02.09.2023 | Parlament

Rede beim Treffen ehemaliger Heimkinder, Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau

Das Bild zeigt ein großen Raum mit vielen Menschen die auf Stühlen in mehreren Reihen sitzen. Vor ihnen steht eine Frau hinter einem Rednerpult und spricht. im Hintergrund hängt ein Monitor und ein Bild an der Wand.

Die SED-Opferbeauftragte bei ihrer Rede beim 19. Treffen ehemaliger Heimkinder in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. (© Team Zupke)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Simon,
sehr geehrte Frau Abgeordnete, liebe Frau Schenderlein,
liebe Frau Bering,
sehr geehrte Frau Schmidt,
sehr geehrte Frau Prof. Kavemann,
liebe Frau Beyler,
liebe Frau Rummel,
liebe Frau Thalheim,
liebe ehemalige Heimkinder, liebe Gäste,

ich bin dankbar, auch in diesem Jahr wieder hier bei Ihnen in Torgau zu sein.

Das Heimkinder-Treffen im letzten Jahr, die Begegnungen und die Gespräche mit Ihnen gingen mir noch lange nach. Mich hat es bewegt, von Ihnen ganz persönlich zu hören, was Sie in den Heimen erleben mussten, all das zu hören, was Sie bis zum heutigen Tag begleitet.

Wenn in der Öffentlichkeit über die repressive Heimerziehung in der DDR berichtet wird, dann wirkt diese häufig so weit weg. Sie wirkt wie etwas, was lange her ist, wie etwas, was sozusagen abgeschlossen und nur noch ein Teil unserer Geschichtsbücher ist.

Hier in Torgau aber, hier beim Heimkindertreffen, hier wird deutlich, dass die Zeit im Jugendwerkhof oder im Spezialheim das Leben der Menschen für immer verändert hat.

Die Auseinandersetzung mit der DDR-Heimerziehung ist eben nicht nur „der Blick zurück“.

Die erlebte Repression wirkt fort. Sie ist wie ein Schatten, den man nicht einfach abschütteln kann. Viele der Betroffenen können erst nach Jahrzehnten über das sprechen, was sie erlebt haben. Die Wand des Schweigens zu durchbrechen, dies ist leichter gesagt als getan.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der DDR-Heimziehung steht für mich daher ganz besonders die Frage:

Wie können wir als Gesellschaft den ehemaligen Heimkindern heute helfen?

Anfang des Jahres besuchte ich das ehemalige Kindergefängnis in Bad Freienwalde in Brandenburg. In den Tagen vor meinem Besuch informierte ich mich über die Debatte, die in den zurückliegenden Jahren um die Einrichtung des dortigen Mahnmals geführt wurde.

In einem RBB-Bericht wurden Bürgerinnen und Bürger in der Fußgängerzone über ihre Meinung zum Kindergefängnis und zum geplanten Mahnmal befragt: „Die Kinder sind da sicherlich nicht umsonst hingekommen, meine Meinung“, berichtete eine Frau Anfang 60. Eine weitere Frau, die interviewt wurde, war noch entschiedener: „Ich habe einige dieser Kinder kennengelernt, wissen Sie. Die haben kein Mahnmal verdient!“

Im ehemaligen Gefängnis traf ich dann genau diese Kinder. 
Menschen – heute erwachsen –, die als Kinder und Jugendliche Haft, Zwangsarbeit und auch seelische und körperliche Gewalt erleben mussten.
Menschen, die in jahrelangen Gerichtsprozessen für ihre Rehabilitierung kämpfen mussten und für ein Mahnmal, das an ihr Leid erinnert.

Ich vermute, viele von Ihnen wissen, was ich meine: Dieses ständige Erklären. Nein, ein Spezialkinderheim oder ein Jugendwerkhof waren keine normalen Einrichtungen! Es waren keine Orte, wo Kinder Schutz und Hilfe fanden. 
Diese Orte waren Orte der Repression. Orte staatlichen Unrechts, verübt an den Schutzlosesten in unserer Gesellschaft!

Mich schmerzt, dass wir auch mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer Tag für Tag diese Aufklärungs-, ja, fast schon Überzeugungsarbeit leisten müssen.

Als Alexander Müller mir davon erzählt hat, auf wieviel Ablehnung die „Blackbox Heimerziehung“ mitunter immer wieder trifft, hat mich das betroffen gemacht. Gleichzeitig zeigt es uns jedoch, wie wichtig diese Aufklärungsarbeit ist. Für manche ist die Blackbox eine Begegnung mit einem Teil unserer Geschichte, den man lieber ignorieren würde.

So, als ob es zwei DDRen gegeben hätte. Die DDR der Diktatur, der Einheitspartei, der Stasi, der Repression. Und eine zweite DDR: Die der Menschen und der „normalen“ Institutionen mit einem Heim-Erziehungssystem wie in jedem anderen Land auf der Welt auch.

Doch diesen Strich durch die Gesellschaft und durch die Institutionen gab es nicht!

Den tausenden ehemaligen Heimkindern sind wir es als Gesellschaft schuldig, dass dieses Kapitel unserer Geschichte nicht einfach zugeschlagen wird. An das erinnern und über das sprechen, was in den vielen Jugendwerkhöfen und Spezialheimen passiert ist, ist für mich ein ganz wesentlicher Aspekt.

Mir ist bewusst, dass nicht jeder Ort zu einer Gedenkstätte werden kann wie hier in Torgau. Da bin ich realistisch genug. Aber was ich mir wünsche ist, dass wir die Orte der früheren Jugendwerkhöfe und Spezialheime – diese Orte des Unrechts – stärker sichtbar machen. Im besten Falle eben nicht nur mit einer kleinen Gedenktafel, sondern – so wie es die Blackbox vorgemacht hat – mit Informationen, die helfen, den Ort und die Schicksale der Heimkinder den Menschen näher zu bringen.

Aber viele Menschen besuchen keine Gedenkstätte. Auch so wichtige Angebote wie die Blackbox erreichen sie nicht. Für sie brauchen wir andere Wege, damit sie sich mit der repressiven Heimeinziehung auseinandersetzen.

Das Online-Angebot „IM TAKT: Wege in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau“ hat daher nicht nur mich als SED-Opferbeauftragte beeindruckt. Auch die Jury des Grimme-Preises ist von dem Angebot überzeugt. Denn „IM TAKT“ zeigt eindrucksvoll, wie es mit digitalen Mitteln gelingen kann, Geschichte lebendig zu machen. Ganz besonders danken möchte ich Yvonne Günther, Jana Mendes-Bogas und Alexander Müller. Mit den bewegenden Schilderungen ihrer Erlebnisse im Jugendwerkhof geben sie der Geschichte Gesichter und Stimmen.

Der Dank gilt ebenso den Ideengebern für dieses Projekt: Gabriele Beyler, Manuela Rummel und Mike Plitt und allen anderen, die sich hierbei engagiert haben.

Jeder Cent für diese wichtige Arbeit hier in Torgau mit der Gedenkstätte und den Beratungsangeboten der Betroffeneninitiative ist eine Investition in unsere Demokratie.

Liebe Frau Thalheim, es beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue, wie Sie den Betroffenen nicht nur Halt geben, sondern für sie und mit ihnen für ihre Rechte kämpfen.

Ich bin den Mittelgebern, dem Bundestag und dem Sächsischen Landtag, der Stadt Torgau, der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, der Bundesstiftung Aufarbeitung, dem Sächsischen Justiz- und Demokratie-Ministerium und der Kulturstaatsministerin ausgesprochen dankbar.

Liebe Frau Bering, ich freue mich ganz besonders, dass Sie heute zum Heimkinder-Treffen nach Torgau gekommen sind. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass ich beim BKM immer wieder ein offenes Ohr für die Anliegen der Opfer finde.

Hier sehe ich, offen gestanden, bei manchem Ministerium im Bund noch deutlich Luft nach oben.

Gerade deshalb bin ich auch sehr dankbar, dass der Bundestag noch kurz vor der Sommerpause – zum Jahrestag des DDR-Volksaufstandes – einen grundsätzlichen Beschluss zur besseren Unterstützung der Opfer gefasst hat.

In seinem Beschluss würdigt der Bundestag nicht nur die jahrzehntelange Arbeit von Opferinitiativen und Gedenkstätten. Der Bundestag sieht auch den Handlungsbedarf, um die Lage der Opfer weiter zu verbessern. In seinem Beschluss hat der Bundestag die Bundesregierung ganz konkret aufgefordert, bei der anstehenden Überarbeitung der Reha-Gesetze die Impulse der SED-Opferbeauftragten zu berücksichtigen.

Zu diesen Impulsen gehört dabei für mich ganz wesentlich eine grundlegende Vereinfachung der Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden.

Oder, um es ganz plastisch zu sagen:

Wer als Kind oder Jugendlicher der repressiven Heimerziehung ausgesetzt war und heute unter einem Gesundheitsschaden leidet, darf nicht länger einem Marathon aus Begutachtungen und Ablehnungsbescheiden ausgesetzt sein!
Hier brauchen wir dringend eine grundlegende Veränderung. Wir brauchen ein System, das endlich die Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.

An die Opfer der SED-Diktatur, wie die ehemaligen Heimkinder, erinnern und die Betroffenen heute unterstützen, dies ist unser gemeinsamer Auftrag.

Ich bin Ihnen für Ihr unermüdliches Engagement dankbar. Sie leisten nicht nur einen Dienst für die Betroffenen, sondern ebenso für unsere ganze Gesellschaft.


Vielen Dank!

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