mich deshalb nicht.
Muss man ein schlechtes Gewissen haben, wenn man in der DDR ein angepasstes Leben geführt hat?
Zupke: Das muss jeder Mensch für sich beantworten. Die Antwort fällt für jeden anders aus. Die SED-Diktatur stellte Menschen weit mehr als unsere heutigen freiheitlichen Verhältnisse vor moralische Herausforderungen. Nicht jeder ist zum Helden geboren, das ist verständlich. Es ist auch ein zutiefst menschliches Bedürfnis, sein eigenes Leben positiv zu deuten. Aber jeder sollte sich auch bewusst sein, dass eine Diktatur umso stabiler ist, je mehr Menschen sich anpassen – und mit sich selber ehrlich klären, ob und was er dazu beigetragen hat, dass diese Diktatur so lange gehalten hat. Mir geht es dabei nicht um Schuld, sondern darum, dass man sich der eigenen Verantwortung bewusst wird.
Für Aufsehen und viel Widerspruch sorgte im Sommer der damalige Ost-Beauftragte der Bundesregierung, der sächsische CDU-Politiker Marco Wanderwitz, als er ostdeutschen Wählern der AfD vorwarf, sie seien wegen ihres früheren Lebens in der DDR „diktatursozialisiert“. Was halten Sie davon?
Zupke: Dem Wähler und dessen Willen muss man mit Respekt begegnen. „Diktatursozialisiert“ muss aber kein Schimpfwort sein. Es kann auch bedeuten, dass wir, die wir zweifellos in einer Diktatur aufwuchsen, heute besonders sensibel darauf reagieren, wenn wir die Freiheit bedroht sehen, und skeptischer gegenüber dem sind, was „von oben“ kommt, gegenüber dem System, gegenüber den Regierenden. Das kann durchaus auch ein positives Erbe sein. Heutige Debatten mit der DDR-Diktatur gleichzusetzen, ist eine Verharmlosung des SED-Regimes. Jedoch wünsche ich mir eine offenere Diskussionskultur, in der respektvoll miteinander umgegangen wird. Die Schranken des Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung sind eindeutig durch das Gesetz geregelt.
Das Interview führte Gerald Praschl.