Kolumne der Wehrbeauftragten - September/Oktober 2022
Liebe Soldatin, lieber Soldat,
seit dem Angriff Putins auf die Ukraine wird viel über die Bundeswehr, ihre Aufgaben, Aufstellung und Ausstattung gesprochen. Alle sind sich einig, dass die Landes- und Bündnisverteidigung nun oberste Priorität haben muss. Dafür gilt es, die Einsatzbereitschaft der Truppe zu erhöhen und insbesondere ihre Kaltstartfähigkeit zu verbessern.
Der Deutsche Bundestag hat noch vor der parlamentarischen Sommerpause wichtige Weichen hierfür gestellt, allen voran das 100 Milliarden Euro Sondervermögen eingerichtet und ein Gesetz, das Vergabeverfahren und Beschaffungsprozesse erheblich beschleunigen soll, verabschiedet. Das ist notwendig, um die materielle Ausstattung der Bundeswehr – von der persönlichen Ausrüstung bis zum Großgerät – zu verbessern. Wenn es um Einsatzbereitschaft geht, verengt sich der Blick leider allzu oft auf das Material. Dabei bedeutet Einsatzbereitschaft weit mehr.
Einsatzbereitschaft bedeutet eine personell gut aufgestellte Bundeswehr. Schon heute fehlt es an Personal. Viele Verbände haben keinen personellen Puffer. Bis 2031 soll die Bundeswehr sogar auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten aufwachsen. Geeignetes Personal gewinnen, binden und entwickeln sowie zur richtigen Zeit auf den passenden Dienstposten setzen – das ist eine große Herausforderung und unabdingbar, um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr dauerhaft und nachhaltig zu erhöhen.
Die zusätzlichen Soldatinnen und Soldaten brauchen Unterkünfte und Büros, Nasszellen, Truppenküchen und Betreuungseinrichtungen, das neue Gerät erfordert Spinde und Stauräume, Lagerhallen und Schleppdächer. Die neue F-35A wird wenig bringen, wenn sie bei Wind und Wetter unter freiem Himmel stehen muss. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist es nicht. Viele Kasernen sind in keinem guten Zustand. Unter welchen Bedingungen unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst leisten, ist teilweise unzumutbar. Einsatzbereitschaft bedeutet auch eine gute und zeitgemäße Infrastruktur. Hier braucht es eine echte Kraftanstrengung aller beteiligten Stellen und Ebenen, zivil wie militärisch.
Material, Personal und Infrastruktur – dieser Dreiklang ist entscheidend zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft. Es gibt jedoch noch eine weitere Dimension, die es zu berücksichtigen gilt. Soldatinnen und Soldaten müssen auch im Kopf einsatzbereit sein. Sie müssen wissen, wofür sie eintreten, im Ernstfall auch unter Einsatz ihres Lebens. Als überzeugte Staatsbürgerinnen bzw. Staatsbürger in Uniform unseren Frieden, unsere Freiheit und Demokratie verteidigen zu wollen – auch das bedeutet Einsatzbereitschaft.
Wer das als weichen, zu vernachlässigenden Faktor ansieht, irrt sich. Und zwar gewaltig. Das zeigt der schreckliche Krieg in der Ukraine. Die ukrainische Armee ist den russischen Streitkräften deutlich unterlegen, was Material, Personal und Infrastruktur angeht. Doch: Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten wissen ganz genau, wofür sie kämpfen – für ihre Freiheit, Selbstständigkeit und Demokratie. Diese innere Überzeugung verleiht ihnen eine völlig andere Kraft und Energie. Sie weckt den Mut, über das normal Erwartbare hinauszugehen, eigene, persönliche Belange hintanzustellen und für das große Ganze einzustehen. Das zeichnet die bisher so tapfere und bemerkenswerte Verteidigungsfähigkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer aus.
Innere Überzeugung, geistige Rüstung oder, wie es neuerdings so oft heißt, das richtige Mindset – auch das ist wesentlicher Bestandteil von Einsatzbereitschaft. Und auch das gilt es zu stärken. In diesem Sinne sollten etwa die Grundsätze der Inneren Führung in den Blick genommen, geschärft und weiterentwickelt werden. Es ist gut, dass am Zentrum Innere Führung genau hieran bereits engagiert gearbeitet wird. Denn nur so kann die volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr – in all ihren Dimensionen und Facetten – hergestellt werden.
Mit herzlichen Grüßen
Eva Högl,
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages