Grußwort bei der Ausstellungseröffnung „NIÑOS ROBADOS - GESTOHLENE KINDER - STOLEN CHILDREN“ im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
Ihre Exzellenz, sehr geehrter Herr Botschafter Brun,
Liebe Gyde Jensen,
liebe Anna Kaminsky,
liebe Frau Dr. Weitbrecht,
lieber Herr Dr. Huhle,
lieber Herr Ortega und lieber Herr Latotzky,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
in der letzten Woche war ich in Erfurt für eine Veranstaltung im ehemaligen Gefängnis zu Gast. Thema des Abends war die Situation von Kindern politisch Verfolgter.
Vor der Veranstaltung traf ich mich mit einer Frau, die heute in einem kleinen Dorf in Ostdeutschland lebt und die mir ihre Geschichte berichtete.
Als junge Frau gehörte sie zu denen, die nicht das taten, was der Staat in der DDR von jungen Menschen erwartete. Für ihre widerständige Haltung wurde sie 1974 unter fadenscheinigen Vorwänden inhaftiert.
Bei ihrer Verhaftung war ihr Sohn gerade einmal neun Monate alt. Aus der Familie gerissen, wurde ihr Sohn über Jahre in einem Kinderheim untergebracht. Ohne jeden Kontakt zu seiner Mutter. Nach vier Jahren Haft bekam sie Hafturlaub, um ihren schwerkranken Großvater zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit konnte sie zum ersten Mal auch ihren inzwischen fünfjährigen Sohn wiedersehen.
Begegnen musste sie ihm wie eine Fremde. Die Staatssicherheit hatte ihr gedroht und ihr auferlegt, sich nicht als seine Mutter zu erkennen zu geben.
Zurück im Gefängnis, zermürbt von all den Schikanen und dem seelischen Druck, willigte sie schließlich in die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit, der Geheimpolizei der DDR, ein.
Einfach nur raus aus dem Gefängnis. Einfach nur zurück zu ihrer Familie und vor allem zu ihrem Sohn.
Wenige Monate später wurde sie schließlich entlassen und kappte jede Verbindung zur Staatssicherheit. Die Erlebnisse aus der Haft aber und die jahrelange Trennung von ihrem Kind, verfolgen sie bis zum heutigen Tag.
Es sind diese persönlichen Begegnungen mit den Opfern des politisch motivierten Kindsentzugs, mit den Eltern und mit den Kindern, die mir immer wieder zeigen, wie das Leben der Betroffenen bis zum heutigen Tag von diesen einschneidenden Erlebnissen geprägt ist.
Erlebnisse, die wie ein Schatten sind. Ein Schatten, der die Opfer auch nach Jahrzehnten noch immer verfolgt.
Die Geschichte des politisch motivierten Kindsentzugs. Sie ist eben nicht nur ein Blick in die Geschichtsbücher. Es sind die Schicksale der Menschen, Eltern wie Kinder, die heute hier in unserer Gesellschaft leben.
Der politisch motivierte Kindsentzug hatte und hat weltweit unterschiedlichste Formen und Dimensionen. Was ihn verbindet, ist der repressive Eingriff des Staates in die Familie. Gleichwohl gilt es genau hinzuschauen und insbesondere auch die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie wahrzunehmen.
Die Ausstellung, die heute hier eröffnet wird, führt uns dabei aber auch schmerzhaft vor Augen, dass der Kindsentzug eben nicht nur ein Wesensmerkmal der Diktatur ist, sondern auch demokratische Gesellschaften sich mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinandersetzen müssen.
Ich bin Dir, liebe Anna Kaminsky, und der Bundesstiftung Aufarbeitung und Ihnen, liebe Frau Dr. Weitbrecht und der Elisabeth-Käsemann-Stiftung dankbar, dass Sie mit der Ausstellung den Blick richten auf ein Thema, das viel zu häufig nur im Hintergrund bleibt.
Oder aber – und dies erlebe ich auch häufig - besetzt wird mit Verschwörungserzählungen und einer undifferenzierten Stimmungsmache jenseits der Fakten.
Stolen Children. Die gewaltsame Trennung von Familien und Gemeinschaften.
Dass heute Abend auch Betroffene des politischen Kindsentzugs zu uns sprechen werden, ist etwas Besonderes. Für mich ist es immer wieder bewegend, wenn Opfer selbst über das sprechen, was ihnen widerfahren ist. Wenn sie der häufig meist zu abstrakt wirkenden Geschichte ein Gesicht geben. Das Schweigen zu brechen. Für Opfer ist dies eine große Herausforderung. Für unsere Gesellschaft ist es ein großer Gewinn. Vielen Dank, lieber Alexander Latotzky und vielen Dank, lieber Leonardo Fossati Ortega.
Ich bin überzeugt davon, dass gerade der Bundestag der richtige Ort ist für die Eröffnung dieser Ausstellung. Hier im Parlament, der Herzkammer unserer Demokratie, beraten wir nicht nur darüber, wie wir uns heute zu repressiven Regimen stellen.
Der Bundestag ist auch der Ort, an dem über die Unterstützung für die Opfer entschieden wird. Im Herzen unserer Demokratie auch über die dunklen Kapitel von Geschichte und Gegenwart zu sprechen und Lehren daraus zu ziehen.
Das ist aus meiner Sicht auch Arbeit an unserer Demokratie.
Vielen Dank!