Parlament

Kolumne der Wehrbeauftragten - Februar 2023

Eine Frau mit blonden Haaren und hellblauem Blazer steht vor einer Betonwand.

Wehrbeauftragte Eva Högl (DBT/Inga Haar)

Liebe Soldatin, lieber Soldat,

am 27. Februar 2022 rief Bundeskanzler Scholz die Zeitenwende aus. Ein Jahr ist seitdem vergangen. Und die Frage ist: Was hat sich für die und in der Bundeswehr seither verändert?

Für unsere Soldatinnen und Soldaten sehr viel. Sie wurden binnen kürzester Zeit zur Verstärkung an die NATO-Ostflanke geschickt. Sie bilden Ukrainerinnen und Ukrainer an der Panzerhaubitze 2000 und in unterschiedlichen Fertigkeiten aus. Und sie geben Material an die Ukraine ab. Viel Material. Material, das sie selbst für Übung und Ausbildung dringend bräuchten. Und sie tun das aus voller Überzeugung.

Auch Politik und Wehrverwaltung haben einiges angestoßen. Mit rechtlichen Änderungen bei der Vergabepraxis und im Beschaffungswesen sollen Beschaffungen beschleunigt werden. Das Sondervermögen ist eingerichtet, die ersten Projekte sind auf dem Weg.

Das ist notwendig und richtig. Nur die Truppe spürt davon bislang wenig. Leider! Ihre Lastenbücher sind im vergangenen Jahr voller geworden, die Bekleidungskammern, Munitionsdepots und Ersatzteillager hingegen nicht. Noch immer berichten mir Soldatinnen und Soldaten, dass sie ohne Schutzwesten in den Einsatz gehen. Das Erstkontingent in der Slowakei musste anfangs private IT nutzen, eine Erstbefähigung durch den Dienstherrn fehlte. Und die 11. Rotation der eFP-Battlegroup (enhanced Forward Presence) in Litauen bekam zwar kurz nach Kriegsausbruch den lang ersehnten Nässe- und Kälteschutz, musste ihn jedoch bei der Rückkehr nach Deutschland wieder abgeben.

Das zeigt:

Ein Jahr nach Ausrufung der Zeitenwende mögen zwar Weichen gestellt sein. Doch bis zum Ziel einer kaltstartfähigen, vollständig einsatzbereiten und gut ausgestatteten Bundeswehr ist es noch ein weiter Weg. Zumal bei Themen wie Personal, Infrastruktur und Munition wegweisende Weichenstellungen weiterhin auf sich warten lassen.

Gewiss:

Was über Jahrzehnte bei der Bundeswehr vernachlässigt, verschleppt und versäumt wurde, lässt sich nicht innerhalb eines Jahres nachholen. Die Erwartungen in der Truppe, in Politik und Gesellschaft dürfen daher nicht überzogen sein. Gleichwohl droht ein erheblicher Vertrauensverlust, allen voran bei unseren Soldatinnen und Soldaten, wenn Erwartungen gänzlich enttäuscht werden.

Aktuell besteht eine einzigartige, womöglich gar einmalige Chance. Selten zuvor war das Interesse an Sicherheits- und Verteidigungspolitik so groß. Selten zuvor gab es einen derart breiten partei- und gesellschaftsübergreifenden Konsens, die Bundeswehr umfassend modernisieren zu müssen. Dass es für diese Einsicht eines schrecklichen Kriegs bedurfte, ist bitter. Dennoch: Dieses Momentum gilt es zu nutzen.

Zumal eine Legislaturperiode nur vier Jahre dauert. Nach dem ersten Jahr des Sortierens ist es im zweiten und dritten Jahr an der Zeit richtig loszulegen. Und diese Zeit ist jetzt.

Von schon länger geplanten Reformen wie der Soldatenarbeitszeitverordnung und der Wehrdisziplinarordnung über weitere Beschaffungsvorhaben aus dem Sondervermögen bis hin zu neuen Personalkonzepten und einer konzertierten Aktion zur Ertüchtigung der Infrastruktur – die Baustellen, Bedarfe und Projekte liegen auf der Hand.

Nun sind alle politisch wie militärisch Verantwortlichen gefragt anzupacken und umzusetzen. Mit Mut, Entschlossenheit und Entscheidungsfreude – sowie Tempo. Denn, auch wenn die Zeitenwende eine Dekaden-Aufgabe ist, darf sie nicht in Zeitlupe vorankommen. Mehr noch: Ob die Zeitenwende gelingt oder nicht, entscheidet sich nicht erst in zehn Jahren, sondern genau jetzt.

Mit herzlichen Grüßen

Eva Högl,
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages

Marginalspalte