24.04.2024 Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz — Anhörung — hib 274/2024

Industrie warnt vor Produktionsabwanderung bei PFAS-Verbot

Berlin: (hib/NKI) Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS) - industriell hergestellte organischen Verbindungen - sind zwar sehr widerstandsfähig, ohne sie würden viele Alltagsgegenstände wie Outdoorbekleidung, Handys und Pfannen nicht auskommen. Jedoch sammeln sich die Rückstände weltweit in Pflanzen, Böden, Wasser und Lebewesen an, sie gelten als gesundheitsgefährdend. Sollten diese Verbindungen verboten werden? Oder sollten die Vorteile der PFAS gegen die Gefahren abgewogen werden, wie es ein Antrag (20/9736) der CDU/CSU-Fraktion unter dem Titel „Vorteile von per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) weiter nutzen - Wertschöpfung erhalten - Gesundheit und Umwelt schützen“ fordert? Darüber diskutierte der Umweltausschuss am Mittwochvormittag in einer öffentlichen Anhörung. Die Debatte zeigte einmal mehr, dass sich die Argumente aus dem Lager der Umweltvertreter mit denen aus dem Unternehmerbereich nur schwer in Übereinstimmung bringen lassen.

Ulrike Kallee, Abteilungsleiterin Stoffe und Technologien beim Bund Naturschutz Deutschland (BUND), will „die Ewigkeits-Chemikalien“ PFAS beschränken und fordert eine zügige Umsetzung des Beschränkungsvorschlages, den die Niederlande, Deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen im Januar 2023 bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) eingereicht haben. Der Vorschlag ziele darauf ab, sowohl die Verwendung als auch die Herstellung von PFAS zu verbieten. Der BUND begrüßt den Vorschlag „als wichtige Maßnahme, um die fortschreitende Kontamination von Mensch und Umwelt mit diesen hoch problematischen Stoffen aufzuhalten“. Die Bundesregierung solle sich für die Umsetzung der universellen PFAS-Beschränkung einsetzen und den Ausstieg aus Produktion und Verwendung der gesamten PFAS-Gruppe in der EU bis 2030 auf den Weg bringen.

Diese Position unterstützt auch Rainer Söhlmann, Leiter der PFAS-Geschäftsstelle im Landratsamt Rastatt. Der EU-Beschränkungsvorschlag werde begrüßt, weil er „dem Schutz der Menschen dient und der Industrie lange Übergangsfristen einräumt“. Der Landkreis Rastatt sowie die Stadtkreise Baden-Baden und Mannheim hätten „leidvolle Erfahrungen mit der Stoffgruppe der PFAS machen müssen“. Alleine durch die Vermischung von Papierschlämmen mit Kompost und der Aufbringung auf Ackerflächen seien in Mittelbaden etwa 1.100 Hektar Bodenfläche als belastet eingestuft. Eine umfassende Sanierung sei schon aufgrund der Dimension des Schadensfalls nicht möglich und nicht finanzierbar. Seit dem Jahre 2013 sei zum Schutz der Bevölkerung bereits ein mittlerer zweistelliger Millionenbetrag durch das Land, den Landkreis, den Kommunen, den Wasserversorgern und der Landwirtschaft ausgegeben worden. Diese Kosten würden im Wesentlichen durch die Allgemeinheit getragen, nicht jedoch durch die Produzenten und Inverkehrbringer der PFAS.

Auch Martin Scheringer, Professor für Umweltchemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, fordert mehr Tempo. „Der Beschränkungsvorschlag ist wichtig und kommt eher zu spät als zu früh“, sagte er und wies darauf hin, dass sich seit einigen Monaten abzeichne, dass die fluorchemische Industrie sich auf fluorierte Gase und Fluorpolymere fokussiere und andere Verwendungen von PFAS nicht mehr beibehalten wolle. Für viele Anwendungen von PFAS gebe es längst fluorfreie Alternativen. Bei wichtigen Komponenten elektrischer Geräte für die Energiewende wie Brennstoffzellen und Batterien seien Alternativen zu PFAS in der Entwicklung und teilweise auch bereits verfügbar. „Die Kosten für die weltweite Sanierung belasteter Standorte und die Aufbereitung von Trinkwasser sowie für das Gesundheitssystem sind immens“, sagte Scheringer. Aus diesem Grund müsse es jetzt in der politischen Diskussion und in der regulatorischen Praxis „dringend“ um diese Kosten und Beeinträchtigungen gehen.

Mirjam Merz, Referentin Umwelt, Technik und Nachhaltigkeit beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), hingegen warnt vor einer zu engen Beschränkung. Für viele PFAS-Verwendungen existierten absehbar keine geeigneten Alternativen, so dass Industrie und Gesellschaft auch zukünftig auf den Einsatz von PFAS angewiesen sein würden, zum Beispiel in der Wasserstoffelektrolyse, bei der Herstellung von Windkraftanlagen und Photovoltaik-Paneelen, in technischen Textilien, Industrieanlagen sowie bei der Halbleiterherstellung und in Medizinprodukten. Für gesellschaftlich hochwichtige Anwendungen wie die Medizintechnik sowie für High-Tech- und Industrieanwendungen fordert der BDI umfassende Ausnahmen, um den Weiterbetrieb von Industrieanlagen, den Fortbestand ganzer Wertschöpfungsketten/-netze in Europa und die grüne Transformation der Industrie nicht zu gefährden. Zudem werden angemessene Übergangsfristen gefordert.

Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände, schloss sich dem BDI an. „Die vorgesehenen pauschalen Verbote hätten fatale Auswirkungen auf die Industrieproduktion in allen Branchen, auf die Arbeitsplatzsicherheit, die Planungssicherheit für Unternehmen, zukünftige Innovationen sowie auf fast alle Hochtechnologie-Anwendungen und damit auf die Zukunftsfähigkeit und Resilienz des Standortes Deutschland und Europa“, sagte sie. Nach Einschätzung von Experten gebe es derzeit keine adäquaten Substitute, um die zahlreichen betroffenen Anlagen auch weiterhin zukunftsfähig betreiben zu können und den Aufwand eines erneuten Durchlaufens des Anlagen-Genehmigungsverfahren zu rechtfertigen. Sie forderte eine grundlegende Überarbeitung und Neufassung des vorliegenden Beschränkungsvorschlags.

„Das PFAS-Verbot darf kein Hightech-Verbot werden“, sagte Martin Leonhard, Vorsitzender bei Spectaris, dem Deutschen Industrieverband für Optik, Photonik, Analysen- und Medizintechnik. Anstatt für ein Pauschalverbot der PFAS-Stoffgruppe plädierte er für eine Rückkehr zu einem risikobasierten Ansatz im Einklang mit der bestehenden REACH-Verordnung. Der aktuelle Vorschlag gehe über vernünftige Maßnahmen hinaus und führe zu Rechtsunsicherheiten. Leonhard schilderte die Konsequenzen, die ein PFAS-Verbot für die Medizintechnikindustrie hätte. Auch die Endoskopie und minimalinvasive Chirurgie seien wichtige Teilbereiche der diagnostischen und interventionellen Medizin. Dort würden aus der PFAS-Gruppe überwiegend Fluorpolymere oder Fluorelastomere eingesetzt. Erst diese Materialien hätten „das medizinische Teilgebiet so erfolgreich gemacht, wie es heute ist“. Ohne PFAS könnten Gallenblase, Blinddarm, Leistenbruch, Uterus oder Prostata nicht mehr minimalinvasiv mittels endoskopischer Chirurgie behandelt werden.

Auch Kirsten Metz, Expertin für Chemikalien- und Umweltpolitik beim Verband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI), befürwortete einen risikobasierten, zielgerichteten Regulierungsansatz und lehnte ein pauschales Verbot ab. Aus diesem Grund solle das PFAS-Vorhaben zurückgezogen und grundlegend überarbeitet werden, damit stärker zwischen den Risikoprofilen der verschiedenen PFAS-Gruppen und ihren Anwendungen unterschieden werde.

Bernhard Langhammer, Sprecher der Initiative Chem Delta Bavaria, in der 18 chemische, pharmazeutische und biotechnologische Unternehmen zusammengefasst sind, sagte: „Die Beschränkung von PFAs ist grundsätzlich zu befürworten, ebenso aber auch praktikable Vorgaben im Umgang mit PFAs.“ Etliche dieser Stoffe seien bislang nicht zu ersetzen. Es gebe bereits Beispiele, wie etwa die abwasserfreie Produktion, wie sie im Chemiepark Gendorf betrieben werde. Nun stehe die Schließung der Anlage im Jahr 2025 bevor, was Importe aus dem Ausland zur Folge hätte. Deshalb solle sich die Bundesregierung für Ausnahmeregeln zur Nutzung von Flurpolymeren einsetzen.

Jörg Schierholz, Arzt und Chemiker, warnte ebenfalls vor der Umsetzung der Beschränkung: „Es ist ein Irrglaube, komplexe chemische Verbindungen für zehntausende essentielle Anwendungen allumfassend durch Verbote regulieren zu können, ohne dass es zu erheblichen Schäden für den Technologie- und Wirtschaftsstandort Europa kommt.“ Da die PFAS-Beschränkung im Rahmen der Chemikalienstrategie der EU-Kommission als „Musterverfahren“ für zukünftige, breit angelegte Verbots-Verfahren und den Aufbau einer entsprechenden Kontroll-Bürokratie gelte, solle der vorliegende „umfassende PFAS-Verbotsansatz abgelehnt und schnellstmöglich ein differenziertes, wissenschaftsbasiertes Regulierungsvorgehen formuliert werden“, sagte Schierholz.

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