Parlament

Kolumne der Wehrbeauftragten - Mai 2022

Eine Frau mit blonden Haaren und hellblauem Blazer steht vor einer Betonwand.

Wehrbeauftragte Eva Högl (DBT/Inga Haar)

Liebe Soldatin, lieber Soldat,

das neue Beurteilungssystem bewegt Sie offensichtlich. Bei meinen Truppenbesuchen sprechen sowohl Beurteiler als auch Beurteilte das Thema immer wieder an. Rund 30 Petentinnen und Petenten haben sich bereits mit einer Eingabe an mich gewandt. Die Sorgen und Fragen der Soldatinnen und Soldaten sind nachvollziehbar. Denn die Beurteilung entscheidet über zentrale Fragen des beruflichen Fortkommens, ob bei Beförderungen, Laufbahnaufstiegen oder dem Wunsch, in den Berufssoldatenstatus zu wechseln.

Gleichzeitig halte ich die Einführung der neuen Beurteilungsvorschrift für einen richtigen Schritt. Im alten System konnten sich nämlich selbst Soldatinnen und Soldaten mit herausgehobenen Wertungen nicht immer für eine Förderung qualifizieren. Durch die Inflation von Spitzennoten waren die Beurteilungen vor der Reform kaum noch aussagekräftig. Ein Beispiel aus dem Jahr 2020 veranschaulicht dieses Problem: Von rund 1.300 beurteilten Offizieren des militärfachlichen Dienstes der Besoldungsstufen A 12 und A 11/A 12 erzielten fast 1.100 ein Spitzenergebnis im Wertebereich zwischen 8,0 und 9,0, während nur gut 200 Offiziere Beurteilungsnoten in dem darunter liegenden Wertekorridor zwischen 6,0 und 7,99 erhielten. Keine Beurteilung lag im Wertebereich zwischen 4,0 und 5,99. Eine Papierlage, die über 80 Prozent der Beurteilten ein hervorragendes Leistungsbild bescheinigte, eignete sich ebenso wenig als Grundlage gerechter Auswahlverfahren für förderliche Verwendungen wie als Basis für alle übrigen Personalentwicklungsentscheidungen.

Wenn sich Beurteilte in Gesprächen und Eingaben an mich wenden, fühlen sich viele von ihnen mit dem Notenwert „D“ zu schlecht eingeschätzt, obwohl diese Wertung bedeutet, dass der Soldat oder die Soldatin die Anforderungen in vollem Umfang erfüllt und teilweise sogar übertroffen hat. Die Wertung „D“ liegt sogar im oberen Bereich der sogenannten Normalleistung. Selbst mit einem „E“ erfüllt man die Anforderungen noch vollständig und erledigt die Aufgaben gänzlich zufriedenstellend. Auch das „E“ liegt noch im Spektrum des Normalwerts. Mein Eindruck ist, dass alle am Beurteilungsprozess Beteiligten die Abkehr von der „Inflationsbeurteilung“ und Hinwendung zu einer ehrlichen Differenzierung erst als Chance begreifen müssen.

In vielen Eingaben beschweren sich Petentinnen und Petenten, die zu sogenannten Kleinstvergleichsgruppen gehören. Sie tragen die Sorge vor, nach der neuen Vorschrift keine Chance auf ein gutes Gesamturteil zu haben. In der Beurteilungsvorschrift sind Richtwerte festgelegt, wonach nur 30 Prozent der Angehörigen einer Vergleichsgruppe die Noten „A“, „B“ oder „C“ erhalten sollen. In einer aus zwei Personen bestehenden Vergleichsgruppe könne damit rein rechnerisch immer nur einer der beiden eine der Höchstnoten erhalten, so die Sorge der Petenten. Das Verteidigungsministerium hat mir gegenüber wiederholt betont, dass diese Befürchtung unbegründet sei. Die Richtwertvorgaben fänden bei Vergleichsgruppen unter 20 Personen keine unmittelbare Anwendung. Entgegen der Befürchtung der Petentinnen und Petenten könnten bei Klein- und Kleinstvergleichsgruppen auch mehrere Spitzennoten vergeben werden. Im Gegenteil bestehe bei kleinen Vergleichsgruppen eher die Gefahr, dass die beurteilenden Vorgesetzten zu viele Spitzennoten vergeben. Dies zu vermeiden liegt in der Verantwortung des sogenannten Gesamtverantwortlichen, in der Regel dem Inspekteur des jeweiligen Organisationsbereichs. Er muss am Ende des Abstimmungsprozesses die Perspektive für seinen gesamten unterstellten Bereich einnehmen und die Einhaltung der Richtwertvorgaben durch die Vorgabe hierarchieübergreifender vergleichbarere Beurteilungsmaßstäbe an seine unterstellten Beurteilerinnen und Beurteiler sicherstellen.

Eine Chance auf Beurteilungsgerechtigkeit

Die Eingaben und Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten zeigen mir, dass das neue Beurteilungssystem noch nicht bei allen Beurteilern und Beurteilten uneingeschränkte Akzeptanz findet. Aus meiner Sicht ist es daher besonders wichtig, den Soldatinnen und Soldaten das neue System transparent und überzeugend zu erklären. Hier sind die Fachleute in den Personalbereichen der Truppe gefragt, aber auch die beurteilenden Disziplinarvorgesetzten. Und natürlich dürfen die Richtwertvorgaben auf keiner Ebene missachtet werden. Nur auf diesem Weg kann sich das neue Beurteilungssystem zu einem akzeptierten Führungsinstrument in einem von Vertrauen geprägten Miteinander in der Bundeswehr entwickeln. In besonderer Weise ist aber weiterhin der Herausgeber der neuen Beurteilungsvorschrift gefragt, die Personalabteilung im Verteidigungsministerium. Wie nach jeder umfassenden Reform müssen die Verantwortlichen mögliche Schwachpunkte des neuen Systems erkennen und beheben. Diesen Prozess werde ich in den nächsten Monaten eng begleiten. Grundsätzlich wünsche ich mir aber, dass alle Betroffenen dem neuen System zunächst einmal eine Chance geben. Dabei halte ich einen Aspekt für ausschlaggebend: Die Anwendung der neuen Vorschrift führt nicht etwa dazu, dass es in der Bundeswehr weniger Fördermöglichkeiten gibt als zuvor. Allein das Notenspektrum wird wieder stärker differenziert und damit auch die Aussagekraft der Wertungen. Die Soldatinnen und Soldaten erhalten ehrlichere Aussagen über ihre Leistungen wie auch ihre Fördermöglichkeiten. Hierin liegt aus meiner Sicht die Chance für einen Zugewinn an Beurteilungsgerechtigkeit.

Mit herzlichen Grüßen

Eva Högl,
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages

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