Parlament

„Ukraine kämpft unseren Kampf“– Interview, 01.06.2022

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten im Reutlinger General-Anzeiger vom 1. Juni 2022

„Ukraine kämpft unseren Kampf“

GEA: Frau Högl, Regierung und Union haben sich beim Sonderfonds Bundeswehr geeinigt. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden? Was wäre Ihrer Ansicht nach besser gewesen?

Eva Högl: Die Einigung ist eine gute Nachricht in schweren Zeiten für die Bundeswehr. Ich freue mich vor allem darüber, dass es gelungen ist, eine Mehrheit zu formen, die dann auch mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag die Grundgesetzänderung, die dafür nötig ist, beschließen wird. Es ist richtig, dass 100 Prozent dieser 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zur Verfügung stehen. Die Bundeswehr braucht dieses Geld. Es ist dringend nötig, um die Bundeswehr wieder voll einsatzbereit zu machen.

Als Wehrbeauftragte wissen Sie am besten, wo es bei der Bundeswehr materiell wie personell klemmt. Außenministerin Baerbock spricht von massiven Lücken bei der Wehrhaftigkeit? Um welche Lücken geht es?

Högl: Zunächst einmal geht es um die persönliche Ausstattung, von Helmen über Schutzwesten bis zu Kälte- und Nässeschutz, aber auch Socken und Stiefel. Auch daran mangelt es. Ich erfahre in meinen Gesprächen und bei meinen Besuchen immer wieder, dass selbst im Einsatz nicht immer alles vorhanden ist, was die Soldaten an persönlicher Ausstattung gebraucht hätten. Hierfür hat der Haushaltsausschuss bereits 2,4 Milliarden Euro bereitgestellt, die nicht Bestandteil der 100 Milliarden Euro sind. Darüber hinaus fehlen Nachtsichtgeräte. Die 30 Jahre alten Funkgeräte sind ein großes Ärgernis. Damit ist die Bundeswehr nicht führungsfähig, sie kann nicht mit internationalen Partnern kommunizieren. Weiter geht es mit fehlender Munition. Laut einer Bestandsaufnahme werden ungefähr 20 Milliarden Euro für Munition gebraucht. Außerdem muss der schwere Transporthubschrauber beschafft werden, aber auch Fregatten und ein U-Boot benötigen wir, sowie - und das ist schon entschieden - das Kampfflugzeug F35 als Nachfolger für den Tornado.

Das ist eine ziemlich lange Liste für 100 Milliarden Euro.

Högl: Die 100 Milliarden Euro werden erstens dringend gebraucht und sind zweitens ganz schnell auch ausgegeben. Das Wichtigste ist, dass das alles am Bedarf der Bundeswehr ausgerichtet wird, damit sie vollständig einsatzbereit wird. Als Wehrbeauftragte setze ich mich dafür ein, dass das Geld schnell bei der Truppe ankommt, denn die Erwartungshaltung ist sehr groß. Und ich verbinde das mit der Erwartung und Forderung, dass auch die Verfahren, in denen Dinge bei der Bundeswehr geplant und beschafft werden, verbessert und verkürzt werden.

Es lässt sich nicht alles mit Geld lösen. Muss es auch strukturelle Änderungen geben?

Högl: Der Handlungsbedarf ist erkannt und der Handlungsdruck groß. Mit den 100 Milliarden Euro gibt es jetzt die große Chance, vieles besser zu machen. Verteidigungsministerin Lambrecht hat schon einiges auf den Weg gebracht. Sie hat veranlasst, dass der Artikel 346 der AEUV, also des Europarechts, genutzt wird, der Ausnahmen aus dem europäischen Vergaberecht für den militärischen Bereich zulässt. Sie hat auch die Schwellenwerte, bis zu denen eine freihändige Vergabe erfolgen kann, von 1 000 auf 5 000 Euro hochgesetzt. Das betrifft immerhin etwa 20 Prozent der Vergabeverfahren. Das ist eine enorme Verfahrenserleichterung. Das Bundeskabinett hat bereits Eckpunkte verabschiedet, wie die Beschaffung beschleunigt werden soll. Ich sehe, dass die Probleme angegangen werden und werde das weiterhin aufmerksam verfolgen.

Das eine ist die Beschaffung von Material und Munition, aber es müssen auch Ersatzteile bevorratet werden. Will man auch an diese Baustelle ran?

Högl: Da muss sich was ändern. Wir brauchen eine ganz andere Herangehensweise an die Bevorratung von Ersatzteilen und Werkzeugen, denn wir sehen mit dem Krieg in der Ukraine, dass es unter Umständen schnell gehen muss: Wenn beispielsweise unsere Soldaten verlegt werden an die Ostflanke, damit sie die Nato-Partner im Osten unterstützen können. Wir sollten die Kompetenz unserer Truppe stärker nutzen, die ihr Gerät selbst instand setzen will. Wir haben da ein hohes Niveau und deswegen fordere ich, dass wir stärker auf die eigenen Fähigkeiten zurückgreifen. Wir haben bei Auslandseinsätzen gesehen, dass die Firmen gar nicht immer das Personal mitschicken können oder es dauert ewig, bis das Gerät wieder zurück ist in Deutschland, dort instand gesetzt und dann wieder ins Einsatzgebiet gebracht wird. Das ist ein enormer Aufwand. Die Verträge mit Firmen sollten perspektivisch wieder so formuliert werden, dass unsere Soldaten viel mehr selbst instand setzen können.

Der Verteidigungsausschuss informierte sich in Israel über das Raketenabwehrsystem Iron Dome und Arrow. Wäre das etwas für die Bundeswehr? Brauchen wir ein solches Luftverteidigungssystem?

Högl: Das muss im Parlament ganz sorgfältig diskutiert werden. Die Lage in Israel und in Deutschland lässt sich nicht eins zu eins vergleichen. In der Diskussion bei uns ging es vor allem um einen Schutzschirm vor Langstreckenraketen. Es sollte keine Lösungen einzelner Staaten geben. Das ist eine Sache, die in den Bereich der Nato-Bündnisverteidigung fällt und dort entschieden werden sollte.

Wie sieht es personell aus? Braucht die Bundeswehr mehr Soldaten?

Högl: Die Bundeswehr soll bis zum Jahr 2031 auf 203 000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Das wären zunächst einmal rund 20 000, die noch dazukommen sollen. Mir ist wichtig, dass wir gute Leute für die Bundeswehr gewinnen. Dazu müssen wir uns bei der Personalgewinnung, der Personalbindung und Personalentwicklung verbessern. Hier stehen wir im Wettbewerb mit der freien Wirtschaft und anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes.

Also mehr Sold?

Högl: Geld allein ist nicht der entscheidende Faktor. Auch die Rahmenbedingungen spielen eine große Rolle. Wir haben gerade über die materiellen Rahmenbedingungen gesprochen, dazu kommt die Infrastruktur, der Zustand vieler Kasernen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf - alles Punkte, die vielen wichtiger sind als nur das Monetäre, als Prämien und Zulagen und das gute Gehalt, dass die Bundeswehr zahlt.

Wie stehen Sie zu einer Wiedereinführung der Wehrpflicht oder einer Art von Dienstpflicht?

Högl: Ich halte es grundsätzlich für sehr sinnvoll, wenn sich speziell junge Leute für die Gesellschaft engagieren. Das kann bei der Bundeswehr sein, im Umwelt- und Kulturbereich oder im sozialen Bereich. Das tut den Einzelnen gut und auch unserer Gesellschaft als Ganzes. Bezogen auf die Bundeswehr haben wir schon viele freiwillige Angebote. Man kann den freiwilligen Wehrdienst leisten und auch den freiwilligen Wehrdienst Heimatschutz. Vor dem Hintergrund der Bedrohungslage und vor dem Hintergrund dessen, was die Bundeswehr überhaupt leisten kann, bin ich dafür, die Anstrengungen noch zu intensivieren. Auf der Strecke zwischen Freiwilligkeit und Verpflichtung kann ich mir vieles vorstellen.

Früher hatten wir ein Territorialheer. Wie sieht es mit der Einbindung der Reservisten aus, wie mit einem Reservistenkonzept? Sind Reservisten nicht ein Potenzial, das wir nutzen müssen?

Högl: Absolut. Die Reserve wird gebraucht. Es gibt das Konzept„Strategie der Reserve“, das noch vor dem Krieg in der Ukraine entwickelt wurde mit der sogenannten Grundbeorderung. Alle, die den Dienst verlassen, werden für einen Zeitraum von sechs Jahren eingeplant, um die Truppe im Spannungs- und Verteidigungsfall zu verstärken. Es soll auch sukzessive einen Aufwuchs von Wehrdienststunden geben. Auch der Heimatschutz wird verstärkt: Es gibt das erste Heimatschutzregiment in Bayern, das zuerst ein Modellversuch war. Wir sollten auch an die Reserve denken, wenn es darum geht, die Bundeswehr personell besser auszustatten. Und auch Reservisten müssen gut ausgerüstet sein und auch dort müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Da habe ich ein waches Auge drauf. Ich sehe aber auch gute Impulse aus dem Verteidigungsministerium.

Wie muss es weitergehen, wenn die 100 Milliarden Euro in den nächsten fünf Jahren verbraten sind? Was ist mit dem 2-Prozent-Ziel im Budget?

Högl: Es ist eine politische Vereinbarung, dass das Zweiprozentziel erreicht werden soll. Das ist in der Nato nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vereinbart worden. Das gilt nach wie vor und der Bundeskanzler hat sich am 27. Februar sehr deutlich geäußert. Ich gehe fest davon aus, dass sich die Regierung und die sie tragende Mehrheit im Deutschen Bundestag auch entsprechend verpflichtet fühlt und die Rahmenbedingungen schafft, dass das Sondervermögen einerseits gut in die Bundeswehr investiert wird, aber andererseits das Ganze auch kein Strohfeuer ist, sondern zu einer nachhaltigen Finanzierung der Bundeswehr führt.

Seit Wochen wird über schwere Waffen für die Ukraine gestritten. Irgendwann hieß es aus dem Verteidigungsministerium, dass die Bundeswehr keine schweren Waffen wie den Schützenpanzer Marder liefern könne, weil dann die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr gefährdet wäre. Was sagen Sie dazu?

Högl: Wir müssen auch darauf schauen, was braucht die Bundeswehr selbst, insbesondere um ausbilden und üben zu können. Man kann eine ganze Menge simulieren, aber für Ausbildung und Übung werden echte Panzer benötigt, die fahren. Andererseits kämpft die Ukraine gerade unseren Kampf um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. In der Ukraine wird das freie Europa verteidigt. Deswegen müssen alle Nato-Mitgliedstaaten, alle europäischen Mitgliedstaaten und alle in der westlichen Welt sich darauf verständigen, möglichst viel von dem, was sie abgeben können, der Ukraine liefern. Das betrifft einerseits das, was die Bundeswehr selber hat, aber andererseits auch das, was die Industrie über Waffenexporte liefern kann. Wir müssen jetzt alle Anstrengungen unternehmen, damit Putin diesen Krieg nicht gewinnt und die Ukraine ihr Territorium erfolgreich verteidigen kann.


Interview: Jürgen Rahmig

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