14.03.2024 | Parlament

Grußwort bei der Buchpräsentation
„Jugendhaus Halle: “Die Schlägerei hört einfach nicht auf„ - Gefängnisalltag (1971-1990)“ in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Auf dem Foto ist eine Frau abgebildet, die in einem Saal vor dem Publikum eine Rede hält.

Die SED-Opferbeauftragte hält bei der Buchpräsentation „Jugendhaus Halle: “Die Schlägerei hört einfach nicht auf„ - Gefängnisalltag (1971-1990)“ in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eine Rede. (© Team Zupke)

Lieber Helge Heidemeyer,
lieber Udo Grashoff,
liebe ehemalige Inhaftierte der Jugendhäuser,
sehr geehrte Gäste,

- Dessau
- Hohenleuben
- Torgau
- Gräfentonna
- Halle

Die Tätowierung auf seinem Oberarm zeigte zwei Hände in Handschellen. Darunter ein Spruchband

„Let me be free“

Statt nur den Spruch zu entfernen, wurde im Haftkrankenhaus das gesamte Spruchband entfernt, das über die ganze Breite des Armes verlief. Die Haut wurde einfach abgezogen. Ohne Narkose. 

„Ich bin auf einem Operationstisch angeschnallt worden. Hab so eine Art Knebel in den Mund bekommen, und dann kam der Arzt rein und der hat gesagt: Wer diese Art Tätowierung aushält, der hält auch aus, dass mans wegmacht. Und dann hat er sein Skalpell angesetzt. Ich habe zuschauen können, wie der die Haut mit der Pinzette anhob und wegzog.“ Was blieb war eine Narbe. Eine Narbe, die immer wieder aufriss. 

Es sind Schilderungen wie diese aus dem Leben der ehemaligen Häftlinge des Jugendhauses Halle, die mich immer wieder aufwühlen. Es sind Schilderungen aus dem Buch von Udo Grashoff, die uns vor Augen führen, dass das Jugendhaus in Halle kein „normaler“ Jugendstrafvollzug war. Das Jugendhaus in Halle war Teil des Repressionsapparats der SED-Diktatur. Und ich möchte ergänzen: Ein besonders perfider. 
Die Hölle von Halle. 

Sie begleitet die Menschen ein Leben lang. Manche von ihnen haben die Kraft, über das Erlebte sprechen zu können. Viele von ihnen schweigen bis heute. Bei vielen sitzt die Traumatisierung zu tief. Und gleichzeitig ist da auch eine Angst vor Stigmatisierung. Dieses: „Naja. Jugendstrafvollzug. Das wird schon seine Richtigkeit gehabt haben. Sowas gab es im Westen doch auch.“

Es ist eine Sichtweise, welche wir auch über 30 Jahre nach dem Ende der DDR noch immer häufig finden. Es ist, als ob es zwei DDRen gegeben hätte: Die DDR der Diktatur, der Einheitspartei, der Staatssicherheit. Und eine zweite DDR: Die der Menschen und der „normalen“ Institutionen. Es ist, als wenn man einen Strich ziehen würde, durch die Gesellschaft und auch durch die Institutionen. Diese Sichtweise wirkt auf mich auch häufig so, wie eine Art Kompromiss-Angebot an all die Menschen, die sich bis heute mit der Beschreibung der DDR als Diktatur - als Unrechtsstaat - schwertun. 

Die Geschichte der Jugendhäuser zeigt uns jedoch, dass die Diktatur eben nicht nur im direkten Einflussbereich der Staatssicherheit zu finden ist. Die DNA der SED-Diktatur war die Durchdringung der Institutionen. Institutionen, wie die des Jugendstrafvollzugs. 

Ja, nicht jeder Inhaftierte im Jugendhaus saß dort als Strafe für widerständiges Verhalten. Alle Inhaftierten aber waren betroffen von den menschenunwürdigen Bedingungen ihrer Haft. Gerade dieser Umstand, die unterschiedlichen Hintergründe der Inhaftierung, stellen uns heute vor große Herausforderungen, wenn es um Fragen der Rehabilitierung geht. 

Ich bin dankbar, dass die Gerichte zunehmend das teils grobe Missverhältnis zwischen Tat und den Haftbedingungen in ihren Urteilen stärker berücksichtigen. Oder um es mit den Worten des Brandenburgischen Oberlandesgerichtes zu sagen: „Für die Verhängung dieser Strafe, der Einweisung ins Jugendhaus, bestand kein Anlass. Dies gilt insbesondere, weil es in Jugendhäusern toleriert und gewollt war, dass Mitgefangene gequält, misshandelt und schikaniert wurden.“ Und ich möchte ergänzen: Nicht nur durch Mitgefangene, sondern ebenso auch durch das Personal. 

Die Erlebnisse im Jugendhaus. Sie begleiten die Menschen durch ihr gesamtes Leben.

Das Bild der Narbe des Häftlings. Die immer wieder aufreißt. Für mich steht es stellvertretend für das, was den jungen Menschen im Jugendhaus angetan wurde. Für das, was ihnen auf ihren Lebensweg mitgegeben wurde. Sie tragen diese Narben durch ihr gesamtes Leben. 

Narben auf der Haut.
Narben auf der Seele.
Ein Leben lang.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Jugendhäuser und insbesondere mit der Geschichte der Häftlinge, kann uns helfen, unseren Blick in der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und ihrer Folgen zu schärfen. 

Ich bin ihnen, Udo Grashoff, dankbar für ihr Buch. Und all den ehemaligen Häftlingen, die heute über die Zeit im Jugendhaus sprechen. Sie holen die dunkle Geschichte des Jugendhauses Halle und seiner Häftlinge ins Licht. Sie leisten damit einen ganz wesentlichen Beitrag, damit wir als Gesellschaft lernen zu verstehen, wie Diktatur funktioniert. 

Das Wissen um die Strukturen der Diktatur. Es schützt uns nicht vor Fehlern im Heute. Es kann uns aber wachsam machen dafür, wenn auch heute durch repressive Regime Menschenrechte verletzt und missachtet werden.

Die Auseinandersetzung mit dem Jugendhaus Halle. Sie ist Aufklärung über ein dunkles Kapitel unserer Geschichte. Aber sie ist ebenso – und das sage ich ganz bewusst als SED-Opferbeauftragte des Bundestages – sie ist ebenso auch Arbeit an unserer Demokratie. 

Vielen Dank!

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