Vorschlag der Ampel-Obleute auf dem Prüfstand
Berlin: (hib/VOM) Die Veröffentlichung eines „Gesprächsangebots“ zur Verkleinerung des Bundestages am 18. Mai in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist bei einigen Abgeordneten und Sachverständigen in der Wahlrechtskommission des Bundestages auf Missfallen gestoßen. CDU/CSU-Obmann Ansgar Heveling sagte in der ersten Kommissionssitzung zu diesem Thema am Donnerstagabend, es wäre kein Problem gewesen, den Vorschlag der Obleute Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) und Konstantin Kuhle (FDP) in die Kommission einzubringen. Der Sachverständige Professor Rudolf Mellinghoff sagte, er habe sich gefragt, ob die Arbeit der Kommission jetzt beendet sei.
Dagegen rechtfertigte Sebastian Hartmann das Vorgehen der Obleute der Koalitionsfraktionen. Es sei gelungen, einen „mutigen Entwurf“ vorzulegen, der dazu führen würde, dass die Zahl der Wahlkreise für die Bundestagswahl bei 299 bleiben und nicht wie vorgesehen auf 280 reduziert werden müsste, der ferner die Zahl der Abgeordneten auf die Regelgröße von 598 festschreibt, da es keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben würde, und der die jetzige Erststimme durch eine „Ersatzstimme“ ergänzt.
Nach dem Vorschlag der drei Obleute wird zunächst die Gesamtzahl der Sitze im Verhältnis der von den Parteien bundesweit errungenen Zweitstimmen („Listenstimmen“) verteilt. An der Verteilung nehmen alle Parteien teil, die mindestens fünf Prozent der gültigen Listenstimmen erhalten oder deren Kandidierende in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen („Personenstimmen“) erhalten haben. Die Sitzzahl einer Partei auf Landesebene wird nach den von ihr in den Ländern erzielten Listenstimmen ermittelt.
Ein Wahlkreismandat solle laut Vorschlag erhalten, wer in einem Wahlkreis die meisten durch Listenstimmen gedeckten Personenstimmen vorweisen kann. Stehen einer Partei in einem Bundesland beispielsweise fünf Sitze zu, haben ihre Wahlkreiskandidierenden jedoch in sechs Wahlkreisen die jeweils meisten Personenstimmen erhalten, dann würde der Kandidat, auf den die prozentual wenigsten Personenstimmen entfallen sind, die Voraussetzungen nicht erfüllen und das Mandat nicht erhalten. Erlangt eine Partei weniger Wahlkreismandate als ihr nach dem Listenstimmenergebnis zustehen, so sollen ihr die verbleibenden Mandate wie bisher auch über die Liste zugeteilt werden.
In Wahlkreisen, in denen der Erstplatzierte nicht genügend von Listenstimmen gedeckte Personenstimmen sammeln konnte, sollen die Wählerinnen und Wähler eine zweite Präferenz („Ersatzstimme“) angeben können. Wenn ein Wahlkreismandat nicht an den Erstplatzierten fällt, sollen die Ersatzstimmen derjenigen, deren bevorzugter Erstkandidat wegen mangelnder Listenstimmendeckung nicht berücksichtigt werden konnte, zu den Erstpräferenzen der anderen Wähler hinzugezählt werden.
Das Wahlkreismandat soll der- oder diejenige erhalten, auf den oder die dann insgesamt die meisten Stimmen im Wahlkreis entfallen, sofern bei ihm oder ihr kein „Überhangfall“ entsteht.
Hartmann machte auch auf das Phänomen aufmerksam, dass Direktkandidaten mittlerweile ihre Wahlkreise bereits mit 25 bis 30 Prozent der Erststimmen gewinnen: „Was ist das für eine Mehrheit, wenn 70 Prozent jemand anderes wollten?“ Grünen-Obmann Till Steffen richtete den Blick ebenfalls auf diese „Verfassungswirklichkeit“. Der „Negativrekord“ sei, dass jemand mit 18,2 Prozent der Erststimmen seinen Wahlkreis gewonnen habe. Der Unions-Obmann Ansgar Heveling sah den Vorschlag hingegen kritisch, weil es sein könnte, dass erfolgreiche Wahlkreiskandidaten kein Mandat zugeteilt bekommen. „Wir halten die starke personelle Bindung zum Wähler für erforderlich“, betonte Heveling und fragte, ob nicht alle Wahlkreise, die in ihrer Größe um bis zu 25 Prozent abweichen können, alle gleich groß gestaltet werden müssten, wenn es so ein Modell „der Entziehung von gewonnenen Wahlkreisen“ geben sollte.
FDP-Obmann Konstantin Kuhle äußerte eine „gewisse Sympathie“ dafür, einen Schritt in eine neue Zuteilungslogik zu gehen. Die Grundentscheidung sei, ob man für die Verkleinerung des Bundestages in den bestehenden Zuteilungslogiken bleibt oder ob man neue schafft. Wichtig sei, dass das „personalisierte Verhältniswahlrecht“ nicht im Grundgesetz stehe, sondern in der Ausgestaltung dem Gesetzgeber vorbehalten bleibe. Mehrheitswahl und Verhältniswahl seien „in unserer Wahlkultur“ verbunden, es sei eine „Verhältniswahl mit einem Element der Personalisierung“. AfD-Obmann Albrecht Glaser sprach sich für den Vorschlag der Obleute aus und sah Übereinstimmungen mit einem AfD-Konzept. Der Fraktionsvorsitzende der Linken Dietmar Bartsch, der für Obfrau Petra Pau an der Sitzung teilnahm, sprach von einem „systemischen Neuanfang“ und erinnerte an den gemeinsamen Gesetzentwurf, den Grüne, FDP und Linke in der vergangenen Wahlperiode vorgelegt hatten.
Der Bundestag hat die aus 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen bestehende Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit am 16. März 2022 eingesetzt. Sie soll in der parlamentarischen Sommerpause einen Zwischenbericht vorlegen. Mit dem Thema der Verkleinerung des Bundestages wird sich das Gremium auch in den beiden kommenden Sitzungen beschäftigen.