29.04.2022 | Parlament

„Die Erinnerung an die Zwangsaussiedlung fordert uns als Gesellschaft heraus.“ - 70 Jahre „Aktion Ungeziefer“

Das Bild zeigt eine Frau hinter einem Podium die zu einem Publik spricht. Hinter ist ein schwarz/weiß Foto an die Wand projiziert. Es zeigt ein altes Haus.

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke bei Ihrem Grußwort anlässlich des 70. Jahrestages der „Aktion Ungeziefer“; UOKG-Veranstaltung in Magdeburg. (UOKG / Zumdick)

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Dr. Putz,
liebe Birgit Neumann-Becker,
lieber Dieter Dombrowski,
lieber Martin-Michael Passauer,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Opferverbände,
sehr geehrte Gäste,

In diesen Tagen jährt sich die „Aktion Ungeziefer“, die zwangsweise Umsiedlung von rund 8.000 DDR-Bürgern aus dem innerdeutschen Grenzgebiet. Ungeziefer. Diese menschenverachtende Sprache spiegelt den menschenverachtenden Geist eines menschenverachtenden Systems. Zusammen mit der Aktion „Festigung“ rund zehn Jahre später, waren über 11.000 Menschen in der DDR von Zwangsumsiedlung betroffen. Diese Zahl, über 11.000 Menschen, über 11.000 Männer, Frauen und Kinder, ist für mich nur schwer zu greifen.

Es ist klar: Hinter dieser enormen Zahl stehen jeweils  menschliche Schicksale. Stehen über 11.000 einzelne Menschen, stehen ganze  Familien. Jeder dieser Menschen hat einen Namen. Über 11.000 Opfer von Zwangsaussiedlung! Sie sind keine anonyme Zahl! Es sind Menschen, deren Leben durch den brutalen Eingriff der Diktatur von einem Tag auf den anderen für immer verändert wurde.

Wenn ich an die Zwangsaussiedlung denke, denke ich zum Beispiel an Marie-Luise Tröbs, die als damals Zehnjährige auf dem Rückweg vom Kindergottesdienst in die Arme der Volkspolizisten lief. Staatssicherheit und Volkspolizei waren gerade dabei, die Zwangsumsiedlung ihrer Familie vorzubereiten. Marie-Luise Tröbs wurde noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich von ihren Schulkameradinnen zu verabschieden. Nur ein Puppenkleid und eine Spielzeug-Kaffeemühle konnte sie damals mitnehmen.

Ich denke auch an Inge Bennewitz, die während ihres Studiums in Potsdam weilte, als sie durch ein Telegramm von ihren Eltern von der Zwangsaussiedlung erfuhr. Ein Abschied von ihrer Heimat Dömitz blieb Inge Bennewitz verwehrt.

Liebe Marie-Luise Tröbs und liebe Inge Bennewitz, ich bin Ihnen beiden dankbar, dass sie heute hier bei uns sind und uns von ihrem Erlebten berichten werden.

Aber ich denke auch an Klara Obkirchner aus Hirschberg, die sich in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 1952 mit ihrem Mann Kaspar das Leben nahm. Die Angst vor Zwangsaussiedlung und davor, möglicherweise in ein Lager in die Sowjetunion verschleppt zu werden, trieb das Paar in den Selbstmord.

Die Geschichte der Zwangsaussiedlung ist eine Geschichte des Leids, der Repression, des Heimatverlustes und ja, auch in vielen Fällen, eine des Todes. Die Erinnerung an die Zwangsaussiedlung fordert uns als Gesellschaft heraus. Die Zwangsaussiedlung hat uns keine Gefängnisse oder Mauerteile hinterlassen – keine Orte, die in unserer Erinnerungskultur wie Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungieren können. Die Zwangsaussiedlung hat heute meist nur stille Zeugen. Umso wichtiger ist es, dass wir, wie heute, über die Zwangsaussiedlung sprechen, dass wir uns mit den bis heute andauernden Folgen auseinandersetzen.

Ich bin Dir, liebe Birgit Neumann-Becker, und Ihnen, lieber Dieter Dombrowski, daher für diesen Kongress besonders dankbar.

Begreifen wir die Erinnerung an die Zwangsaussiedlung nicht als eine regionale Aufgabe der früheren Grenzregionen!
Nein, die Erinnerung der Zwangsaussiedlung ist von nationaler Bedeutung.
Das Leid der Zwangsausgesiedelten zeigt uns, was Vertreibung und ihre Folgen bedeutet. Aber die Aufarbeitung der Zwangsaussiedlung führt uns auch schmerzhaft vor Augen, wie der Rechtsstaat bei der Aufarbeitung der Verbrechen einer Diktatur an seine Grenzen stoßen kann.

Heute, mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, müssen wir bilanzieren, dass beispielsweise die Rückführung des entzogenen Eigentums in viel zu wenig Fällen zum Erfolg führte. Die Opfer von Zwangsaussiedlung konnten zwar eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung erhalten. Wenn es aber um die Durchsetzung von konkreten Ansprüchen ging, wie einen Ausgleich für das entzogene Eigentum, wurden keine befriedigenden Lösungen für die Betroffenen gefunden.

Umso wichtiger ist es mir als Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, dass wir die individuelle politische Verfolgung der Betroffenen von Zwangsaussiedlung stärker berücksichtigen. Auch wenn tausende Familien von der Zwangsaussiedlung betroffen waren, ist die Zwangsaussiedlung eben kein Kollektivschicksal, da nur ein Bruchteil der gesamten Grenzbevölkerung von ihr betroffen war.

Der Zwangsaussiedlung lag jeweils eine individuelle Verfolgung zugrunde. Es war eine Entscheidung des Repressionsapparates der DDR, tief in das Leben dieser Menschen einzugreifen. In den letzten Jahren wurde viel für die Opfer der SED-Diktatur erreicht.
Ich denke dabei an die verfolgten Schüler oder auch an die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen. Beide Gruppen haben in den letzten Jahren endlich einen gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung erhalten.
Für diese wichtigen Schritte der Politik möchte ich, stellvertretend für alle Abgeordneten, die sich für die Opfer eingesetzt haben, der Vorsitzenden des Kulturausschusses Katrin Budde herzlich danken.

Ich bin ebenso dankbar dafür, dass die neue Koalition sich vorgenommen hat, in dieser Wahlperiode die Beantragung und Bewilligung von Hilfen und Leistungen für Opfer der SED-Diktatur zu erleichtern und auch die Definition der Opfergruppen zu überarbeiten.

Nutzen wir diesen Schritt auch dafür, um die Situation der Zwangsausgesiedelten zu verbessern! Setzen wir ein Zeichen und schaffen wir, so wie wir es für die Zersetzungsopfer getan haben, auch für die Zwangsausgesiedelten einen einfachen unbürokratischen Zugang zu Leistungen!

Der 70. Jahrestag der „Aktion Ungeziefer“ ist für uns Anlass, der Zwangsaussiedlung an der innerdeutschen Grenze zu erinnern. Machen wir das Gedenken an die Zwangsaussiedlung zu einem festen Teil unserer nationalen Erinnerungskultur!

Und: Helfen wir gleichzeitig den Opfern, die bis heute unter den Folgen der Zwangsaussiedlung leiden.


Vielen Dank!

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