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„Wir können nicht einfach alles liefern, was irgendwo bei einer Firma auf dem Hof steht“ – Interview, 13.04.2022

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten im Handelsblatt vom 13. April 2022

„Wir können nicht einfach alles liefern, was irgendwo bei einer Firma auf dem Hof steht“

Frau Högl, lange haben der oder die Wehrbeauftragte einmal im Jahr Berichte geschrieben, die dann mehr oder weniger schnell in der Schublade verschwunden sind. Fühlen Sie sich jetzt mehr beachtet?

Es ist jetzt allen klar, dass die Bundeswehr nicht voll einsatzbereit ist und es Handlungsbedarf bei Material, Personal und Infrastruktur gibt. Das stand auch immer schon so in den Berichten von mir und meinen Vorgängern. Und es wurden auch Verbesserungen erreicht. Ich erwarte, dass alle, die politische Verantwortung tragen, jetzt beste Rahmenbedingungen für die Bundeswehr schaffen. Der Druck, etwas zu ändern, ist gewachsen – und das ist gut für die Bundeswehr.

Heeres-Inspekteur Alfons Mais hat beklagt, die Truppe stehe „mehr oder weniger blank“ da. Ist das auch Ihr Eindruck?

Blank ist die Bundeswehr nicht, aber die Defizite müssen schleunigst behoben und Material muss zügig beschafft werden. Das fängt bei der persönlichen Ausstattung an. Ich halte es für einen Skandal, dass 184.000 Soldatinnen und Soldaten nicht das an der Frau oder am Mann haben, was sie brauchen. Wir haben in Afghanistan oder Mali gesehen, dass selbst Schutzwesten fehlen. Aber die Soldatinnen und Soldaten brauchen das Material auch bei Übungen, denn es gilt: Train as you fight.

Man hört, dass sich Kommandeure vor Übungen erst mal das Material aus unterschiedlichen Standorten leihen müssen, um überhaupt trainieren zu können …

Das wird noch länger so bleiben, dass einzelne Einheiten besser ausgestattet sind als andere, weil nicht alle hochwertiges Material immer auch zu jedem Zeitpunkt brauchen. Aber es kann nicht sein, dass Verbände die Ausbildung und Übungen einstellen müssen, um Material einer anderen Einheit zur Verfügung zu stellen. Das muss anders werden.

Der Haushaltsausschuss hat gerade grünes Licht für die Beschaffung von persönlicher Ausrüstung wie Schutzwesten und Helme gegeben. Wirkt der Ukrainekrieg wie ein Beschaffungs-Turbo?

Die Entscheidung des Haushaltsausschusses, 2,4 Milliarden Euro bereitzustellen für die persönliche Vollausstattung der Soldatinnen und Soldaten bis 2025, ist eine gute Nachricht in schwerer Zeit. Ich hoffe, dass der Bundestag auch das vom Bundeskanzler vorgeschlagene Sondervermögen von 100 Milliarden Euro beschließt. Es gibt ein Bewusstsein im Bundestag und in der Gesellschaft, dass das gut in Frieden, Freiheit und Sicherheit investiertes Geld ist. Aber Geld auszugeben ist das eine. Gleichzeitig müssen die Beschaffungsverfahren beschleunigt werden.

Wie soll das gehen?

Bundestag und Bundesregierung sollten die Ausnahmen, die das europäische Vergaberecht im militärischen Bereich vorsieht, nutzen. Die Verteidigungsministerin hat entschieden, die Schwellenwerte, bis zu denen eine freihändige Vergabe möglich ist, von 1000 auf 5000 Euro anzuheben. Damit fällt etwa ein Fünftel der Beschaffungsvorgänge unter diese Schwelle. Es geht aber auch darum, weniger selbst zu designen und mehr am Markt verfügbare Ware zu kaufen.

Von militärischem Großgerät sind im Durchschnitt 77 Prozent einsatzbereit, aber bei einzelnen Waffen und Gerätschaften liegt die Einsatzbereitschaft deutlich darunter. Wie kann das sein, dass in der stärksten Volkswirtschaft Europas Panzer oder Hubschrauber in den Hallen stehen, weil Ersatzteile fehlen?

Die mangelnde Einsatzbereitschaft zum Beispiel beim Kampfhubschrauber „Tiger“ ist dramatisch, und bei den Fregatten dauert es oft nach der Übergabe noch Monate, bis sie wirklich einsatzbereit sind. Häufig gibt es Probleme mit Ersatzteilen, und es ist sehr aufwendig, das große Gerät instand zu halten.

Aber wie kommt es, dass Ersatzteile fehlen? Hat die Regierung falsche Verträge gemacht?

Es hängt viel davon ab, was vertraglich vereinbart wurde. Es ist sicherlich sinnvoll, wieder mehr Ersatzteile und Werkzeug auf Vorrat verfügbar zu haben. Zudem sollten die Soldatinnen und Soldaten neben der Industrie und zum Beispiel der Heeresinstandsetzungslogistik HIL wieder mehr selbst instand setzen. Soldatinnen und Soldaten können das und wollen das. Und es muss angesichts des Kriegs schneller gehen.

Für das geplante 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen braucht die Ampel die Zustimmung der Union für eine Grundgesetzänderung. Die stellt aber Bedingungen…

Wenn die Bedingung ist, dass das Sondervermögen vollumfänglich der Bundeswehr zugutekommt, kann ich das nur unterstreichen. Zivile Krisenprävention oder humanitäre Hilfe sind auch wichtig, aber dafür müssen dann Mittel im regulären Haushalt eingeplant werden.

Was bedeutet der Ukrainekrieg für das Bild der Bundeswehr in der Öffentlichkeit?

Der Krieg führt allen vor Augen, wofür wir die Bundeswehr haben und brauchen. Sie sichert Frieden und Freiheit und verteidigt unsere Werte und unsere Demokratie. Die Bundeswehr wird nach den vielen Jahren des freundlichen Desinteresses wieder ganz anders wahrgenommen. Die Wertschätzung, die ihr für die Amtshilfe in der Coronapandemie und die Fluthilfe entgegengebracht wurde, die braucht die Bundeswehr auch für den Kernauftrag. Und der lautet, kämpfen zu können, um im Idealfall nicht kämpfen zu müssen.

Bis 2031 soll die Bundeswehr auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Kann die Truppe denn bei der Suche nach Nachwuchs mit der Privatwirtschaft konkurrieren?

Das wird ein Kraftakt. Wir spüren ein verstärktes Interesse, aber gleichzeitig ist die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung angestiegen. Es wird mehr Menschen bewusst, dass es kein normaler Job ist, sondern Soldatinnen und Soldaten im Zweifel mit ihrem Leben für den Auftrag einstehen.

Welches Personal fehlt besonders?

Hochspezialisierte Kräfte im IT-Bereich sind Mangelware, aber auch bei der Luftwaffe gibt es Engpässe – oft deshalb, weil sich in diesen Bereichen außerhalb der Truppe mehr Geld verdienen lässt. Deshalb muss die Bundeswehr zeigen, dass sie über den Verdienst hinaus ein attraktiver Arbeitgeber ist – etwa durch die Arbeitsplatzsicherheit. Das ist ein krisenfester Job.

Würde die Wiedereinführung der Wehrpflicht helfen, die Bundeswehr wieder stärker in der Gesellschaft zu verankern?

Ich will nicht die alte Wehrpflicht zurück, das ist eine rückwärtsgewandte Debatte, die nichts bringt. Aber wir sollten eine Debatte führen, wie sich junge Menschen eine Zeitlang für unsere Gesellschaft engagieren können. Das kann in der Bundeswehr sein, aber auch im Umwelt-, im sozialen oder im kulturellen Bereich. Es gibt schon jetzt mehr junge Leute, die das machen wollen, als wir Plätze im Bundesfreiwilligendienst haben.

Sie haben gesagt, dass die Ukraine unsere Freiheit und unsere Werte verteidigt. Tut Deutschland genug, um sie dabei zu unterstützen?

Es muss alles getan werden, um sie zu unterstützen. Das fängt bei Sanktionen an, geht über die Vereinbarungen zu Energieimporten bis hin zu Waffenlieferungen und humanitärer Hilfe. Bei den Waffenlieferungen leisten wir mehr, als in der öffentlichen Diskussion suggeriert wird.

Der ukrainische Botschafter wünscht sich mehr Engagement

Möglicherweise können wir in Kooperation mit den Nato-Partnern auch noch mehr tun. Wir müssen uns aber auch anschauen, womit die Ukraine wirklich etwas anfangen kann. Wir können nicht einfach alles, was irgendwo bei einer Firma auf dem Hof steht, ohne Weiteres liefern – zum Beispiel die 50 Jahre alten Schützenpanzer „Marder“. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung im geheim tagenden Bundessicherheitsrat die Entscheidungen verantwortungsvoll trifft und alles auslotet, was möglich ist.

Muss man nicht irgendwann doch auch westliche Waffensysteme liefern, weil für das Gerät aus Sowjetzeiten in einem Abnutzungskrieg irgendwann auch die Ersatzteile ausgehen?

Darüber müssen sich die Nato und die EU sicher auch Gedanken machen. Ich halte allerdings nichts von nationalen Alleingängen. Aber wir müssen die Ukraine mit allem, was geht, unterstützen. Sie darf diesen Krieg nicht verlieren.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht steht derzeit stark unter Druck. Ist sie der Aufgabe gewachsen?

Christine Lambrecht ist eine sehr erfahrene und durchsetzungsstarke Politikerin mit einem kurzen Draht zum Bundeskanzler, die das Verteidigungsministerium gut führt und die richtigen Entscheidungen treffen wird.

Interview: Frank Specht

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