28.08.2022 | Parlament

Rede anlässlich der Einrichtung des sowjetischen Speziallagers in Sachsenhausen vor 77 Jahren

Das Bild zeigt eine Frau die zum Publikum spricht, sie steht hinter einem Podium. Hinter ihr sind viele Blumenkränze und ein Park mit Bäumen und Sträuchern zu sehen.

Die SED-Opferbeauftragte bei ihrer Rede anlässlich der Einrichtung des sowjetischen Speziallagers in Sachsenhausen vor 77 Jahren. (DBT / Sabine Arends)

Sehr geehrter Herr Staatsekretär Dünow,
sehr geehrter Herr Dr. Drecoll,
sehr geehrter Herr Krüger,
sehr geehrte Frau Barbara Kirchner-Roger,
sehr geehrter Herr Alexander Latotzky,
sehr geehrter Herr Rolf Schröder,
sehr geehrter Herr Taege,
sehr geehrter Herr Karl Wilhelm Wichmann,
sehr geehrter Herr Reinhard Wolff,
liebe Mitglieder und Unterstützer der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen,
sehr geehrte Gäste,

heute bin ich zum zweiten Mal hier in Sachsenhausen.

Ich muss gestehen, die Wucht dieses Ortes trifft mich immer wieder. Wenn man die Mauern des Lagers passiert. Wenn man an den Barracken vorbeiläuft. Und wenn man die Massengräber sieht. Das unermessliche Leid, dass Menschen Menschen angetan haben. Hier in Sachsenhausen, hier, am früheren Ort des sowjetischen Speziallagers, wird es spürbar.

Hier in der Gedenkstätte, wo die Bilder der früheren Häftlinge gezeigt werden, kann man den Menschen, die hier gelitten haben und von denen viele hier gestorben sind, in die Augen schauen. Wenn ich in die Gesichter der Häftlinge schaue, dann sehe ich Menschen. Menschen, die nach den Leiden des zweiten Weltkriegs ein ganz normales Leben führen wollten. Menschen, die aus der Mitte ihres Lebens gerissen wurden. Ich sehe Menschen, die zu Opfern der Diktatur wurden.

Aber: Das Speziallager Sachsenhausen ist kein einfacher Ort. Zu den Inhaftierten des Speziallagers gehörten ebenso auch ehemalige Funktionäre des Nationalsozialismus. Angehörige von SS, Gestapo oder die Wachleute der KZ. Ebenso aber auch Mitarbeiter von Ministerien und Behörden, Verurteilte der sowjetischen Militärtribunale, Sowjetbürger, politische Gegner und willkürlich Verhaftete.

Über 60.000 Häftlinge hier im Speziallager. Über 12.000 Tote.

Hinter diesen unbegreiflichen Zahlen stehen jeweils menschliche Schicksale. Stehen einzelne Menschen, stehen ganze Familien. Jeder dieser Menschen hat einen Namen.

Es sind Menschen, deren Leben durch den brutalen Eingriff der Diktatur von einem Tag auf den anderen für immer verändert wurde. Es sind Menschen wie Karl-Heinz Vau.

Karl Heinz Vau ist Ende 1945 erst 16 Jahre alt, als er in Penzlin von russischen Soldaten verhaftet und stundenlang verhört wird. Seine Verhaftung wird geheim gehalten. Wo er ist, erfährt seine Familie nicht. Karl-Heinz Vau wird zu Unrecht vorgeworfen Teil der nationalsozialistischen „Werwolf“-Organisation zu sein. Er soll im Untergrund gegen die Sowjetarmee gekämpft haben. Karl-Heinz Vau soll für zwölf Jahre in ein Internierungslager. Sein Weg führt ihn hierher. In das Speziallager nach Sachsenhausen. Die unmenschlichen Haftbedingungen überlebt er nicht. Im März 1948, gerade 18 Jahre alt, stirbt er hier im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen. Einen Abschied hat es für die Familie nicht gegeben. Seine Eltern sterben, ohne je erfahren zu haben, wo ihr ältester Sohn geblieben ist. Erst sein Bruder kann nach Wiedervereinigung das Schicksal von Karl-Heinz Vau aufklären. Er war kein „Werwolf“. Seine Verhaftung, Verurteilung und Inhaftierung war willkürlich. Schließlich wird Karl-Heinz Vau rehabilitiert. Der Schatten der Diktatur reicht weit.

Das was die Menschen hier in Sachsenhausen, hier im Speziallager erlebt haben. Es wirkt nach. Es wirkt nach in den Menschen, die hier leiden mussten, aber Sachsenhausen überlebten. Sie müssen ihr Leben lang mit diesen Erinnerungen, mit dieser Bürde leben. Die Inhaftierung hier im Speziallager war keine Episode im Leben der Menschen. So, als wenn man einen Umweg nimmt, um dann aber auf dem normalen Lebensweg weiterzugehen. Die gesundheitlichen und psychischen Folgen begleiteten die Menschen Jahrzehnte, häufig bis an ihr Lebensende. Es wirkt ebenso nach in den Familien. Sachsenhausen hat das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen bis zum heutigen Tag geprägt. Der Schatten der Diktatur ist lang.

Was wurde meiner Mutter oder was wurde meiner Tochter hier angetan? Viel zu häufig fehlten den Menschen, egal ob jung oder alt, für diesen Austausch die Worte. Das Schweigen brechen, es ist leichter gesagt als getan.

Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Frau Kirchner-Roger und ihrer Mutter. Sie brechen das Schweigen. Durch ihre Schilderungen brechen Sie, wie auch andere Zeitzeugen, den Schatten der Diktatur.

Mein Dank gilt ebenso auch der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen. Sie helfen nicht nur den Betroffenen und Angehörigen bei der Schicksalsklärung. Sie halten seit mehr als 30 Jahren die Erinnerung wach.

Ein Besuch hier in Sachsenhausen, hier im ehemaligen sowjetischen Speziallager, führt uns einen blinden Fleck in unserem Geschichtsbewusstsein vor Augen.

Sind wir ehrlich: Unser Blick auf die Vergangenheit ist doch meist geprägt vom zweiten Weltkrieg, vom Nationalsozialismus, und schließlich von der DDR. Die Zwischenzeit - nach Ende des Weltkrieges und Gründung der DDR. Diese Zeit bleibt meist im Dunkeln.

Doch diese Zeit, zwischen 1945 und 1949, die Zeit der sowjetischen Besatzungszone. Diese Zeit ist mehr als eine Art Nachbeben des zweiten Weltkrieges. Diese Zeit zu verstehen, ist wichtig. Die Auseinandersetzung mit der SBZ kann wie ein Schlüssel sein. Ein Schlüssel zum Verständnis von Jahrzehnten Diktatur im Osten Deutschlands. Die Einschüchterung einer ganzen Gesellschaft – die Angst als Kitt der Diktatur. Sie fand in dieser Zeit ihren Anfang.

Umso beeindruckender ist der Widerspruch und Widerstand, der dennoch in der SBZ durch mutige Menschen geleistet wurde. Gerade in der Auseinandersetzung mit der SBZ können wir einem noch immer weit verbreiteten Mythos entgegentreten. Nein, der Sozialismus im östlichen Teil Deutschlands war eben nicht der Versuch einer besseren, gerechteren Gesellschaft. Ein Gesellschaftsmodell was gut begann und über die Jahre und Jahrzehnte auf die schiefe Bahn geriet. Das Speziallager Sachsenhausen zeigt uns eindrücklich, dass Repression und die Verletzung der Menschenrechte ein zentrales Instrument zum Machterhalt darstellte.

Dieser Ort, die Gedenkstätte in Sachsenhausen, trägt dazu bei, die historischen Zusammenhänge richtig zu verstehen.

Gleichzeitig kann uns als Gesellschaft dieser Ort und die Auseinandersetzung mit den Opfern dabei helfen, das Bewusstsein für den Wert der freiheitlichen Demokratie und der Menschenrechte zu stärken.

Gedenken wir heute den Opfern des Speziallagers in Sachsenhausen.

Wir denken aber ebenso auch an all die Familien, Verwandte und Freunde, die geliebte Menschen hier in Sachsenhausen verloren haben. Sie leben bis heute mit diesem schmerzlichen Verlust.

Die Opfer des Speziallagers Sachsenhausen und ihre Angehörigen. Wir vergessen sie nicht!

Vielen Dank

Marginalspalte