Nachbesserungswünsche an überfälliger Reform
Berlin: (hib/AW) Die geplante Reform der Kinder- und Jugendhilfe stößt bei Verbänden und Experten auf ein geteiltes Echo. Begrüßt wird einhellig deren inklusiver Ansatz, kritisch hingegen werden die zu niedrig kalkulierten Kosten gesehen. Dies war das weitestgehend einhellige Urteil der Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung des Familienausschusses am Montag zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf für ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (19/26107) und einen Antrag der FDP-Fraktion (19/26158) zur Abschaffung der sogenannten Kostenbeteiligung von Pflegekindern im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Alle Sachverständigen begrüßten einhellig die angestrebte und überfällige Reform der Kinder- und Jugendhilfe, forderten aber an verschiedenen Stellen Nachbesserungen an der Gesetzesnovelle.
Elke Alsago von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) monierte vor allem die Auswirkungen des Gesetzentwurfes auf die Fachkräfte in der Sozialen Arbeit. Bislang habe sich das SGB VIII durch einen Hilfe- und Schutzauftrag, verbunden mit einem dialogischen Verständnis von Kinderschutz, ausgezeichnet. Der Gesetzentwurf weise jedoch auf einen Paradigmenwechsel hin, welcher bei Fachkräften der Sozialen Arbeit auf deutliche Ablehnung stoße. Statt Kooperation von Fachkräften und Berufsgeheimnisträgern werde der Kinderschutz auf die Kontrolle und Weitergabe von Informationen an das Jugendamt verkürzt. KKG). Das Handeln der Fachkräfte stehe damit nicht mehr unter der Prämisse der Prävention und Hilfe, sondern der Gefahrenabwehr, argumentierte Alsago. Dieser Kritik schloss sich Karin Böllert von der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) an. Sie warnte vor einer Veränderung des Schutz- und Hilfeauftrags des Jugendamts hin zu einer polizeilichen Gefahrenabwehrbehörde. Es sei mehr als nur fragwürdig, wenn Berufsgeheimnisträgern unterstellt werde, sie würden gewichtige Anhaltspunkte für eine Kinderwohlgefährdung leichtfertig übergehen und wenn sie jetzt zu einer Meldung an das Jugendamt verpflichtet würden. Das Angebot von Vertraulichkeit sei für etliche Akteure im Kinderschutz die zentrale Voraussetzung, um Kinder und Jugendliche schützen zu können. In diesem Sinne argumentierte auch Hubert Lautenbach vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO).
Durchgängig von allen Sachverständigen begrüßt wurde das Vorhaben, die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen stufenweise in der Kinder- und Jugendhilfe des SGB VIII zu bündeln. Eine inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe sei nach mehr als zehn Jahren nach der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland überfällig, um jungen Menschen mit Behinderungen und ihren Familien einen gleichberechtigten Zugang zu den Angeboten und Leistungen dieses Hilfesystems zu eröffnen, führte Christiane Möller vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) aus. Unterschiedlich bewertet wurde hingegen die siebenjährige Frist, in der dies geschehen soll. Während Stefan Hißnauer vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) und Koralia Sekler vom Bundesverband für Erziehungshilfe (AFET) diese Frist als angemessen bezeichneten, bewerteten sie Markus Dostal von „Projekt Petra“, der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert vom Universitätsklinikum Ulm und der Rechtswissenschaftler Reinhard Wiesner von der Freien Universität Berlin als zu langfristig. Vor allem sei der Stufenplan zur Umsetzung zu unverbindlich formuliert, monierte Wiesner.
Ebenso durchgängig kritisiert wurde von allen Sachverständigen, dass die Kosten der Reform als deutlich zu niedrig kalkuliert seien. Es sei völlig illusorisch, dass dies unter dem Aspekt der Kostenneutralität zu realisieren sei, wie dies die Bundesregierung offenbar anstrebe, lautete das einhellige Urteil. Vor allem werde mehr Personal benötigt. So schlug Sabine Gallep vom Deutschen Verein vor, eine Personalbedarfsbemessung für die Sozialen Dienste der Kinder- und Jugendhilfe in den Gesetzentwurf aufzunehmen. Jörg Freese von der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände forderte die Bundesregierung auf, einen Finanzierungsweg zu finden, wie die Länder in Höhe der Mehrkosten entlastet werden können.