Zeugin: BND-Lageberichte im August 2021 überholt
Berlin: (hib/GHA) Der 1. Untersuchungsausschuss „Afghanistan“ hat am Dienstagabend die Befragung von Petra Sigmund fortgesetzt, seit August deutsche Botschafterin in Japan und zur Zeit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 Leiterin des Referats Asien und Pazifik im Auswärtigen Amt (AA). Dabei bekräftigte die Zeugin ihre Aussage aus der ersten Vernehmung am 4. Juli, dass der damals vorliegende Lagebericht des Bundesnachrichtendienstes (BND) „veraltet“ gewesen und „von den sich überstürzenden Ereignissen“ in Kabul überholt worden sei.
Sigmund berichtete auf Befragung erneut von mehreren Sitzungen im AA in den Tagen vom 12. bis 16. August 2021, darunter „Hausbesprechungen“ und Konferenzen des Krisenstabes. Dabei sei die Besprechung am 12. August nach ihrer Erinnerung die erste Sitzung dieser Art nach der Corona-Pandemie gewesen, die wieder „in Präsenz“ stattgefunden habe, nicht virtuell. Es habe in dieser Zeit täglich Zusammenkünfte im Ministerium gegeben, bei denen das Thema Afghanistan erörtert worden sei. Bei der „Hausbesprechung“ am 12. August 2021 sei für den 16. August eine Sitzung des AA-Krisenstabes beschlossen worden, diese Sitzung wurde dann im Nachgang auf den 13. August vorgezogen, sagte Sigmund, dies sei nicht zuletzt wegen der Berichte des Gesandten Jan van Thiel aus der deutschen Botschaft in Kabul geschehen. Dieser habe, im Gegensatz zu der Lageeinschätzung des BND, darauf hingewiesen, dass der Fall von Kabul und die komplette Machtübernahme durch die Taliban „kurz bevor stehe“, berichtete Sigmund vor dem Untersuchungsausschuss. Der Darstellung van Thiels habe man vollständig vertraut.
Die „äußerst dramatische Situation“, so Sigmund, habe im AA dazu geführt, eine Evakuierung der deutschen Botschaft vorzubereiten. In einem Telefonat von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) mit seinem US-Amtskollegen Antony Blinken seien sich beide Politiker einig darin gewesen, dass „wir in eine neue Lage eingetreten“ seien, berichtete die Diplomatin. Blinken habe zugesagt, die Verlagerung der deutschen Botschaft an den Flughafen in Kabul zu garantieren sowie die Ausreise der Botschaftsangehörigen, der Ortskräfte sowie weiterer „Schutzbefohlener“ zu unterstützen.
Sigmund räumte Probleme bei der Erstellung von Listen ausreisewilliger Personen ein - deutscher Staatsangehöriger in Afghanistan sowie potenziell gefährdeter Ortskräfte und sonstiger „Schutzbefohlener“ wie Menschenrechtsaktivisten, Anwältinnen oder Journalisten. Es habe zu diesem Zeitpunkt mehrere solcher Listen gegeben, vom AA, vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Das AA habe sich bemüht, „ein gewisses Chaos durch mögliche Doppelungen“ dadurch zu verhindern, dass die unterschiedlichen Listen „in einer konsolidierten Liste“ zusammengeführt wurden.
Allerdings sei es schwierig gewesen, durch die unübersichtlichen Zustände vor Ort Personen, die ausreisen wollten, zu erfassen und über eine unmittelbar bevorstehende Evakuierung zu informieren, sagte Sigmund vor dem Ausschuss. Afghanische Stellen seien zu diesem Zeitpunkt nicht mehr beteiligt worden. Irgendwelche Sicherheitszusagen der Taliban habe man kategorisch als nicht belastbar betrachtet: „Eine Sichereitsgarantie durch die Taliban war ein Widerspruch in sich“, erklärte Sigmund. Daher habe man sich auf die eigene Verantwortung für Botschaftsangehörige, Ortskräfte und andere „Schutzbefohlene“ verlassen sowie auf die Garantie der Amerikaner, die Evakuierung dieser Personen zum Flughafen sicher zu stellen.
Die Verlagerung der Botschaft an den Flughafen in Kabul am 15. August 2021 sei vom AA durch den von Minister Heiko Maas geleiteten Krisenstab begleitet worden. Der ursprüngliche Plan, für den Ausflug eine Art „Charter-Luftbrücke“ zu organisieren, habe sich durch die dramatischen Ereignisse in Kabul zerschlagen. Der Fall von Kabul am 15. August machte es erforderlich, die Evakuierung ausschließlich durch Militärmaschinen durchzuführen, erläuterte Sigmund. Berichte über einen angeblichen Versuch einer Privatinitiative (Kabul Luftbrücke) für einen Charter-Flug aus Kabul einbezogen zu werden, konnte Petra Sigmund nicht bestätigen. Insgesamt sei das Problem nicht gewesen, ausreichende Kapazitäten für Ausflüge aus Kabul bereitzustellen, sondern den sicheren Transport von Menschen an den Flughafen zu gewährleisten und die sehr kurze Verweildauer der Maschinen am Flughafen einzuhalten, sagte Sigmund.
Den Vorwurf zivilgesellschaftlicher Organisationen, es seien zu wenig Ausreisemöglichkeiten geschaffen worden, ließ die Zeugin nicht gelten: „Wir haben die ganze Zeit Dampf gemacht, so viele Leute wie möglich raus aus Afghanistan zu bringen.“ Das Problem seien die sich überschlagenden Ereignisse vor Ort gewesen, ab dem Zeitpunkt, da klar war, dass die Amerikaner ihren kompletten Abzug aus dem Land eingeleitet hatten. Dabei sei die „Deadline“ durch die Amerikaner von ursprünglich 11. September zunächst auf den 31. August verlegt und dann auf den 25. August vorgezogen worden. Das habe auch die deutschen Evakuierungspläne immer wieder verändert, sagte Sigmund.
Die nächste Sitzung des 1. UA findet am 26. September 2024 statt.