17.06.2023 | Parlament

Rede anlässlich des 70. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953

Das Bild zeigt einen Platz im Freien, im Hintergrund steht ein großer Gedenkstein mit vielen Blumenkränzen davor. Recht und links vom Denkmal stehen drei Männer in Uniform. Im Vordergrund steht eine Frau, sie hält ein Mikrofon und Zettel in der Hand. Sie spricht.

Die SED-Opferbeauftragte bei ihrer Gedenkrede anlässlich des 70. Jahrestages zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953, Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus auf dem Steinplatz in Berlin. (© DBT / Team Zupke)

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Wagner,
sehr geehrte Frau Vorsitzende Stückler,
sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender, lieber Hugo,
meine Damen und Herren,

vor zwei Jahren, kurz nachdem ich mein Amt als SED-Opferbeauftragte beim Deutschen Bundestag angetreten hatte, saß ich mit einer kleineren Opfer-Initiative zusammen. Eine ältere Frau nahm mich beiseite und sagte zu mir:

„Frau Zupke, in zwei Jahren begehen wir den 70. Jahrestag des Volksaufstandes. Es ist kein 50. oder 75. Jahrestag. Aber für uns ist dieser Tag so wichtig, gerade für uns Ältere. Hoffentlich wird dieser Tag, hoffentlich werden wir Opfer nicht vergessen.“

Mir sind diese Worte lange nachgegangen. Der Kampf gegen das Vergessen.
Das ist für mich nichts Abstraktes.

Für mich ist der Kampf gegen das Vergessen unser täglicher Auftrag.
Es ist unsere Aufgabe, dass die Opfer des DDR-Volksaufstandes und insgesamt der Repression in SBZ und SED-Diktatur nicht vergessen werden. Ich bin daher dankbar dafür, dass der Bundestag nicht bis zum 75. Jahrestag gewartet hat.
Im Bundestag wurde am gestrigen Tag, zum 70. Jahrestag, den Opfern des Volksaufstandes gedacht. Eine Gedenkstunde, bei der eben nicht nur der Bundespräsident gesprochen, sondern die Schicksale der Opfer in den Mittelpunkt gestellt wurden.

Es waren junge Schülerinnen und Schüler, die die Berichte von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen des Volksaufstandes vortrugen. Die Berichte von Menschen, die damals in ihrem Alter waren. Die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen wiederum saßen bei der gestrigen Gedenkstunde als Ehrengäste auf der Tribüne.

Die Opfer der Diktatur in der Mitte unserer Demokratie. Ein stärkeres Signal kann es für mich nicht geben.

Besonders bewegt hat es mich, als Frank Nemetz, VOS-Vorsitzender aus Sachsen, selbst ans Rednerpult trat. Seine Schilderung ging unter die Haut. Gerade durch seinen Beitrag wurde jedem Abgeordneten, jedem Minister und jeder Ministerin, dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten deutlich, was es bedeutet, Opfer einer Diktatur zu werden.

Ja, die Auseinandersetzung mit dem 17. Juni 1953 ist wichtig für unsere Gesellschaft. Der DDR-Volksaufstand führt uns schmerzhaft vor Augen, dass Einschüchterung, Repression und gelenkte Justiz von Anfang an Wesensmerkmale der Diktatur im Osten Deutschlands waren.

Für mich ist die Auseinandersetzung mit dem 17. Juni daher wie eine Art Medizin gegen die Verklärung der DDR.

Diktaturen klar als Diktatur zu benennen. Das erscheint mir heute wichtiger denn je. 
In diesen Tagen wird viel über Opferzahlen gesprochen. Die Opfer des 17. Juni und insgesamt der Repression in SBZ und DDR. Diese Zahlen sind wichtig, um die Dimensionen der Gewalt zu verstehen. Schnell geraten hierbei aber jedoch die einzelnen Menschen aus dem Fokus.

Wenn ich an den 17. Juni 1953 denke, denke ich an Menschen wie Herbert Kaiser aus Leipzig. Herbert Kaiser stand schon vor dem 17. Juni 1953 mit dem System in Konflikt.
Anfangs war er noch überzeugt vom Sozialismus. Was folgte, war eine Entfremdung und schließlich trat er 1951 aus der SED aus. 

Noch im gleichen Jahr wird er aus dem Dienst bei der Volkspolizei entlassen und muss sich als Transportarbeiter durchschlagen. Am Morgen des 17. Juni gehört er zu den ersten Demonstranten. Gemeinsam mit weiteren stürmt er den Wachraum der Transportpolizei im Leipziger Hauptbahnhof.
Am Abend wird er verhaftet und die ganze Nacht verhört. „Boykotthetze“ wird ihm vorgeworfen. Am 19. Juni wird er „dem Freund überstellt“, wie es in den Akten heißt.
Herbert Kaiser wird einen Tag später vom sowjetischen Militärtribunal zu Tode verurteilt und am 15. Dezember des gleichen Jahres in Moskau erschossen.
Für die Familie bleibt Herbert Kaiser nach dem Volksaufstand einfach verschwunden.

Alles, was ihnen staatliche Stellen auf ihre Fragen mitteilte war:
„Vielleicht hat er sich in den Westen abgesetzt.“
Erst fünfzehn Jahre später erhält die Familie eine offizielle Sterbeurkunde. Ausgestellt auf den 15. Dezember 1953. Sterbeort Moskau. Seine Frau und seine vier Kinder konnten sich noch nicht einmal von ihm verabschieden.

Herbert Kaiser wird fünfzig Jahre nach seinem Tod 2003 auf Betreiben seiner Familie rehabilitiert.

Ein Grab gibt es nicht für ihn. Dank der VOS aber, wird an das Schicksal von Herbert Kaiser seit 1994 gedacht. Nur aufgrund eures Engagements, liebe VOS, gibt es seit nunmehr fast 30 Jahren einen Gedenkstein. 

Einen Gedenkstein, auf dem Leipziger Südfriedhof, auf dem namentlich an Herbert Kaiser erinnert wird. Und an die vielen weiteren Opfer des 17. Juni.

Der Kampf gegen das Vergessen.

Es ist unser gemeinsamer Auftrag. Nicht nur am 17. Juni, sondern jeden Tag aufs Neue.

Vielen Dank!

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