24.04.2024 | Parlament

Rede bei der Verabschiedung der bisherigen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Birgit Neumann-Becker und Amtseinführung des neuen Landesbeauftragten Johannes Beleites

Das Bild zeigt eine Frau die hinter einem Rednerpult steht. Hinter ihr ein großes Fenster und links von ihr die Deutschlandfahne und Europafahne.

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke bei ihrer Rede anlässlich der Verabschiedung der bisherigen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Birgit Neumann-Becker und Amtseinführung des neuen Landesbeauftragten Johannes Beleites. (© BAB/ Frank Ebert)

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
sehr geehrte Abgeordnete,
liebe Birgit Neumann-Becker,
lieber Johannes Beleites,
sehr geehrte Gäste,

als ich im Bundestag erzählte, dass ich in dieser Sitzungswoche sozusagen einen Tag schwänze, um zu der Verabschiedung der Landesbeauftragten nach Sachsen-Anhalt zu fahren, wurde ich gefragt:

Wie war Birgit Neumann-Becker als Landesbeauftragte?

Für mich gibt es ein Erlebnis mit dir, was für mich viel ausdrückt, über die Art, wie du dieses wichtige Amt im letzten Jahrzehnt ausgefüllt hast.

2021 fand der Tag der deutschen Einheit in Halle statt.

Nach dem Festakt trafen wir, Birgit Neumann-Becker und ich, uns mit einem Mann, weil es dir, Birgit, wichtig war, dass ich als Opferbeauftragte des Bundestages seine Geschichte kenne.

Gemeinsam saßen wir in den Räumen von Zeitgeschichte e.V. Vor uns saß ein Mann Mitte fünzig und er berichtete uns von seiner Kindheit und Jugend, dem man als Klassenbesten das Studium verwehrte. Und wie in ihm seine Ablehnung gegenüber dem System wuchs. 

Gezwungen zu einer Lehre, machte er im Betrieb immer wieder den Mund auf. Er hinterfragte auch öffentlich die Missstände in der DDR. Schließlich war der Wunsch, das Land zu verlassen, so groß, dass er die Flucht über die Tschechoslowakei wagte.

Sein Fluchtversuch führte ihn jedoch nicht in die ersehnte Freiheit. Er wurde von Grenztruppen wenige Meter vor dem Ziel gefasst. Nach zwei Wochen Untersuchungshaft in Prag, wurde er zurück in die DDR gebracht und schließlich zu zweieinhalb Jahren ohne Bewährung verurteilt.  In seinem Urteil hieß es „er habe versucht, den Staat zu verraten, der ihm bisher alle Chancen zur persönlichen Weiterentwicklung“ gegeben habe.

Er wurde schließlich in Bitterfeld inhaftiert. Obwohl er unter der Wirbelsäulenkrankheit „Morbus Scheuermann“ litt, stufte der Gefängnisarzt ihn mit Tauglichkeitsstufe 3 ein.  Tauglich für schwere körperliche Arbeit.

Im Chemiekombinat Bitterfeld wurde er als Kupferschlosser eingesetzt. Seine Aufgabe war es, aus Natriumchlorid konzentrierte Natronlauge, Chlor und Wasserstoff herzustellen. Hierfür musste er an Becken mit hochgiftigem, dampfenden Quecksilber arbeiten. Besondere Schutzkleidung gab es nicht. Keine Sicherheitsschuhe. Keine Masken. Keine Gebläse. Sogar die Fenster waren zugemauert. Er wurde krank. An den Folgen seiner Haft und der Zwangarbeit leidet er bis heute. Seit Jahrzehnten kämpft er darum, dass seine heutige Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt wird. Die zuständigen Stellen aber sahen und sehen keinen Zusammenhang zwischen seiner heutigen gesundheitlichen Schädigung und seiner Zwangsarbeit in der Haft im Chemiekombinat Bitterfeld. Einen Behördenmarathon, den er seit Jahren auf der Suche nach Gerechtigkeit durchläuft . Einen Marathon, bei dem er dich als Landesbeauftragte an seiner Seite hatte. Auch wenn seine Geschichte bisher kein „Happy End“ hat, so warst du es doch, die ihm immer wieder Rückhalt gegeben hat. Die sein Anliegen weitergetragen hat, als ihm die Kraft dafür fehlte.

Es sind diese Schicksale. Die Schicksale von Menschen, die in der Diktatur widersprochen haben und die heute mitunter an den Rand unserer Gesellschaft geraten, die dich immer wieder antrieben. Antrieben, um für die Betroffenen nach Lösungen zu suchen. Und antrieben, um in Politik und Gesellschaft für Veränderungen zu sorgen.

Für diesen Einsatz möchte ich dir ganz herzlich danken.

Heute ist aber nicht nur ein Tag des Abschieds, sondern gleichzeitig ein Tag des Neubeginns.

Lieber Johannes Beleites, ich freue mich, dass mit Ihnen jemand in das Amt gewählt wurde, der durch seine eigene Biografie ein Gespür dafür hat, was es für Menschen bedeutet, Widerspruch in der Diktatur zu üben. 

Ganz besonders freue ich mich, dass Sie direkt bei Ihrem ersten Interview nach Ihrer Wahl auf die großen Herausforderungen bei der Anerkennung der verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden hingewiesen haben.

Es ist erschütternd. Dem Bericht der Landesbeauftragten kann man entnehmen, dass seit 2015 hier in Sachsen-Anhalt nur einem einzigen Betroffenen die Anerkennung seiner Gesundheitsschäden gelungen ist. In den nächsten Monaten werden die Bundesregierung, der Bundestag und schließlich der Bundesrat die SED-Unrechtsbereinigungsgesetze überarbeiten. Wir haben es in der Hand, hier endlich für so dringend notwendige Veränderungen zu sorgen. Hier baue ich auch auf das Land Sachsen-Anhalt, auf den Landtag und auf die Landesregierung. Und ganz besonders auf den neuen Landesbeauftragten.

Niemand, der im SED-Unrechtsstaat für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft hat, sollte heute, in unserer demokratischen Gesellschaft, ins Abseits geraten.

Vielen Dank!

 

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