UNRWA-Chef zu Gaza und den Vorwürfen gegen das Hilfswerk
Berlin: (hib/SAS) Der Chef des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA), Philippe Lazzarini, hat am Mittwoch im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe über die Lage der Menschen in Gaza berichtet und zu den Vorwürfen gegen die von ihm geführte Organisation Stellung genommen.
Dabei sprach Lazzarini, der seit März 2020 Generalkommissar der UNRWA ist, von Gaza als einer postapokalyptischen Welt, in der es weder zivile Ordnung noch Zuflucht gebe. Frauen und Kinder litten besonders. Es fehle überall am Nötigsten - an Nahrung, Wasser, sanitären Einrichtungen und an medizinischer Versorgung. Lazzarini berichtete von Banden, die Lebensmitteltransporte überfielen und plünderten. Fast acht Monate nach dem Terrorangriff der islamistischen Hamas in Israel und dem darauffolgenden israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen kämpfe die Zivilbevölkerung dort um ihr Überleben, so der UNRWA-Chef. Seit der Offensive des israelischen Militärs in Rafah habe sich die Lage nochmals verschlechtert: Über den Grenzübergang in Rafah kämen keine Hilfsgüter mehr. Seine Organisation habe die Verteilung aufgrund Lieferengpässen und der Sicherheitslage zunächst einstellen müssen. Geöffnet seien zuletzt nur die Grenzübergänge Kerem Schalom und Erez gewesen, doch über Letzteren erreichten Hilfsgüter vor allem den nördlichen Gazastreifen, wo mit 150.000 nur vergleichsweise wenige Menschen lebten. In Rafah, im Süden des Gazastreifens, hatten zuletzt mehr als eine Million Menschen Zuflucht vor den Kämpfen gesucht.
Lazzarini äußerte seine Hoffnung auf einen Waffenstillstand und eine Freilassung der seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober noch immer verschleppten israelischen Geiseln, gleichzeitig zeigte er sich tief besorgt über eine Ausweitung des Kriegs auf den Libanon. Schon jetzt habe der Krieg verheerende Folgen mit Blick auf die Zahl der Toten und Verletzten, der Zerstörung und nicht zuletzt der politischen Auswirkungen über die Region hinaus.
Auch die Vereinten Nationen und ihre Organisationen, vor allem die UNRWA seien betroffen, sagte der Generalkommissar. Mindestens 192 ihrer Mitarbeiter seien seit Beginn der Kämpfe getötet, 170 Einrichtungen schwer beschädigt worden. Etwa 400 Geflüchtete, die Schutz in UNWRA-Einrichtungen gesucht hätten, seien gestorben. Zudem sehe sich das Hilfswerk immer wieder mit schweren Vorwürfen konfrontiert, so Lazzarini mit Blick insbesondere auf die Anschuldigungen von israelischer Seite, unter dem UNWRA-Hauptquartier in Gaza befänden sich Tunnel und ein Datenzentrum der Hamas. Mitglieder der israelischen Regierung würden der UNRWA vorwerfen mit der Terrororganisation zusammenzuarbeiten. Aktuell berät die Knesset, das israelische Parlament, einen Gesetzentwurf, der das Palästinenserhilfswerk als terroristische Organisation einstuft.
Schockiert sei er über Anschuldigungen gewesen, Mitarbeiter der UNRWA seien an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen, sagte Lazzarini. Zwölf Mitarbeitern sei daraufhin direkt gekündigt worden, außerdem seien alle Mitarbeiter des Hilfswerks überprüft worden. Im Fall von 14 Mitarbeitern liefen noch die Untersuchungen, es sei noch sei nicht abschließend geklärt, ob sie tatsächlich an den Anschlägen beteiligt gewesen seien.
Auf Kritik von Abgeordneten der Unionsfraktion und der AfD, die Lazzarini vorhielten, nicht selbstkritisch genug mit Fehlentwicklungen in der Organisation umzugehen, entgegnete der UNRWA-Chef, er gehe jeder Anschuldigung nach. Doch es brauche auch Beweise. Das hatte auch der Bericht der VN-Untersuchungskommission unter dem Vorsitz der früheren französischen Außenministerin Catherine Colonna konstatiert, aber der UNRWA auch Neutralitätsprobleme bescheinigt und eine Reihe von Empfehlungen etwa zur Überprüfung von Mitarbeitern oder zur Revision des gesamten Lehrmaterials an den von der UNRWA betriebenen Schulen gegeben.
Lazzarini warb im Ausschuss für die weitere politische wie finanzielle Unterstützung von UNRWA: Das Hilfswerk sei in Gaza unverzichtbar, betonte der UNRWA-Chef. Noch nie habe es eine solche humanitäre Krise dort gegeben wie jetzt, der größte Teil der mehr als zwei Millionen Palästinenser sei schon zuvor auf Hilfen der UNRWA angewiesen. Auch Programme des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) benötigten die Unterstützung seiner Organisation, so Lazzarini. Das gelte mehr denn je in der Zukunft: Welche andere Organisation habe die Fähigkeiten, während einer Übergangzeit nach einem Waffenstillstand die rund eine Million Kinder im Schulalter zurück in Bildung zu bringen, fragte Lazzarini.
Das sahen manche Abgeordnete skeptisch. Vertreter der AfD-Fraktion lehnten eine Unterstützung und Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der UNRWA ab, und auch Mitglieder der Union stellten dies in Frage. Das System müsse überdacht und durch andere, dezentrale Strukturen ersetzt werden, regte ein Abgeordneter an. Dieser Meinung schlossen sich Vertreter von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe Die Linke nicht an. Die FDP hingegen sah ein Dilemma: Die Herausforderungen in Gaza seien riesig, aber die Vorwürfe auch, so ein Mitglied der Fraktion: Wie wolle Lazzarini angesichts dessen weitermachen? Er vermisse einen Plan.