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„Wehrbeauftragte über Truppen-Zustand“ – Interview, 02.06.2023

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten bei „T-online“ vom 2. Juni 2023

„Wehrbeauftragte über Truppen-Zustand“

t-online: Frau Högl, die Bundeswehr befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Nicht genügend Personal, nicht genügend Material, miserable Ausrüstung – ist die Bundeswehr noch zu retten?

Eva Högl: Die Bundeswehr ist erstens großartig, weil sie 183.000 Soldatinnen und Soldaten hat, die hochprofessionell, hochmotiviert, engagiert, kreativ, sehr loyal, sehr pflichtbewusst jeden Tag ihren Dienst tun. Zweitens ist die Bundeswehr zwar nicht vollständig einsatzbereit, aber im Bündnis verteidigungsfähig. Sie ist zu retten.

Seit dem Ende des Kalten Krieges lag der Fokus auf Auslandsmissionen. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs steht plötzlich die Landes- und Bündnisverteidigung im Zentrum. Könnte die Bundeswehr morgen, wenn nötig, das Land gegen Aggressoren verteidigen?

Die Bundeswehr hat gezeigt, dass sie kaltstartfähig ist: Direkt nach dem 24. Februar 2022 gab es eine massive Verstärkung der Nato-Ostflanke. Die Deutsche Marine hat alle Boote und Schiffe zusammengezogen, um in der Ostsee Präsenz zu zeigen, wir haben die Kräfte in Litauen verstärkt. Die Bundeswehr hat die Luftverteidigung in der Slowakei mit dem Patriot-System aufgebaut und Air Policing in Rumänien und im Baltikum gemacht.

Wie kommt dann der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, zur Einschätzung, sie sei nicht einsatzbereit?

Die Bundeswehr ist nicht vollständig einsatzbereit, weil die Abgaben an die Ukraine große Lücken reißen. Weil die Bundeswehr selber von allem zu wenig hat: nicht genügend Material und auch nicht genügend Personal. Und sie leidet unter den vielen Aufträgen und Zusatzaufträgen.

Wie wichtig ist denn für die Truppe die Unterstützung der Ukraine?

Alle, die ich bei meinen Truppenbesuchen getroffen habe, sagten mir: Die Ukraine muss mit allem beliefert werden, was sie braucht, um diesen Krieg gegen Russland zu gewinnen.

Alle? Es gibt keinen einzigen Soldaten, der sich beklagt, dass sein Verband nicht mal mehr Gerät zum Üben hat?

Ich mache keine repräsentativen Erhebungen, aber ich bin im ganzen Land unterwegs. Egal, ob ich bei einem Artillerie-Bataillon bin, das Panzerhaubitzen abgegeben hat, oder bei einem Flugabwehrraketengeschwader, dessen Patriot-System nun in der Ukraine steht – der Tenor bei den Soldatinnen und Soldaten ist überall derselbe: Die Ukraine führt unseren Kampf, das hat oberste Priorität. Auch wenn die Truppe weiß, dass es wohl Jahre braucht, bis sie neue Systeme bekommt.

Also sinkt die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr mit jedem neuen Waffenpaket für die Ukraine?

Das ist so, aber das lässt sich nicht verhindern. Die Bundeswehr wurde jahrelang kaputtgespart, nun muss sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig agieren. Sie ist an ihrer Belastungsgrenze. Deswegen müssen die Soldatinnen und Soldaten sehen, dass jetzt zügig nachbestellt wird, auch wenn das bis 2027 dauert, bis sie einen neuen Kampfpanzer bekommen.

Aber da sind wir doch beim nächsten Problem: Die deutsche Rüstungsindustrie hat überhaupt nicht die Kapazitäten, die Lücken der Bundeswehr zu füllen und zugleich für die Ukraine zu produzieren. Aktuelles Beispiel ist der EU-Plan, bis Frühjahr 2024 eine Million Artilleriegranaten herzustellen. Experten bezweifeln, dass man die Zielmarke auch nur annähernd erreicht.

Was wäre denn die Alternative?

Das fragen wir Sie.

Es gibt keinen anderen Weg. Eine schnellere Rüstungsproduktion ist das Gebot der Stunde. In dem Moment, wo Panzerhaubitzen und Kampfpanzer an die Ukraine abgegeben werden, muss sofort nachbestellt werden.

Die Industrie sagt, sie brauche Planungssicherheit. Noch immer gebe es kaum Bestellungen aus dem 100-Milliarden-Euro-Topf „Sondervermögen“, den Kanzler Olaf Scholz der Bundeswehr vor über einem Jahr versprochen hat.

Das stimmt, deswegen muss der Bundestag zügig Haushaltsmittel zur Verfügung stellen. Bei meinem Jahresbericht 2022 musste ich feststellen, dass zum Stichtag 31. Dezember noch kein Cent bei der Truppe angekommen ist. Zum Glück ändert sich das jetzt: Zum einen hat der Bundestag im Galopp die sogenannten 25-Millionen-Euro-Vorlagen beschlossen, mit denen der Haushaltsausschuss große Rüstungsvorhaben absegnet. Zum anderen höre ich, dass große Teile des Sondervermögens entweder kurz vor dem Vertragsabschluss stehen oder schon Verträge geschlossen wurden. Aber auch die Industrie ist gefordert.

Inwiefern?

Die Industrie darf sich nicht zurücklehnen und muss mehr Kapazitäten schaffen, um schneller zu produzieren. Das gilt auch für die Instandsetzung. Viele Panzer, Haubitzen und Fregatten sind eine Ewigkeit in der Instandsetzung. Das muss schneller gehen, damit die Geräte wieder bei der Bundeswehr landen.

Wie könnte das beschleunigt werden?

Die Soldaten sollten die Möglichkeit bekommen, viele Geräte selbst reparieren zu dürfen. In den Verträgen müsste hinterlegt werden, dass die Bundeswehr ihr Material selbst instand setzen darf. Die Industrie verhindert das bisher. Das muss sich ändern.

Manche fordern einen radikaleren Schritt: Der deutsche Ex-Diplomat Wolfgang Ischinger und der Chef des Bundeswehrverbands, André Wüstner, bringen eine „Kriegswirtschaft“ ins Spiel, um staatliche Verfahren zu beschleunigen und die Rüstung anzukurbeln. Ein sinnvoller Vorschlag?

Ich mache mir den Begriff nicht zu eigen. Erstens: Wir sind nicht im Krieg. Zweitens: Bei aller Kritik an der Bürokratie hat schon die vorherige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht einige Dinge angeschoben, etwa die Nutzung von Ausnahmen im europäischen Vergaberecht, wenn nationales Interesse berührt ist. Es gibt das Beschaffungsbeschleunigungsgesetz, mit dem man Rüstungsprojekte bündeln kann und damit die gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten reduziert hat. Das ist ja nicht nichts.

Und Lambrechts Nachfolger, Boris Pistorius?

Minister Pistorius hat zusammen mit dem Generalinspekteur eine Weisung herausgegeben, die besagt: Alles, was unterhalb der Gesetze ist, was behindert, verzögert, verschärft, wird automatisch außer Kraft gesetzt und muss bei der Vergabe und der Beschaffung nicht mehr angewandt werden. Das sind gute Ansätze, die hoffentlich die Dinge beschleunigen.

„Gute Ansätze“, „hoffentlich“ – wirklich überzeugt wirken Sie nicht.

Das muss jetzt erst mal wirken. Ein Minister allein kann das Problem nicht lösen, es sind alle gefragt: der Bundestag, die Ämter, die Truppe, die Regierung, aber auch die EU-Institutionen, die das Vergaberecht ändern könnten. Jeder und jede an seinem und ihrem Arbeitsplatz muss jetzt alles dazu beitragen, dass die Beschaffung beschleunigt wird. Es muss eine nationale Kraftanstrengung werden.

Aber keine Kriegswirtschaft?

Ich wäre vorsichtig mit dem Begriff, dahinter verbirgt sich etwas ganz anderes. Wenn man im Krieg ist, setzt man alle geltenden Regeln außer Kraft. Dorthin wollen wir nicht.

Einen Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten Sie nach einem Besuch beim Kontingent in Litauen öffentlich gemacht, dass die Soldaten keine Winterjacken und Unterhosen haben. Die Unterhose wurde zum Symbol für die Mangelausrüstung der Truppe. Hat sich zumindest das inzwischen geändert?

Ich hatte die fehlenden Unterhosen und Winterjacken öffentlich gemacht, weil ich bei meiner Reise nach Litauen feststellen musste, dass bei drei Grad Nieselregen das am Nötigste fehlte: Dicke Wollpullis, schützende Unterwäsche, Wintermäntel. Ich hielt das für einen Skandal und entschied mich, das laut zu sagen.

Hat es was bewirkt?

Es ging dann sehr schnell. Oberstleutnant Daniel Andrä, der damals das Kontingent kommandierte, sagte mir danach: 'Frau Högl, die Unterhosen und die Winterjacken sind da. Wir haben alles.' Zur Wahrheit gehört aber auch: Ohne den Krieg in der Ukraine hätte das früher niemanden interessiert.

Wegen des Ukraine-Kriegs müssen die Bundeswehrsoldaten an der Nato-Ostflanke nicht mehr frieren?

Es hat leider den Druck gebraucht, aber nun ist das Bewusstsein bei den militärischen und politischen Verantwortlichen vorhanden. Es gibt viele solcher Fälle. Als ich neulich beim Jägerbataillon Donaueschingen war, haben die mir gesagt: Bei uns sind jetzt die Socken angekommen, und die sind gut. Die haben jetzt Winter- und Sommersocken, lange und kurze. Darüber haben sich die Soldaten gefreut. Das ist kein Witz, sondern absolut wichtig, dass die Truppe am Körper hat, was sie für einen Auftrag braucht.

Ein weiteres großes Problem ist der Nachwuchsmangel bei der Bundeswehr. Bis 2031 soll sie auf gut 200.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Tatsächlich ist im vergangenen Jahr die Zahl der Bewerber und Bewerberinnen um elf Prozent gesunken. Müsste man sich nicht ehrlich machen und sagen, wir werden am Ende mit einer kleineren Armee auskommen müssen?

Realistisch gesehen halte ich einen Aufwuchs der Bundeswehr auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten bis 2031 für nicht erreichbar. Daraus den Schluss zu ziehen, dass wir eine kleinere Armee brauchen, wäre völlig falsch. Wir brauchen eher mehr Personal als weniger. Auch nach Ende des Krieges in der Ukraine müssen wir gegen die Gefahr eines Aggressors, sei es Russland oder jemand anderes, gewappnet sein. Eine Situation wie nach dem Ende des Kalten Krieges werden wir nie wieder erleben. Wir werden auch weiterhin internationales Krisenmanagement betreiben müssen. Deshalb müssen wir jetzt in die Personalgewinnung investieren. Das ist noch wichtiger als die Herausforderung beim Material.

Konkret: Wie können mehr Leute gewonnen werden?

Wir müssen klarmachen: Das ist kein normaler Job wie in der Verwaltung oder in einer Kfz-Werkstatt. Es geht darum, unsere Freiheit, unseren Frieden, unsere Demokratie zu vertreten und zu gewährleisten und im Ernstfall zu verteidigen. Wer sich für die Bundeswehr interessiert, muss rasch eine Antwort bekommen, nicht erst nach einem Jahr. Und die Bundeswehr muss zeigen, dass sie ein attraktiver Arbeitgeber ist. Mit modernen Führungsstrukturen und ausreichend Material und Ausstattung. Wenn junge Menschen zur Bundeswehr kommen und in ihrer Stube nicht mal WLAN haben, dann haben wir ein Problem.

Sollte die Bundeswehr an allen Schulen um Nachwuchs werben dürfen? In Baden-Württemberg ist es verboten.

Jugendoffiziere informieren hervorragend über die Bundeswehr. Dazu sollten sie an allen Schulen Gelegenheit haben. Das ist keine aggressive Werbung, sondern klärt über die Arbeit der Bundeswehr auf.

Reicht das aus?

Nein. Auch die Reserve muss gestärkt werden, um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Da gibt es verschiedene Ansätze, an denen gearbeitet wird. Auch Ungediente sollten die Möglichkeit bekommen, bei der Bundeswehr eine Ausbildung zu machen und dann für die Reserve zur Verfügung zu stehen. Sie bekommen eine verkürzte militärische Grundausbildung, können dann aber auch Wehrübungen absolvieren. So wie das kürzlich Bundesernährungsminister Cem Özdemir gemacht hat.

Schweden hat 2017 wieder die Wehrpflicht eingeführt. Wäre das auch ein Weg für Deutschland?

Nein. Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland wieder rückgängig zu machen, hilft überhaupt nicht. Wir haben nicht genügend Ausbilder und nicht genügend Infrastruktur dafür. Aber die Idee eines verpflichtenden „Dienstjahres für Deutschland“, was dann im zivilen oder militärischen Bereich abgeleistet werden kann, finde ich diskussionswürdig. Man könnte wie in Schweden einen gesamten Jahrgang junger Leute für die Bundeswehr zur Musterung einladen. Und sie dann, sofern sie wehrfähig sind, selbst entscheiden lassen, ob sie sich engagieren wollen oder nicht. Und diese Musterung sollte sich an alle Geschlechter richten.

Müsste die Bundeswehr noch sichtbarer im Alltag werden? Damit die Zeitenwende auch im Bewusstsein der Menschen ankommt?

Unbedingt! Die Amtshilfe, die die Bundeswehr in der Pandemie geleistet hat, hat schon sehr zur Sichtbarkeit beigetragen. Auch der Krieg in der Ukraine hat das Interesse an der Bundeswehr erhöht. Aber mehr Sichtbarkeit in der Bevölkerung heißt auch, mehr Begegnungen zu schaffen. Dazu gehören Gelöbnisse auf öffentlichen Plätzen, Zeremonien, wenn Verbände zu Auslandsmissionen aufbrechen oder zurückkehren. Ein Zeichen der Wertschätzung wäre auch, die Bundeswehr immer einzuladen, wenn es Feiern wie Schützenfeste, regionale Messen oder Ähnliches gibt.

Sie sind jetzt seit fast genau drei Jahren im Amt. Was hat Sie am meisten überrascht?

Ich bin beeindruckt und begeistert von dem, was die Soldatinnen und Soldaten leisten. Gerade in der jetzigen Lage. In der Vergangenheit ist die Truppe für viele Dinge verantwortlich gemacht worden, für die sie nichts kann. Oder unter Generalverdacht gestellt worden, sie habe strukturell ein Problem mit rechten Umtrieben. Das war falsch und ungerecht.

Interview: Miriam Hollstein und Daniel Mützel
 

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