Experten diskutieren Armuts- und Reichtumsbericht
Berlin: (hib/HAU) Über Konsequenzen aus dem sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung haben Sachverständige während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag diskutiert. Zu dem Bericht hatten die AfD-Fraktion (19/30403), die Fraktion Die Linke (19/30388) und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/30394) Anträge vorgelegt.
Aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht, dass in Deutschland eine große Zahl von Menschen in verfestigter Armut lebt oder von Armut bedroht ist. Die Armutsrisiken-Quote habe im Berichtszeitraum stabil zwischen 15 und 16 Prozent gelegen, sagte Caritas-Vertreterin Birgit Fix. Die gute wirtschaftliche und konjunkturelle Entwicklung habe nicht zu einem Sinken der Ungleichheit geführt. Sozialpolitisch besonders bedenklich sei der Befund, wie sehr sich Armut im Lebensverlauf verfestige. Die Wahrscheinlichkeit auch in der nächsten Fünfjahresperiode noch der sozialen Lage „Armut“ anzugehören, liege bei heute armen Menschen bei 70 Prozent - in den 1980er Jahren seien es nur 40 Prozent gewesen, sagte Fix.
Die Einkommensverteilung sei in den letzten Jahren stabil geblieben, die Vermögensungleichheit sogar gesunken, hießt es hingegen von Seiten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Zudem habe es positive Entwicklungen bei der Zahl der Langzeitarbeitslosen sowie bei Löhnen und Gehältern gegeben. Dennoch, so BDA-Vertreterin Renate Hornung-Draus, glaube eine Mehrheit, dass durch das anhaltende Wachstum von Armut und Reichtum eine Polarisierung entstanden sei, „die nicht von der Datenlage bestätigt wird“. Künftig müssten bestehende Diskrepanzen zwischen der positiven Faktenlage und der verzerrten Wahrnehmung abgebaut und deren Ursachen erforscht werden.
Der Bericht lasse konkrete Ziele der Bundesregierung vermissen, sagte die Einzelsachverständige Irene Becker. Eine ausführlichere Darstellung normativer Leitlinien wäre aber notwendig, „um vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen politische Maßnahmen aus Sicht der Regierung als förderlich oder unzureichend erkennen zu können“, hieß es in ihrer Stellungnahme.
Der Volkswirt Maximilian Stockhausen sieht in dem Bericht eine Fortsetzung der positiven Entwicklung fundamentaler Kennzahlen des Arbeitsmarkts, der Einkommen sowie der Vermögen, die sich bereits im vorherigen Armuts- und Reichtumsbericht abgezeichnet habe. Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Finanzkrise 2007/2008 sowie durch die Flüchtlingszuwanderung könne die Stabilisierung des sozialen Gefüges bei durchschnittlich steigenden Realeinkommen aller Einkommensgruppen als positiv bewertet werden, urteilt er.
Der Einzelsachverständige Georg Cremer, früherer Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, nannte es in seiner Stellungnahme „wünschenswert“, wenn sich der nächste Armuts- und Reichtumsbericht der Problematik der „verdeckten Armut“ intensiver zuwendet. Dies sollte seiner Auffassung nach nicht allein beinhalten, den Umfang des Problems erneut abzuschätzen, sondern auch zu erforschen, warum Menschen trotz materiellen Mangels die ihnen zustehenden sozialen Leistungen nicht beantragen.
Der Bericht bleibt laut Ruxandra Empen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) an vielen Stellen fragmentarisch und damit hinter den Erwartungen des DGB zurück. Zum Thema prekäre Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit und Armut fehlten tiefergehende Analysen. Ebenso wenig gehe der Bericht der Frage nach, wie es sein könne, dass bei einer guten wirtschaftlichen Lage und einem Rekordtief bei der Arbeitslosigkeit das Armutsrisiko im Jahr 2019, also laut aktuellsten Zahlen aus dem Mikrozensus, in Deutschland auf dem Höchststand sei.
Markus Promberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) verwies auf sinkende Werte bei den niedrigen Einkommen, während die höheren Einkommen steigen würden. „Es gibt also eine Art Schere“, sagte er und forderte, auf die unteren Einkommen aufzupassen, „damit diese Menschen nicht von der Wachstumsentwicklung abgehängt werden“.
Der Bundesverband Arbeiterwohlfahrt (AWO) sieht in den Ergebnissen des Berichts erneut einen dringlichen politischen Auftrag, wirksame Maßnahmen gegen Armut und soziale Ausgrenzung sowie gegen soziale Ungleichheit zu ergreifen. Dies bedeute nach Aussage des AWO-Vertreters Valentin Persau, das Sicherheitsversprechen des Sozialstaates zu erneuern, indem unter anderem die sozialen Mindestsicherungssysteme weiterentwickelt und Investitionen in die soziale Infrastruktur vorgenommen werden. Ferner erwarte die Mehrheit der Menschen mehr soziale Gerechtigkeit bei der Besteuerung.
Es gehe darum, Armut in all ihren Erscheinungsformen abzuschaffen und gute Arbeit zu fördern, hieß es von Seiten des Vertreters des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Joachim Rock. Das Hartz IV-System müsse überwunden werden, weil es Hartz IV-Bezieher nicht vor Armut schütze. Für die menschenwürdige Neuausrichtung der Grundsicherung für Arbeitsuchende sei eine Neuberechnung der Regelsätze von elementarer Bedeutung. Die aktuellen Regelsätze seien künstlich klein gerechnet und hielten die Betroffenen in Armut.
Olaf Groh-Samberg vom Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, hält die Verfestigung von Armut für den Kernbefund des Berichts. Der Anteil der Menschen, die in Deutschland in Armutslagen leben, werde nicht nur im Zeitverlauf größer. Gleichzeitig würden auch die Aufstiegschancen dieser Menschen aus der Armutslage geringer, befand Groh-Samberg. Der deutliche Rückgang der Aufstiege aus Armut sei ein entscheidender Treiber der Armutsentwicklung der letzten drei Jahrzehnte in Deutschland, der von einer temporären Zunahme der Abstiege aus Prekarität und unterer Mitte noch verstärkt worden sei.