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„Für die Soldaten hat sich alles geändert“ – Interview, 11.03.2023

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten in der „Nordsee-Zeitung“ vom 11. März 2023

„Für die Soldaten hat sich alles geändert“

Frau Högl, Deutschland ist lange davon ausgegangen, dass es keine unmittelbare Bedrohungslage gibt. Auf dieser Grundlage wurde auch die Sicherheitsstrategie neu formuliert, hin zu mehr Auslandseinsätzen. Mit dem russischen Angriffskrieg hat sich das radikal verändert. Wie gehen die Soldatinnen und Soldaten damit um?

Für die Soldatinnen und Soldaten hat sich alles geändert. Sie sind jetzt anders gefordert. Schon 2014, als Russland die Krim besetzt hat, geriet die Bündnisverteidigung wieder stärker ins Blickfeld, aber das war eher theoretisch. Seit dem 24. Februar 2022 wissen wir, dass es wirklich ernst werden kann und dass es dann sehr schnell gehen muss. Für die Soldatinnen und Soldaten heißt das: Sie müssen immer einsatzbereit sein und sich auf Veränderungen einstellen. Wir haben zum Beispiel im Sommer zur Stärkung der NATO-Ostflanke von heute auf morgen ein Flugabwehrsystem in die Slowakei verlegt. Da stellt sich für die betroffenen Soldatinnen und Soldaten natürlich auch die Frage, „was mache ich mit meiner Familie?“.

Einsatzbereitschaft und Motivation sind aber groß. Und die Soldatinnen und Soldaten erleben, dass sie im Land jetzt wahrgenommen werden. Als ich 2021 Bundeswehrsoldaten in Litauen besucht habe, beklagten sich viele darüber, dass sich in der Heimat kaum jemand für sie interessiert. Das ist jetzt anders. Viele Menschen interessieren sich für Sicherheitsfragen und die Bundeswehr und nehmen wahr, wofür die Soldatinnen und Soldaten da sind. Das tut ihnen gut.

In Ihrem im März 2022 vorgelegten Jahresbericht hatten Sie das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und die Erhöhung des Wehretats begrüßt als wichtigen Schritt, die „Einsatzbereitschaft wiederherzustellen“. Konkret hatten Sie etwa unzureichende persönliche Schutzausrüstung und inakzeptable Zustände in Kasernen beklagt. Was hat sich seither getan?

Der Investitionsbedarf ist wirklich riesig. Bei der persönlichen Ausstattung gibt es Bedarfe von der Socke über Helme und Rucksäcke bis hin zu Regen- und Kälteschutz. Manches ist absurd. So hatten wir Gehörschutz, der nicht zum Helm passte. Oder nehmen Sie die Funkgeräte. Die sind 30 Jahre und älter, damit können wir im Bündnis überhaupt nicht kommunizieren. Hier soll jetzt auf digitalen Funk umgestellt werden. Insgesamt hat sich einiges verbessert oder ist auf dem Weg. Aber es gibt noch viel zu tun. Uns muss klar sein: Jetzt muss jeder alles haben, was benötigt wird.

Eine Daueraufgabe wird die Infrastruktur sein. Die Kasernen sind mehrheitlich in keinem guten Zustand. Es gibt etwa erhebliche Mängel in Unterkünften, in der Küche, den Duschräumen oder Toiletten, oft gibt es kein WLAN. Wir haben eine Kampfschwimmereinheit ohne Schwimmbad! In Delmenhorst sind viele Gebäude aus den 1930er Jahren. Diese Beispiele zeigen: Der Handlungsbedarf ist groß. Wir haben natürlich auch Standorte, die gut in Schuss sind, insgesamt aber ist die Infrastruktur ein Desaster. Das hängt auch damit zusammen, dass jetzt wieder Standorte genutzt werden, die bereits geschlossen waren und in die lange nicht investiert wurde. Und es fehlt an Personal in den Landesbauverwaltungen. Wir haben einen Investitionsbedarf von 50 Milliarden Euro allein für die Infrastruktur. Tatsächlich schaffen wir aktuell pro Jahr eine Milliarde.

Im Januar bezeichneten Sie Berechnungen von Experten, wonach es 300 Milliarden Euro braucht, um bei der Verteidigung Deutschlands signifikant etwas zu erreichen, als plausibel. Wie kommt es zu dieser Summe?

Wir brauchen allein einen zweistelligen Milliardenbetrag für Munition, dann das Geld für die Infrastruktur, für die Ausrüstung der Soldaten, für neue Panzer und Fregatten. Dazu müssen wir die Waffen, die wir an die Ukraine abgeben, für unseren Bestand ersetzen. Und das alles vor dem Hintergrund von Inflation und Rohstoffknappheit. Da kommt man schnell auf 300 Milliarden. Wichtig ist mir aber vor allem, dass wir dauerhaft in die Bundeswehr investieren und sicherstellen, dass sie ihre Aufgaben vernünftig wahrnehmen kann. Im Übrigen sind die Investitionen auch wichtig, damit die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv ist. Zurzeit sind 20.000 Stellen unbesetzt. Da sind gut ausgestattete Standorte, aber auch strukturelle Aspekte wie Standortsicherheit wichtig, um im Ringen um gute Kräfte wettbewerbsfähig zu sein.

Ein weiterer Punkt, den Sie vor einem Jahr beklagten, ist Bürokratie. Was konkret ist da zu tun?

Bis eine Baumaßnahme umgesetzt werden kann, dauert es oft viele Jahre. Das ist viel zu lang. Darüber hinaus bestehen Vorschriften und Dienstwege, die zum Beispiel bei der Ausstattung hinderlich sind. Inzwischen ist zwar schon manches vereinfacht worden, es ist aber noch eine Menge zu tun.

Wenn etwa von „Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft“ die Rede ist, legt das die Vermutung nahe, dass die Bundeswehr aktuell nicht einsatzbereit ist. Müssen wir uns da Sorgen machen?

Es gibt Handlungsbedarf, aber nein, wir müssen uns keine Sorgen machen. Ich sage immer, die Bundeswehr ist nicht vollständig einsatzbereit, aber sie ist mit ihren Partnern in der Lage, die Landesund Bündnisverteidigung zu gewährleisten. Und die Soldatinnen und Soldaten leisten einen tollen Job. Auch hier in der Region, zum Beispiel in Nordholz und Seedorf. Die Marineflieger und Fallschirmjäger sind klasse. Immer einsatzbereit. Die machen das alles hoch professionell.

An Sie als Wehrbeauftragte können sich Soldatinnen und Soldaten direkt mit ihren Anliegen wenden. Was beschäftigt sie am meisten? Spiegeln sich die neuen Anforderungen und Veränderungen in den Eingaben wider?

Nicht wirklich. In den meisten Fällen geht es um Fragen wie heimatnahe Verwendung, Zulagen, Beförderungen. Daneben spielen etwa Fragen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Rolle. Und es gibt auch Klagen über Ausstattung, bauliche Mängel und fehlendes WLAN auf den Stuben. Ich hatte im Jahr 2021 2.606 Eingaben, dazu Punkte, die ich zum Beispiel im Gespräch während meiner Ortsbesuche aufgenommen habe. Insgesamt waren das gut 4.000 Vorgänge. Meinen Bericht für das vergangene Jahr lege ich zwar erst am Dienstag vor, aber ich kann schon sagen, dass die Zahlen sehr ähnlich sind. Ich gucke mir jeden einzelnen Fall an. Meine Aufgabe ist es dann, zu prüfen, ob Grundrechte beeinträchtigt sind. Und ich nehme Hinweise auf Mängel auf und gehe denen nach.

Sind Sexismus und Rechtsradikalismus Themen?

Ja. Da hat sich zwar viel getan, aber jeder Übergriff, jeder rechtsradikale Vorfall ist einer zu viel. Das sind Themen, an denen weiter gearbeitet werden muss. Bei der Bundeswehr und in der Gesellschaft insgesamt. Bei den sexuellen Übergriffen haben die Meldungen nach dem Rückgang während der Pandemie wieder zugenommen. Aber es dürfte eine deutlich höhere Dunkelziffer geben. Die Bundeswehr ist immer noch männlich geprägt, der Frauenanteil liegt nur bei 13 Prozent. Auch hier muss sich etwas tun. Wir brauchen gute Rahmenbedingungen für Frauen - auch mit Blick auf Führungspositionen.

Sie haben die Abschaffung der Wehrpflicht als Riesenfehler bezeichnet. Aktuell ist von einem „Jahr für die Gesellschaft“ die Rede. Für wie realistisch halten sie es, so etwas einzuführen?

Die alte Wehrpflicht will niemand zurückhaben. Bei der Überlegung für ein Einsatzjahr für die Gesellschaft wäre die Bundeswehr eine Möglichkeit, dieses zu leisten. Ich freue mich, dass der Bundespräsident die Diskussion darüber mit angestoßen hat. Ich sehe dafür im Bundestag derzeit keine Mehrheit, aber es wird jetzt darüber gesprochen. Es muss ja kein Zwang werden. Es gibt zum Beispiel interessante Modelle aus nordischen Ländern, in denen junge Leute intensiv über Einsatzmöglichkeiten informiert werden. Ich glaube, dass es der Truppe guttut, wenn sie gesellschaftlich breit verankert ist.


Interview: Stephan Oertel

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