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„Man bräuchte 300 Milliarden“ – Interview, 15.01.2023

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 15. Januar 2023

„Man bräuchte 300 Milliarden“

Frau Högl, wir möchten nicht über Christine Lambrechts Zukunft sprechen, sondern über Ihre: Werden Sie die nächste Bundesverteidigungsministerin?

Ich bin Wehrbeauftragte des Bundestages und betrachte es als große Ehre, dass ich dieses Amt ausüben darf. Für fünf Jahre bin ich gewählt und mache das gern weiter.

Macht Frau Lambrecht ihre Sache denn gut?

Ich messe Christine Lambrecht daran, was sie für die Truppe erreicht. Und wenn man sich anschaut, was sie schon alles auf den Weg gebracht hat, dann kann sich das sehen lassen.

Was denn genau?

Sie hat in ihrer Amtszeit schon viele Entscheidungen getroffen, die überfällig waren, wie die Nachfolge für den Tornado oder die Bewaffnung von Drohnen. Es steht eine Menge auf der Habenseite.

Trotzdem erwarten viele von Kanzler Scholz, dass er auch personalpolitisch Führung zeigt. Sie auch?

Als Wehrbeauftragte ist es nicht meine Aufgabe, dem Kanzler Ratschläge zu erteilen oder über die Zusammensetzung des Kabinetts zu befinden.

Im Augenblick sprechen viele über die Leopard-2-Panzer. NATO-Länder wie Finnland oder Polen bringen ins Gespräch, der Ukraine eine bestimmte Anzahl gemeinsam zur Verfügung zu stellen. Geht das aus Sicht der Bundeswehr?

Leopard-2-Panzer würden der Ukraine sicher entscheidend helfen. Aber man muss abwägen, ob die Bundeswehr sie wirklich entbehren kann. Die Unterstützung für die Ukraine ist absolut notwendig, und es ist richtig, dabei alles einzubringen, was wir können. Für die Bundeswehr bedeutet das aber einen Kraftakt, weil sie selbst nicht genug Material hat, um für ihre Einsätze gewappnet zu sein, weder bei der Bündnisverteidigung noch im internationalen Krisenmanagement. Deshalb plädiere ich dafür, für die Ukraine vor allem die Marder-Panzer in den Blick zu nehmen, die bei der Industrie vorhanden sind und der Truppe ohnehin nicht zur Verfügung stehen.

Der Leopard 2 würde der Ukraine aber mehr helfen. Fachleute sagen, es gebe in den 13 NATO-Ländern, die den Leopard 2 nutzen, etwa 2000 Stück. Sie glauben, es sei zu stemmen, der Ukraine gemeinsam eine Brigade zur Verfügung zu stellen, alles in allem also etwa 90 Stück. Ist das machbar?

Dazu habe ich keine eigenen Erkenntnisse. Die rote Linie für die Bundeswehr ist aber immer die eigene Einsatzbereitschaft. Und gerade jetzt, wo wir den Leitverband bei der schnellen Einsatztruppe der NATO stellen, müssen wir auf diese rote Linie besonders achten. Es ist aber richtig, gemeinsam mit allen NATO-Staaten und auch innerhalb der EU zu überlegen, womit die Ukraine wirksam unterstützt werden kann.

Wenn einzelne NATO-Partner sich entschließen würden, der Ukraine Leopard 2 zu liefern und Deutschland als Herstellerland um Genehmigung ersuchen würden: Sollte Deutschland das erlauben?

Diese Entscheidung muss die Exekutive treffen. Die Frage ist ja auch: Wie schnell bekommt die Bundeswehr die Panzer wieder zurück? Wie schnell können sie instand gesetzt oder neu beschafft werden? Unsere Soldatinnen und Soldaten sagen aber alle — auch die Verbände, die viel abgegeben haben, wie ein Artillerieverband, der zwei Panzerhaubitzen und zwei MARS-II-Raketenwerfer zur Verfügung gestellt hat: Oberste Priorität hat die Unterstützung der Ukraine. Wir leisten, was wir können, und helfen auch mit, die Ukrainer an den Waffen auszubilden.

Bei der NATO heißt es, die USA seien mit einem Bestand von 2000 Flugzeugen in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Am Ende des Krieges hätten sie 300 000 Flugzeuge gehabt. Brauchen auch wir jetzt einen Kraftakt für die Fertigung von Rüstungsgütern und Munition, für neue Produktionslinien?

Es geht gar nicht ohne neue Fertigungskapazitäten, das ist die Notwendigkeit, die dieser Krieg zeigt. Die Bundeswehr hat ein eklatantes Munitionsdefizit. Schon um das auszugleichen, braucht es auch mehr Produktionskapazitäten bei der Industrie. Hinzu kommt, dass viele bewährte Plattformen wie der Marder schon sehr betagt sind. Wir müssen unseren Bestand erneuern, schneller reparieren, aber auch mehr produzieren und neue Kampfsysteme entwickeln. Am besten immer gemeinsam mit unseren NATO-Partnern und auch im Verbund in Europa. Das ist aber nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern auch der Rüstungsindustrie. Politik und Industrie müssen gemeinsam einen Plan entwickeln, welche neuen Produktionslinien wir brauchen und was mit den bestehenden geht. Die Frage ist allerdings, ob es genügend qualifiziertes Personal für zusätzliche Produktionskapazitäten gibt. Wer sich mal angesehen hat, wie ein Iris-T-Lenkflugkörper gebaut wird, der weiß, dass solch spezialisiertes Personal nicht leicht zu finden ist.

Braucht die Rüstungsindustrie dann auch Abnahmegarantien von der Politik?

Sie braucht zumindest eine bindende Zusage, dass die Produkte finanziert und abgenommen werden. Die Industrie wird nicht alleine in Vorleistung gehen können — und auch nicht wollen. Dafür sind die Investitionen viel zu hoch.

Die Bundeswehr könnte auch Kampfpanzer in Südkorea kaufen, wie es die Polen machen. Die sind erprobt und werden schnell geliefert.

Das sehe ich kritisch. Natürlich müssen wir angesichts des Krieges und der schlechten Ausstattung der Bundeswehr im Ausland ankaufen. Das betrifft großes Gerät, aber auch viele kleinere Sachen. Manche Soldaten wünschen sich zum Beispiel einen speziellen Helm, den die Amerikaner nutzen. Dass der beschafft werden kann, dafür setze ich mich ein. Es muss aber unser Ziel sein, vorrangig die deutsche und die europäische Rüstungsindustrie zu beauftragen. Nur dann kann sie Forschung betreiben und in neue Systeme und Produktionskapazitäten investieren. Mir schwebt bei der Beschaffung deshalb ein guter Mix aus Ankäufen und eigenen Aufträgen vor. Außerdem werbe ich dafür, mehr Aufträge im europäischen Verbund zu vergeben. Nicht jedes Mitgliedsland muss ein eigenes System entwickeln.

Was steht auf Ihrer Einkaufsliste ganz oben?

Die F-35-Kampfflugzeuge und die schweren Transporthubschrauber, die wir bereits in den USA bestellt haben. Es wurde jetzt auch endlich eine Bestellung für Boote für die Kampfschwimmer in Eckernförde bei den Finnen gemacht, ebenso für das Schneefahrzeug von den Schweden. Bei der Flugabwehr richten sich die Blicke nach Israel, deren Drohnen haben sich bereits sehr bewährt.

Und wie kann die Truppe Panzer bekommen, die auch fahren?

Durch eine gute Kooperation aus Rüstungsindustrie, Heeresinstandsetzung und mehr Eigenleistung. Die Bundeswehr muss wieder mehr selber machen dürfen, davon bin ich überzeugt. Das betrifft sowohl die Bevorratung von Ersatzteilen als auch den Aufbau und Erhalt von Kompetenzen für die Instandhaltung. Das wollen unsere Soldaten, und das können sie auch. Wir müssen sie nur lassen.

Das heißt, wenn 18 Pumas kaputt sind, könnten die Soldaten 15 davon mit dem eigenen Werkzeugkasten wieder zum Laufen bringen, statt sie zurück zum Hersteller zu schicken?

Wie soll es denn im Gefecht laufen? Da müssen die Soldaten in der Lage sein, zumindest bestimmte Schäden selber wieder zu beheben, wenn das möglich ist. Bei der Großübung der schnellen Eingreiftruppe der NATO hatte die Panzerbrigade 37 von General Krone sowohl ein millionenschweres Ersatzteillager als auch die Kompetenz vor Ort, um Reparaturen durchzuführen.

Wie weit reicht das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro? Kritiker sagen, nicht mal für die Behebung der schlimmsten Mängel.

Wir erheben keine eigenen Zahlen, aber von Expertinnen und Experten sowie aus der Truppe höre ich: Man bräuchte 300 Milliarden. Euro, um in der Bundeswehr signifikant etwas zu verändern. Das scheint mir nicht aus der Luft gegriffen zu sein. Allein für die Beschaffung von Munition werden mindestens 20 Milliarden Euro benötigt. Neue Fregatten, Panzer oder F-35-Kampfflugzeuge kosten ebenfalls Milliarden, und da haben wir noch nicht über Personalkosten, die energetische Gebäudesanierung, die notwendigen 50 Milliarden Euro Investitionen in Infrastruktur und auch nicht über die Inflation gesprochen. Die Bundeswehr ist auch noch nicht voll digitalisiert. Es gibt unendlich viel, das instand gesetzt oder neu beschafft werden muss. Dass die schnelle Eingreiftruppe der NATO jetzt mit dem Marder-Panzer bestritten werden muss, der mehr als 50 Jahre alt ist, zeigt, wie groß der Modernisierungsbedarf ist.

Deutschland wird 2023 und auch 2024 das Zwei-Prozent-Ziel der NATO verfehlen. Darf das so bleiben? Oder muss das Ziel sogar noch erhöht werden, wie manche fordern?

Das Zwei-Prozent-Ziel ist politisch vereinbart und das Minimum, wenn der Verteidigungsbereich ausreichend finanziert sein soll. Wir werden unsere Aufgaben nur bewältigen können, wenn der Verteidigungshaushalt weiter aufwächst. Ich verstehe deshalb auch die Debatte, ob das Zwei-Prozent-Ziel nicht noch erhöht werden muss. Doch schon die zwei Prozent zu erreichen ist für uns eine große Aufgabe. Ich möchte aber klar sagen: Es liegt nicht nur am Geld. Man muss es auch intelligent ausgeben.

Auch das ist kein Selbstläufer. Sie haben im Dezember einen regelmäßigen Bericht gefordert, um nachvollziehen zu können, wofür das Sondervermögen ausgegeben wird. Hat das Ministerium schon reagiert?

Noch nicht. Es gibt ja schon länger eine Liste, was vom Sondervermögen beschafft werden soll. Daraus ging früh hervor, dass die Beschaffung mancher Dinge sehr zeitraubend sein wird. Es hat dann auch fast bis Ende des Jahres gedauert, bis auf Basis von Beschlüssen des Bundestages die erste Bestellung gemacht werden konnte. Als Vertreterin der Soldatinnen und Soldaten weiß ich aber, dass es in der Truppe eine enorme Erwartungshaltung gibt, seit das Sondervermögen beschlossen wurde. Sie müssen jetzt spüren, dass davon bei ihnen etwas ankommt.

Bislang haben sie das noch nicht gespürt, nach fast einem Jahr „Zeitenwende“?

Nein, bisher nicht. Das geht jetzt erst langsam los mit den 2,4 Milliarden Euro, die bis 2025 für neue Ausrüstung der Soldaten bereitgestellt wurden. Da kommen gerade die ersten Sachen an. Die Funkgeräte können nach meinen Informationen relativ schnell beschafft werden, weil es da Rahmenverträge gibt. Es braucht aber alles sehr viel Zeit. Schon vor dem Krieg war es ein Problem, dass oft gar nicht alle Gelder aus dem Verteidigungshaushalt abgerufen wurden, weil die Verfahren bei der Beschaffung zu lange dauern.

Sie haben vorgeschlagen, diese langwierigen Verfahren deutlich zu entschlacken. Woran hängt es denn? Am Beschaffungsamt in Koblenz?

Es sind ja schon ein paar richtige Schritte getan worden. Im vergangenen Jahr wurde beschlossen, das europäische Vergaberecht besser zu nutzen, um Aufträge auch freihändig vergeben zu können und nicht alles europaweit ausschreiben zu müssen. Auch die Erhöhung der Schwellenwerte für Investitionen ohne Ausschreibung von 1000 auf 5000 Euro war wichtig. Ich nehme aber auch wahr, dass seit der Zeitenwende ein Ruck durch die Ämter und die entscheidenden Stellen gegangen ist. Es wird pragmatischer als früher darüber nachgedacht, was man dazu beitragen kann, Verfahren zu beschleunigen. Das beziehe ich ausdrücklich auch auf das Amt in Koblenz. Viele Dinge dauern ja nicht wegen der Beschäftigten vor Ort so lange, sondern wegen der komplexen Vorschriften.

Es gilt zum Beispiel immer noch die Regelung, dass einzelne Wehrbestellungen nur bis 25 Millionen Euro ohne Zustimmung des Parlaments getätigt werden können. Sollte diese Schwelle erhöht werden?

Die Abgeordneten haben entschieden, diese Schwelle auch beim Sondervermögen beizubehalten. Ich sehe auch, dass nicht die 25-Millionen-Vorlagen das Problem sind, sondern die Komplexität, in der sie erstellt werden. Ob es angesichts einer guten parlamentarischen Kontrolle nötig ist, jeden Regenponcho detailliert zu begründen, wage ich zu bezweifeln.

Wolfgang Ischinger, früherer Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, hat von einer „Kriegswirtschaft“ gesprochen, die nötig sei, um der Ukraine zu helfen. Muss Deutschland angesichts der dramatischen Lage auch die Rechtsvorschriften bei der Bundeswehr grundlegend überdenken?

Ja, ich bin absolut dafür. Bei der Corona-Pandemie haben wir gesehen, dass wir Rechtsvorschriften zeitlich befristet, aber sehr gravierend verändert haben, weil wir auf die besondere Lage reagieren mussten. Auch durch den Krieg haben wir bereits Sonderrechte geschaffen, wie bei der Erhöhung der Beträge für die freihändige Vergabe oder beim Bau der LNG-Terminals. Wir brauchen aber noch weiter gehende Sonderrechte für die Bundeswehr. Wir können nicht angemessen auf den Krieg und die neuen Herausforderungen für die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik reagieren, ohne die rechtlichen Grundlagen zumindest zeitweilig zu verändern.

Woran denken Sie konkret?

Ich sehe vor allem zwei Bereiche: die Beschaffung von Material und die Infrastruktur. Das Vergaberecht muss weiter entschlackt werden, auch wenn da schon vieles angestoßen wurde. Mich. besorgt auch der Zustand der Kasernen, der ist nicht akzeptabel. Das betrifft die Unterkünfte, aber auch die fehlende Digitalisierung. Allein der Planungsprozess für eine Sanierung dauert mindestens fünf Jahre. Das muss man dringend ändern. Auch dafür brauchen wir ein Sonderrecht. Genau wie bei der Frage, ob die Soldaten ihre eigenen Panzer reparieren dürfen.


Interview: Oliver Georgi und Konrad Schuller

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