Zeuge: „Ortskräfteverfahren hat funktioniert“
Berlin: (hib/CRS) Ein Zeuge aus dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) hat gestern vor dem 1. Untersuchungausschuss Afghanistan die Gründe erläutert, warum sein Ministerium Änderungswünschen am Ortskräfteverfahren (OKV) stets zögerlich begegnet sei. Vor allem habe das BMI einen Übergang von Einzelprüfungen der Gefährdungsanzeigen zur Pauschalaufnahme der Ortskräfte aus migrationspolitischen aber auch Sicherheitsgründen nicht gewünscht.
Der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan untersucht die Ereignisse zwischen dem Abschluss des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020, mit dem der Abzug internationaler Truppen geregelt wurde, und der chaotischen Evakuierung am Kabuler Flughafen Mitte August 2021.
Ulrich Weinbrenner, Abteilungsleiter für Migration, Flüchtlinge und Rückkehrpolitik im BMI, schilderte vor dem Ausschuss Zahlen zu afghanischen Staatsangehörigen in Deutschland. Demnach habe sich die Zahl der einreisenden Afghanen innerhalb kürzester Zeit fast verdoppelt. Demgegenüber habe es Rückführungen in einem sehr begrenzten Umfang gegeben, obwohl mehrere Tausend ausreisepflichtige Afghanen sich in Deutschland aufhielten.
Das OKV sei 2013 vereinbart worden. Gesetzliche Grundlage sei Paragraf 22 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes gewesen, wonach eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn die Aufnahme aus politischem Interesse erklärt wird. Laut Weinbrenner kam Paragraf 22 für Afghanen infrage, die individuell besonders gefährdet gewesen seien. Bis 2021 habe das Auswärtige Amt (AA) 50 Prozent der Anträge abgelehnt. „Das zeigt, dass da durchaus eine Prüfung stattgefunden hat“, sagte Weinbrenner.
Ab 2020 habe das AA angefragt, ob das Verfahren ohne vorherige Sicherheitsüberprüfung im Ausland („Visa on arrival“) stattfinden kann, weil die Botschaft in Kabul seit einem Anschlag im Jahr 2017 keine Kapazitäten für die Visabearbeitung mehr gehabt habe. Das BMI habe sich bis zum Ende dagegen ausgesprochen, so der Zeuge, weil dann auf eine Abfrage bei den Sicherheitsbehörden verzichtet werden müsste. Das habe für die Sicherheit zuständige BMI nicht akzeptieren können. Ein Umstand, den bisher mehrere Zeugen vor dem Ausschuss kritisierten.
Bei „Visa on arrival“ würden die Pässe und Dokumente am Flughafen von der Bundespolizei kontrolliert, aber das sei ein enormer Unterschied. Es habe viele Fälle gegeben, wo die Personen Straftaten begangen hätten, betonte der Zeuge, „da fragte man sich, wie sie denn nach Deutschland gekommen sind.“ Man habe sie in der Datenbank gehabt, führte er aus. Hätte man sie vorher geprüft, wären sie nicht reingekommen.
Letztlich sei die Eröffnung eines Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kabul die Lösung gewesen, wo die Anträge nach dem Abzug der Truppen entgegengenommen und bearbeitet werden sollten.
Auf die Frage eines Abgeordneten, ob der Zeuge wisse, dass die anderen Ressorts das BMI deshalb als „Bremser“ empfunden hätten, antwortete Weinbrenner, „Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Er wies aber darauf hin, dass sie, aus ihrer Sicht, „alle möglichen Änderungen begrüßt und mitgetragen“ hätten. Weinbrenner fügte hinzu, dass die Hausleitung diese Linie mitgetragen habe. „Wir haben uns Bestätigung für unsere Linie geholt“ sagte er. Durch den Jour fixe mit dem Staatssekretär hätten sie stets das Gefühl gehabt, dass sie sehr nah an der Linie der Hausleitung gewesen seien: „Wir mussten keine Überzeugungsarbeit leisten.“
Bis zum Sommer 2021 sei man davon ausgegangen, dass Ressorts individuelle Prüfungen gewährleisten könnten. Auch als im April das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) angefragt habe, den Berechtigtenkreis für das OKV zu erweitern, hätten sie abgelehnt. „Für uns war wichtig von pauschalen Aufnahmen abzusehen - auch aus migrationspolitischen Gründen“ sagte Weinbrenner, aber auch deshalb, weil die Beschäftigung der Ortskräfte „mehrere Jahre zurücklag und daher eine Sicherheitsprüfung schwierig war.“ Man habe Präzedenzfälle vermeiden wollen. Das habe auch für das AA eine große Rolle gespielt.
Nach intensiven Diskussionen sei aber im Juni 2021 zunächst für die Ortskräfte der Bundeswehr ein angepasstes Ortskräfteverfahren vereinbart worden, berichtete der Zeuge. Ausschlaggebend sei gewesen, dass die Bundeswehr gegen Ende Juni 2021 aus Afghanistan abgezogen werden würde und danach keine Möglichkeit gehabt hätte, die Gefährdungsanzeigen vor Ort zu prüfen.
Weinbrenner erklärte, dass er die Meinung teile, dass das OKV nicht für Afghanistan gemacht sei. Es habe aber funktioniert.