Menschenrechtliche und humanitäre Lage in Afghanistan
Berlin: (hib/SAS) Nach der Machtübernahme der radikal-islamischen Taliban in Afghanistan plant die Bundesregierung eine Soforthilfe für afghanische Flüchtlinge aufzulegen, das hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen (SPD), in einer Sondersitzung des Menschenrechtsausschusses am Donnerstagnachmittag bestätigt. Zusammen mit Vertretern des Bundesinnenministeriums (BMI) sowie des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) war der Außenstaatssekretär in den Ausschuss gekommen, um den Abgeordneten über die Lage in Kabul und den Stand der laufenden Evakuierung Rede und Antwort zu stehen.
„Wir sind bereit, zusätzliche humanitäre Hilfe zu leisten“, betonte Annen. Mit den Geldern sollten Hilfsorganisationen und insbesondere das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) unterstützt werden, die sich in Nachbarländern wie Iran um die geflüchteten Menschen kümmern. Zahlungen im Rahmen der bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit seien jedoch vorerst gestoppt worden, so der Staatsminister. Um die Ausreise von Ortskräften und anderen „besonders gefährdeten Personen“ wie Menschenrechtsverteidigern und Journalisten aus Afghanistan zu erreichen, setze die Bundesregierung zudem auf Verhandlungen mit den Taliban, sagte Annen. „Zur Stunde“ fänden bereits Gespräche mit den Unterhändlern der Miliz in Doha statt. Der frühere deutsche Botschafter und ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan, Markus Potzel, sei dafür eigens in die katarische Hauptstadt gereist.
Annen verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass dessen langjährige Kontakte zu den Taliban dazu beitrügen, all jenen ein freies Geleit zu ermöglichen, die sich „prominent für Menschenrechte in Afghanistan eingesetzt“ hätten. „Vom Erfolg der Gespräche wird mit abhängen, ob wir die Chance bekommen, sie in Sicherheit zu bringen“, erklärte der Außenstaatssekretär. Dabei sei der gute Ruf der Deutschen in Afghanistan ein wichtiges „Asset“. Die Evakuierung über den Flughafen in Kabul komme trotz der weiterhin volatilen und sich „stündlich“ ändernden Lage derweil voran: Laut eines Vertreters des BMVg habe die Bundeswehr Stand Donnerstagnachmittag rund 900 Menschen, darunter 489 Afghanen und 185 Deutsche, seit Montag über die usbekische Hauptstadt Taschkent ausgeflogen. Am Abend sei der insgesamt neunte Evakuierungsflug geplant.
Verlässliche Informationen zur allgemeinen Situation in Afghanistan zu bekommen sei nach der Schließung der deutschen Botschaft und der Evakuierung ihrer Mitarbeiter schwierig, betonte der Staatsminister. Das gelte auch für die Bewertung des Verhaltens der Taliban. Es falle auf, dass sich „Rhetorik und politische Gesten“ stark von dem unterschieden, was man in den 1990er Jahren erlebt habe. Die Miliz sei sichtlich bemüht, ein „moderates Image“ von sich zu zeichnen. Ob das „reine Taktik“ sei, bleibe abzuwarten. Im Kontrast dazu stünden Berichte über brutale Menschenrechtsverletzungen in den letzten Tagen. Diese Widersprüchlichkeit könne, so Annen, ein Zeichen dafür sein, dass noch nicht entschieden sei, wie das „Gesicht der künftigen Regierung“ aussehen werde. „Ich wäre nicht überrascht, wenn es innerhalb der Taliban bald zu einer Auseinandersetzung über den Kurs kommt.“
Abgeordnete der Opposition übten harsche Kritik an der Afghanistan-Politik der Bundesregierung. Sie habe viel zu spät gehandelt und Menschen in Gefahr gebracht, so ein Mitglied der AfD-Fraktion. Afghanische Ortskräfte, die der Bundeswehr „über Jahre treu“ geholfen hätten, müssten in Sicherheit gebracht werden. Gleichwohl brauche es eine klare Definition, wer als Ortskraft anerkannt werden könne und wer nicht. „Unbegrenzte Menschengruppen“ dürfte jedenfalls nicht zu Ortskräften gemacht werden, forderte der AfD-Abgeordnete. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen warf der Regierung vor, sich hinter „Schutzbehauptungen“ zu verstecken. Zwar sei nicht absehbar gewesen, wie schnell das afghanische Militär aufgeben und die Taliban die Macht übernehmen würde. Doch dass die Ortskräfte mit einem Vormarsch der Miliz in Lebensgefahr schweben würden, sei seit Monaten klar gewesen. Es habe zudem etliche Warnungen gegeben, aber keines der beteiligten Ministerien habe darauf reagiert, monierte eine Abgeordnete.
Daran knüpfte auch eine Abgeordnete der Linksfraktion mit ihrer Frage nach der Rolle des BMI im Fall einer abgesagten Rückholaktion von Ortskräften Ende Juni an: Wie es sein könne, dass sich das Ministerium „wochenlang“ geweigert habe, Aufnahmeverfahren zu erleichtern, wollte sie wissen. Ab wann Auswärtiges Amt und BMVg darauf bestanden hätten, die „visa on arrival“-Lösung anzuwenden, danach erkundigte sich wiederum die SPD-Fraktion und drang darauf zu erfahren, welche Personen konkret auf die Rettungsliste der Bundesregierung gesetzt würden. Hätten auch sogenannte Auftragnehmer oder erwachsene Söhne von Ortskräften eine Chance, ausgeflogen zu werden? Die CDU/CSU-Fraktion fragte nach weiteren Möglichkeiten, afghanischen Flüchtlingen zu helfen und erkundigte sich nach der Unterbringung der Geretteten in Deutschland. Die FDP-Fraktion schließlich appellierte, mehr Pragmatismus und Flexibilität bei der Erstellung der Listen walten zu lassen. Erst gelte es, Menschen in Sicherheit zu bringen, so ein Fraktionsmitglied. Deren Identität lasse sich auch anschließend noch feststellen.