Bundestagspräsidentin und SED-Opferbeauftragte im Gespräch mit Zeitzeugen des DDR-Volksaufstandes
Im Anschluss an die parlamentarische Gedenkstunde am 16. Juni 2023 zum 70. Jahrestag des DDR-Volksaufstandes empfing Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Karin Sorger, Helfried Dietrich, Siegfried Keil und Frank Nemetz sowie Schülerinnen und Schüler Zelal Tekin, Severin Koerner von Gustorf und Jonas Pietschmann von der Berliner Anna-Essinger-Gemeinschaftsschule für einen gemeinsamen Austausch.
Bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag hatten die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Schülerinnen und Schüler eine besondere Rolle. Während Frank Nemetz selbst von seinen Erlebnissen des 17. Juni 1953 berichtete, wurden die weiteren Augenzeugenberichte durch die Schülerinnen und Schüler vorgetragen.
Im Gespräch mit der Bundestagspräsidentin berichteten die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von ihren persönlichen Erlebnissen in den Tagen des DDR-Volksaufstandes und dem späteren Lebensweg.
Frank Nemetz erzählte davon, er war 1953 neun Jahre alt, wie sein Vater in der Nacht vom 17. Juni nach einer Demonstration mit „zehntausende Demonstranten“ in Leipzig nach Hause kam. Viele hätten versucht, die Staatsanwaltschaft und die Stasihaftanstalt zu erstürmen. „Sie wollten die politischen Häftlinge befreien.“ Dabei wurde der 19-jährige Gießer Dieter Teich erschossen. Später gerät auch Frank Nemetz selbst in Konflikt mit dem DDR-Staat und wird schließlich 1968 selbst verhaftet und im Kaßberg-Gefängnis im heutigen Chemnitz inhaftiert. Im Herbst 1989 beteiligte sich Nemetz selbst an den Montagsdemonstrationen in Leipzig. Seither engagiere er sich als Landesvorsitzender der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V: für ehemalige politische Gefangene.
Aufgewachsen in Eisleben, einer kleinen Stadt im Mansfelder Land, geprägt vom Tagebau und Hüttenindustrie, erinnerte sich Helfried Dietrich an den Volksaufstand: „Das Gebäude der SED-Parteileitung im Mansfeld-Kombinat war gestürmt worden. Die Straße war voll mit Akten, Schreibmaschinen und Mobiliar, das aus den oberen Etagen geworfen worden war. Ein ähnliches Bild bot auch die Kreisparteileitung der SED. Am nächsten Tag waren russische Soldaten mit Panzern da, die mit ein paar Schüssen aus der Maschinenpistole in die Luft schnell für eine Beendigung der Demonstrationen sorgten. Es gab zahlreiche Verhaftungen, manchmal aus nichtigem Anlass.“
1986 stellte er mit seiner Familie einen Ausreiseantrag, der nach dreieinhalb Jahren und ständigen Schikanen genehmigt wurde. Jahrelang arbeitete er in einem Großbetrieb der Industrie in Hamburg als Projektingenieur. Seit über 20 Jahren ist er selbständig und betreibt eine Firma für Maschinen- und Anlagenbau. Heute lebt er in Norderstedt, Schleswig-Holstein. Helfried Dietrich engagiert sich insbesondere für die Anerkennung von Rentenansprüchen von früheren DDR-Flüchtlingen.
Als die damals 15jährige Karin Sorger vom Streik hörte schnappte sie sich ihr Fahrrad und fuhr in die Richtung der Hauptstraße, um zu sehen, was los war. „Wir wohnten in einem kleinen Reihenhaus an der Peripherie von Magdeburg, etwa sieben Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Auf der Hauptstraße kamen mir russische Panzerspähwagen entgegen. Die Russen waren in den umliegenden Wäldern stationiert, und normalerweise bekamen wir sie nicht zu Gesicht. Dieses Aufgebot an Kriegsmaterial flößte mir solche Angst ein, dass ich schleunigst umdrehte und nach Hause zurückkehrte, zumal mein Vater nicht wusste, dass ich unterwegs war.“ Jahre später erfuhr sie, dass der 15 jährige Paul Ochsenbauer aus ihrer Stadt in Leipzig in die Innenstadt gefahren war und am Abend nach Ausrufung des Ausnahmezustands festgenommen worden war, weil er ein Plakat abgerissen haben sollte. Er ist an unbekanntem Ort erschossen worden. Sorger wurde später Ärztin und lehnte einen Anwerbeversuch als Inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi ab. 1977 scheiterte ihr Versuch, zu fliehen. Sie wurde verurteilt, saß im Frauenzuchthaus Hoheneck und gelangte im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik. Regelmäßig berichtet sie als Zeitzeugin Schülerinnen und Schülern und Studierenden von ihren Erlebnissen.
„Am Morgen des 17. Juni musste sich unser Klassenteam vor der Feuerwache treffen und wir wurden von unserem Lehrmeister informiert, wir gingen nun geschlossen unter seiner Leitung zur Hauptverwaltung des Chemiewerkes und stürzten den dortigen russischen Generaldirektor.“, erinnert sich Siegfried Keil an den 17. Juni 1953. Die Schlosserlehrlinge im ehemaligen Chemiewerk Leuna schlossen sich dem Demonstrationszug in Richtung Merseburg an. Am nächsten Tag, das Leuna-Werk war zu dieser Zeit das größte Werk in der DDR mit 29.000 Beschäftigten, war die gesamte Straßenseite von 10 Kilometer Länge mit russischen Panzern und bewaffneten Polizeikräften abgesperrt, „wir bekamen Angstgefühle“. 1954 wurde Keil wegen kritischer Äußerungen zur Volkskammerwahl verhaftet und wegen sogenannter „Boykotthetze“ zu eineinhalb Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Bei der Haftentlassung musste er eine Erklärung zur Schweigepflicht unterzeichnen. Eine Wiedereinstellung in Leuna war für ihn als ehemaliger politischer Häftling nicht möglich. Siegfried Keil lebt heute in Bendorf in Rheinland-Pfalz.
Die Schülerinnen und Schüler und ebenso auch die Bundestagspräsidentin nutzten das Gespräch, um die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und ihre jeweilige Biografie näher kennenzulernen. Was heißt es in einer Diktatur zu leben? Wie haben die Erlebnisse des 17. Juni 1953 das weitere Leben geprägt? All dies waren Fragen, zu denen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen Eindruck vom Leben im geteilten Deutschland vermitteln konnten, der eindrücklich zeigte wie sehr die politische Repression das Leben der Menschen über Jahrzehnte prägte.
Für die SED-Opferbeauftragte ist die parlamentarische Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes und die persönliche Begegnung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit der Bundestagspräsidentin Ausdruck großer Wertschätzung: „Ehemalig politisch Verfolgten und den Schicksalen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des DDR-Volksaufstandes im Herzen unserer Demokratie eine Stimme zu geben, ist ein Signal, das weit über den Jahrestag hinaus strahlt. Für mich war insbesondere beeindruckend zu sehen, wie sehr junge Menschen sich für die Geschichte begeistern können, wenn sie sich mit den konkreten Schicksalen auseinandersetzen.“